Die Musik gibt sich nicht auf

Musikfest 2018 Mathias Spahlinger – wenn eine Komposition ihren eigenen Code thematisiert

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Ich glaube, man kann das Programm des diesjährigen Berliner Musikfests (31.8. bis 18.9.) nicht auf einen Nenner bringen; es werden aber mehrere Linien ausgezogen, so sind Claude Debussy, Pierre Boulez und nicht zuletzt Bernd Alois Zimmermann, der am 20. März 2018 hundert Jahre alt geworden wäre, vom Anfang bis zum Ende immer wieder einmal zu hören. Die Mischung von klassischer Moderne und älterer Klassik funktioniert wieder sehr gut – so kann man sich neben Schönberg, Grisey oder Stockhausen auch Mahler, Bruckner und Wagner, auch Schumann, auch Haydn anhören -, ja sogar ein Werk, das ich als noch ganz aktuell empfinde, obwohl es 1988-90 komponiert wurde, war schon in den ersten Tagen dabei, und mit ihm will ich einsteigen.

Mathias Spahlingers passage/paysage für großes Orchester, das am Montag vom Ensemble Modern Orchestra unter Enno Poppes Leitung aufgeführt wurde, entstand also in der Zeit des Zusammenbruchs des Realen Sozialismus, der damals auch für „westliche Marxisten“, die vom sowjetischen Weg zum Sozialismus gar nichts wissen wollten, während sie den Prager Frühling 1968 emphatisch begrüßt hatten, ein Rückschlag der Entmutigung war. Spahlinger ist offenbar Marxist. Er weigerte sich 2012, finanzielle Unterstützung für eine Komposition von der Siemens-Stiftung entgegenzunehmen, und schrieb dazu in einem offenen Brief:

„das geld der privaten stiftungen ist nicht privat. schon an seiner quelle nicht, denn die quelle ist die kapitalistische wirtschaftsweise, deren ziel es ist, aus geld mehr geld zu machen. sie macht sich die gelegenheit zunutze (und hat diese bedingungen zum teil auch erst mit gewalt geschaffen), dass unter den vielen waren, die sich auf dem markt finden, eine besondere, mit allen anderen unvergleichliche ist, diejenige, die nicht fertiges produkt von arbeit ist, sondern selber produktivkraft, die arbeitskraft. diejenigen menschen, die nichts auf den markt zu tragen haben, als ihre haut, die lohn und gehaltsabhängigen, und das sind die allermeisten von uns, schaffen die werte“,

und weiter:

„von der sklavenarbeit im nationalsozialistischen konzentrations-lagersystem hat auch siemens profitiert; es fällt schwer zu glauben, dass ernst von siemens, der 1943 stellvertretendes vorstandsmitglied von siemens und halske wurde, davon nichts gewusst haben soll. das allein wäre grund genug, geld nicht haben zu wollen, das mit diesem namen verbunden ist. allerdings habe ich es mir angewöhnt, auf dieses argument zu verzichten; die leute mögen es nicht mehr hören und hören einem auch nicht mehr zu.“

Passage/paysage hat wohl ungefähr den Sinn von „eine Landschaft durchqueren“. Die Landschaft, die da durchquert wird, ist nach meinem Höreindruck die Musik selber. Anfangs staunt man über die schnellen regelmäßigen Schläge, mit denen sich der musikalische Fluss voranbewegt – weil sie in einem sonst in Allem avantgardistischen Werk so traditionell erscheinen -, allmählich begreift man aber die durchgängige Logik der Verlangsamung in diesem Ablauf von circa fünfundvierzig Minuten; nach einer Passage ungefähr in der Mitte, in der ein recht tonaler Akkord ähnlich wie c-es-g-d‘ immer wiederholt wird und alles still zu stehen scheint, kommt eine lange Strecke mit Schlägen im gewöhnlichen Takttempo, wo überhaupt nichts außerhalb ihrer passiert und nur ihre Farbe sich permanent ändert; so beginnt dann auch die lange Schlusspassage und scheint unverändert fortzulaufen, nur dass nun erhebliche Pausen die Schläge trennen und dadurch jeder das Ende zu symbolisieren scheint. Ich denke, die Schläge im Takttempo in der Mitte sind der Schlüssel zum Verständnis. Während man sonst auf das hört, was über dem Takt schwebt, wird man hier gleichsam gezwungen, ihn selbst zu hören und nichts anderes im Sinn zu haben.

Es gibt schlechte „Kapellmeistermusik“, wie Adorno einmal gesagt hat, die den Takt wie ein Formular, das ausgefüllt werden muss, behandelt, und noch den Jazz hat er – zu Unrecht – aus demselben Grund kritisiert, weil er nämlich meinte, auch die Jazzsynkopen würden nur eben das betonen und hervorheben, worüber sie sich angeblich hinwegsetzten. (Trotz dieses allzu flüchtigen Blicks auf den Jazz war Adornos Text darüber in meiner Jugend mein philosophisches Initialerlebnis gewesen: dass es möglich ist, ein solches Alltagsphänomen mit einer solchen Fragestellung zu verbinden!) Aber um all das handelt es sich bei Spahlinger nicht, vielmehr kann man seine Schläge im Takttempo mit jener kritischen Methode vergleichen, die darin besteht, eine Sprache auf ihren Code zu reduzieren, diesen zu benennen und die Sprache allein dadurch in der Gewalt zu haben – sie zerstören zu können -; oder auch mit der Angabe des Resonanzpunkts einer Brücke, bei dessen gezielter Belastung sie zusammenbrechen würde. Der Takt ist nicht der aber ein musikalischer Code: Spahlinger thematisiert ihn gewiss nicht, um ihn zu zerstören, wohl aber, wie ich glaube, um seine Gefährdung bemerklich zu machen. Wobei der Code für die Musik im Ganzen steht und diese für eine Kultur überhaupt, die man um 1990 herum schon für gefährdet halten konnte. Das war ja die Zeit, in der bald auch behauptet wurde, „die Geschichte“ sei nunmehr zu ende, nichts Neues werde mehr unter der Sonne geschehen.

Wenn man zuhört, wie Spahlingers Taktschläge den ganzen musikalischen Raum erfüllen, oder wie dieser Raum nur noch ihretwegen ein „musikalischer“ ist, kann man Angst bekommen: Ja, und wenn sie nun aufhören? Da bäumt sich etwas auf, ein Allerletztes, das gleichsam gerade noch ausgezahlt werden kann, aber wie lange noch? Ganz schlimm scheint es dann am Ende zu werden, wenn die Schläge, dunkle Pizzicati der Streicher, in sehr langen Abständen aufeinander folgen; jetzt ist „alles aus“, sagt man sich. Es geschieht aber das Gegenteil. Man hört allmählich heraus, dass der einzelne Schlag nicht bleibt, wie er ist, sondern sich vor- und ausklingend zerfasert, ganz leicht zunächst nur, in leisen trockenen Geräuschpunkten. Deren Felder dehnen sich aber immer mehr aus und am Ende haben sie das ganze Hörfeld eingenommen und übernommen, so dass es überhaupt keine Pausen zwischen den Schlägen mehr gibt. Die Musik gibt sich also keineswegs auf – das könnte Siemens so passen...

Enno Poppe hat einmal über passage/paysage in einer Laudatio gesagt, es sei „ein Jahrhundertwerk, und es hat sich herausgestellt, dass es unter den jüngeren Komponisten kaum einen gibt, dem dieses Stück nicht den Schweiß auf die Stirn und den Schauer auf den Rücken getrieben hat. Wir hatten mit diesem Stück unseren Sacre du printemps, das Stück, das die bisherigen Gesetze außer Kraft setzte und durch etwas ersetzte, was wir noch nicht verstehen konnten. Wie sollte es danach weitergehen?“ Am Montag war der 1944 geborene Komponist anwesend und wurde gefeiert.

Schade, dass so ein Konzertabend so spärlich besucht wird. Zumal außerdem noch vierzig Minuten Anton Webern geboten wurden, was bei der geringen Länge von Weberns Kompositionen fast schon einer Gesamtschau dieses Künstlers gleichkommt. Fast alle Gattungen kamen vor, Klavier, Streichquartett, Orchesterstücke und Lieder mit Orchesterbegleitung. Diese haben mich am meisten beglückt, weil ich sie in einer Zeit der Liebe intensiv gehört hatte. Zum Beispiel die Rilke-Vertonung: „Du machst mich allein. / Dich einzig kann ich vertauschen. / [...] / weil ich niemals dich anhielt, / halt ich dich fest.“, oder Karl Kraus: „Nicht weiter will ich. Eitler Fuß, mach Halt! / Vor diesem Wunder ende deinen Lauf. / Ein toter Tag schlägt seine Augen auf. / Und alles bleibt so alt.“ Wie ich meine, weisen solche Worte auch auf das Neue der Musik nach Schönberg, aber das Thema aufzurollen, würde hier zu weit führen. Vielleicht komme ich in den nächsten Tagen darauf zurück. Die Sopranistin Caroline Melzer hat ganz wunderbar gesungen.

Ich habe meine Berichterstattung diesmal etwas spät begonnen, weil Anderes vorher zu erledigen war, werde aber alles noch nachholen, beginnend mit dem ersten Konzert am Freitag, den 31.8.: Claude Debussy, Préludes pour piano, beide Bücher gespielt von Alexander Melnikov. Das war bereits ein Höhepunkt, der gar nicht mehr übertroffen werden kann.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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