Die Nacht

Ultraschall 2021 Ein Abend mit Kompositionen, die sich unvermittelt auf Reales beziehen

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Musik, die sich sehr direkt auf reale Gegenstände bezieht, diese sozusagen vertont
Musik, die sich sehr direkt auf reale Gegenstände bezieht, diese sozusagen vertont

Foto: Loic Venance/AFP/Getty Images

Der zweite Ultraschall-Abend am Donnerstag wurde überwiegend live aus einem Konzertsaal ohne Publikum, dem Haus des Rundfunks an der Masurenallee, übertragen, ein kleinerer Teil am Ende war eine Studioproduktion von Deutschlandfunk Kultur und Phønix16. Ich will gleich sagen, was an diesem Abend mein Generaleindruck war: Musik, die sich sehr direkt auf reale Gegenstände bezieht, diese sozusagen vertont, wie man früher Lyrik vertont hat. So wollte Joshua Mastel, ein junger, noch studierender Komponist, die Bedrohung des Lebens auf der Erde vonseiten des Wirtschaftswachstums, auch Wachstums der Städte musikalisch darstellen; sein Titel ist zwar ein Zitat der Schriftstellerin Annie Dillard, spread in lobes like lichen on rock, „lappenförmig ausgebreitet wie Flechten auf Felsen“ (2020), sein Vorgehen aber nicht lyrisch sondern naturalistisch. Und so stellte Phønix16 mit Tiffany (2011) aus der Presidential Suite von Mathias Monrad Møller ein Stück vor, das über die politische Dummheit von Donald Trumps Tochter aus erster Ehe herzieht. An diesem Abend bildete nur si callalo pudié sentirses, „wenn man es leise fühlen könnte“ (2020), von Irene Galindo Quero eine Ausnahme, auch das ein Zitat, von Ángela Segovia, und lyrisch auch in der Ausführung, leise weinend vielleicht. Direkt auf Reales, städtische Geräusche, bezog sich dann wieder das Nachtstück für Ensemble (2018) von Ulrich Kreppein, auf das ich mich hier konzentrieren will.

Was besagt diese Tendenz für die Geschichte des Komponierens? Schon frühzeitig, wenn auch nicht schon bei Schönberg, nahm Avantgardemusik den Charakter an, nicht mehr Entwicklungen sondern eher Zustände auszubreiten; wie der Blick über ein Gemälde gleitet und es erst allmählich im Ganzen erfasst, hörte man ihr zu. Ein Gemälde ist aber selbst schon die Übersetzung realer Gegenständlichkeit in Kunst. Was zum Beispiel Bruno Maderna in Biogramma (1972), für mich einer der schönsten modernen Kompositionen, darstellt, ist sicher letztendlich im Realen verankert, schon der Titel deutet es ja an; aber es ist wirklich, als hätte Maderna erst gemalt und dann das Gemalte in Töne gesetzt. Wie anders, wenn Kreppein mit seinem Nachtstück eine Nacht in Seoul, der südkoreanischen Hauptstadt, vertont! Es war am Donnerstag das dritte und letzte Stück im Livekonzert des ensemble mosaik unter der Leitung von Bas Wiegers. Und doch auch ähnlich, weil immer noch ein Zustand dargestellt wird, der Zustand einer städtischen Nacht eben. Dass sie auch einen charakteristischen Ablauf hat, ändert daran nicht viel, weil dieser Ablauf keine „Entwicklung“ ist.

Schon das gleichsam empirische Zustandekommen ist bemerkenswert. Kreppein hat mit einem Aufnahmegerät acht Stunden erfasst und das darauf Verzeichnete zur Kurzfassung, wie man sagen könnte, von 40 Minuten verdichtet. Hier aber hat er nicht gearbeitet wie John Cage, der die realen Geräusche als solche nachgeahmt und nur geordnet hätte, sondern hat doch irgendwie ein Jenseits geschaffen, wenn man es auch nicht Gemälde nennen kann. Er wollte, sagt er, eine Musik schreiben, „die die Nacht selber ist“, wie er sie erlebt. Es ging um seinen „Verarbeitungsprozess“ der Nacht. „Wie ist mein Bewusstseins-Zustand dabei“, hat er sich gefragt. Für diese Übersetzung waren traditionelle Musikinstrumente das Richtige; auf Elektronik, die den realen Geräuschen näher gekommen wären, hat er bewusst verzichtet. Sie wäre auch nicht einmal allen Geräuschen nähergekommen, nicht zum Beispiel der varietémäßigen Klaviermusik, die einmal vorbeiweht. An solchen Stellen erinnert man sich gewisser straßenmusikalischer Szenen bei Charles Ives. Auch bei Ives bricht gelegentlich die Nacht an, dass sie aber vielstimmig ist wie der Tag, nur ganz anders, hat er nicht auskomponiert. Überhaupt gehört es zum Reiz der Komposition von Kreppein, dass man sie mit so vielen anderen musikalischen Darstellungen der Nacht oder Bezugnahmen auf diese vergleichen kann, worauf er mit dem Titel „Nachtstück“ ja hinweist, denn man denkt sofort an die Nachtstücke op. 23 (1839/40) von Robert Schumann.

Aber sind solche Vergleiche sinnvoll, wo doch Welten zwischen der Schumannschen Kompositionsweise und der ganz aktuellen von Kreppein liegen? Ich glaube schon, und wenn’s nur deshalb wäre, weil man sich selbst zu fragen beginnt, was einem „die Nacht“ sagt und man nicht gleich „durch Nacht zum Licht“ wegflüchtet. Schumann bezieht sich seinerseits auf den Erzählzyklus Nachtstücke von E. T. A. Hoffmann, der sich wiederum auf Jean Paul bezieht, der wohl als erster aus „Nachtstück“ einen auch literarischen Begriff gemacht hat. Aber das alles ist nur die Spitze des Eisbergs; man muss weiter zurückdenken, denn „Nachtstücke“ waren zunächst ein Gemäldetypus, der sich durch Hell-dunkel-Kontraste auszeichnete, ausgeführt von Malern wie Caravaggio, Jacob van Ruisdaels, Rembrandt, den Hoffmann besonders verehrte, und anderen. In der deutschen Romantik, zu welcher Strömung Hoffmann zu rechnen ist, nicht nur als Dichter übrigens, sondern auch als Komponist wie Schumann, spielt die Nacht auch sonst eine große titelgebende Rolle, so in den Hymnen an die Nacht von Novalis oder den Nachtwachen von Bonaventura, die August Klingemann zugeschrieben werden. Aber auch in der Musik war die Nacht lange vor Schumann präsent, denn die Gattung des Notturno, oder Nocturne, war schon im Barock entstanden. Wer kennt nicht die „kleine Nachtmusik“ (1787) von Mozart: Sie ist ein Beispiel für Kompositionen, die so oder ähnlich deshalb heißen, weil sie, zur Unterhaltung, im Einbruch der Nacht aufgeführt werden – Mozart übersetzte mit dem Ausdruck die „Serenade“ (von sera, „der Abend“, aber auch von sereno, „heiter“) ins Deutsche, denn was er so bezeichnete, war seine Serenade Nr. 13 für Streicher in G-Dur (KV 525) –, aber auch in diesen Gattungen kam später das Nächtliche in jenem anderen Sinn, dem unheimlichen, hinzu.

Eine Art Übertragung der gemäldemäßigen Hell-dunkel-Effekte ins Musikalische hat gerade Schumann vorgenommen. An „einer Leichenphantasie“ habe er geschrieben, notiert er im Tagebuch, und bald darauf in einem Brief an Clara Schumann, er habe „Leichenzüge, Särge, unglückliche, verzweifelte Menschen“ beim Komponieren gesehn. Das ist das Dunkle, Schwarze, in das sich aber ein Lichtstrahl mischt, der die Toten zum grausigen und doch auch komischen, insgesamt grotesken Zombie-Leben erweckt: „Trauerzug“, „Nächtliches Gelage“, „Curiose Gesellschaft“, „Rundgesang mit Solostimme“ wollte er die vier Nachtstücke ursprünglich nennen. Von dieser romantischen, im Übrigen auch unmediterranen Auffassung der Nacht – man kann sich solchen Graus unter Griechen, Spaniern, Italienern, in ihren warmen Sommernächten, beim besten Willen nicht vorstellen, auch 1840 nicht – ist bei Kreppein natürlich nichts übriggeblieben. Sehr viel näher steht seine Musik den Nächten in spanischen Gärten (1916) von Manuel de Falla, obwohl auch diese noch voll in der tonalen Tradition komponiert sind. Denn schon bei de Falla geht es um die Nacht als solche und im buchstäblichen Sinn und wird sie, wenn auch in wechselnder Schattierung, als ein einziger Zustand gehört. Und auch ihn interessiert der „Bewusstseins-Zustand dabei“, nur dass er nicht wie Kreppein als Individuum danach fragt, sondern als Repräsentant seiner Nation. Denn was er zu hören gibt, ist in andalusischer Folklore, somit in der fernen und doch irgendwie nahen maurischen Vergangenheit verwurzelt, wie auch aus den Titeln der drei Sätze dieses Sinfonischen Gedichts hervorgeht, besonders des ersten: „Im Generalife“, so hieß und heißt der Sommerpalast des Kalifen in Granada.

Der Gestus der ganzen Komposition ist träumend, sicher wachträumend, aber doch in einem Wachsein, das sich am hellen Tag ganz anders anfühlen würde. Dieses hier nimmt als „Nacht“ ein besonderes, unnennbares, aber mitteilbares, weil doch eigentlich jedermann bekanntes Sein wahr. Nicht nur bei de Falla, sondern auch bei Kreppein, der in der heute aktuellen musikalischen Faktur schreibt, erlebt man jene Gegenwart, die weit über den flüchtigen Augenblick hinausreicht. Im europäischen Norden war es kaum jemals möglich, sie des Nachts zu erleben, aber das ist heute anders geworden. Ich denke an eine Nacht im letzten Sommer, wo ich mit einer Freundin auf einem Balkon saß, bei immer noch 30 Grad, der Straßenverkehr war leise geworden und ein klobiges Wohnhaus in einiger Entfernung, tagsüber hässlich, sah aus wie von Schmidt-Rottluff gemalt. Rotwein hat dazu beigetragen, tut es ja auch im Süden, aber darauf würde ich es nicht reduzieren. Es waren Momente des Glücks, ermöglicht durch die Klimakatastrophe. Bei Kreppein kann man, wie gesagt, von einem Gemälde nicht mehr sprechen. Sein nächtliches Stadtbewusstsein ist ganz nüchtern; er träumt weder, noch sucht er Metaphern; ich habe aber zu hören geglaubt, dass er glücklich war im Sein der Nacht, und vielleicht hat er deshalb – um des Kontrasts willen – mit dem Titel an Schumann erinnert.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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