Jürgen Link, der emeritierte Sprach- und Literaturwissenschaftler aus Bochum, ist einer der wichtigsten Vertreter Foucaultschen und zugleich marxistischenDenkens in Deutschland. Er begründete 1981 die Zeitschrift kultuRRevolution und ist bis heute ihr Mitherausgeber. Seine "Normalismus"-Theorie stellt einen gewichtigen Beitrag zur Makrosoziologie dar. Auf den Spuren Umberto Ecos, der ebenfalls Sprachwissenschaftler ist, hat er nun auch noch einen Roman vorgelegt. Ein Professor, der in seiner Freizeit Romane schreibt? Eher ein Romancier, muss man wohl sagen, mit dem Nebenberuf des Professors.
Es geht um die Lebensschicksale einer Gruppe von 68ern, die in den siebziger Jahren den maoistischen "Vereinleins" nahe standen, in den achtziger und neunziger Jahren um den Bestand ihrer revolutionären Hoffnung kämpften, wobei sie sich auch zerspalteten, und für "2001 plus x" die Entfesselung eines imperialistischen Krieges in Südafrika durch Deutschland erwarteten.
Alles spielt sich im Ruhrgebiet ab, mit ihm hat Link sozusagen eine Hauptrolle des Romans besetzt. Der Ort ist schon deshalb von Bedeutung, weil er an Belgien und Frankreich grenzt und Paris nicht weit ist. Dorthin führen um 1960 herum die ersten Autostop-Touren, so dass die erzählenden Protagonisten mit viel französischem Hintergrund in die 68er Zeit schon eintreten.
Sie sind vorher Existenzialisten, nachher besuchen sie den Marxisten Louis Althusser. Aber Link schildert auch mit Hingabe die kaputten Industrielandschaften und ausweglosen Autostraßennetze des Ruhrgebiets, überhaupt das Leben im Auto, und dazwischen die Inseln stehen gebliebener oder wuchernd wiederkehrender Natur.
Von dieser Szenerie à la Tarkowski hebt sich eine landestypische proletarische Schrebergartenkultur ab, von der man außerhalb Nordrhein-Westfalens gar nichts ahnt. Als Berliner hält man sie für eine literarische Erfindung, denn vor allem hier spielt sich die Handlung ab; es gibt sie aber wirklich. Die Erzählenden, die in den frühen siebziger Jahren noch Studenten sind oder die Uni gerade erst verlassen haben, dürfen solche Gärten besuchen und erleben eine rauschhaft glückliche Zeit. Ihre Hoffnung, dem Proletariat zu begegnen, ist wahr geworden. Wenn sie schon tagsüber kommen, helfen sie den Frauen oder machen Spaziergänge mit ihnen, am späten Nachmittag kommen die Männer von der Arbeit, abends werden Bierfeste gefeiert. Und alles wird zur Gelegenheit für politische Diskussionen.
Zwei Kollektive
Wir wohnen einer Liebesgeschichte zwischen zwei Kollektiven bei. Wie bei einer richtigen "Beziehung" stoßen unvereinbare Erwartungen zusammen, haben beide Seiten trotzdem oder gerade deshalb eine aufregende Zeit. Während eines Spaziergangs wollen die Arbeiterfrauen wissen, was Dialektik sei, und die Studenten würden es so gern erklären können: "Wir wetteten, wenn wir den Übermut der Frauen sahen, wie sie sich sogar zum Pipimachen hinter Stapel verrosteter Container hockten und laute Zwischenbemerkungen herüberriefen, während das Bächlein schon an der Ecke sichtbar wurde, wetteten wir innerlich, dass sie als Kinder die tapferen Mädchen von Jungenbanden gewesen wären, die bei Bandenkriegen mit auf das verbotene Werksgelände gedurft hatten so wie bei uns." Das ist hinreißend und traurig, denn der Leser begreift, dass die Frauen bei allem "Übermut" sich doch enttäuscht fühlen müssen. Ihre Männer hatten die Studenten in einer Ruhruni angesprochen und in die Gärten geholt, weil sie dachten, sie würden von ihnen ein Stück Herrschaftswissen ergattern. Was sie sich darunter vorstellen, können die Studenten aber nicht liefern.
Das sind nicht irgendwelche Arbeiter, sonst wäre der Kontakt ohnehin ein maoistischer Traum geblieben, sondern versprengte Anhänger des Gewerkschaftstheoretikers Viktor Agartz, die vom Klassenkampf viel mehr verstehen als ihre Gäste. Diese werden indes mit Nachsicht behandelt. Die Studenten, die auf Agitation aus sind, stellen wissenschaftlich gemeinte "Simulationen" des zukünftigen Wegs zum südafrikanischen Krieg vor. Als künstlerische Beigabe streuen sie satirische Novellen ein, die von der Vorbereitung der revolutionären Situation handeln und stets einem bestimmten Muster folgen: Weibliche Zwillinge stiften Verwirrung, weil man sie nicht unterscheiden kann; die Verwirrung steigert sich zum Chaos, das Chaos zum Aufruhr. Die Arbeiter hören es sich vergnügt an, ihre Frauen rufen anzüglich dazwischen. Das sind Feste, aber irgendwie auch Vorlesungen wie an der Uni. Der Zusammenhang zwischen dem Roman und dem Erleben des Autors ist hier sehr eng.
Zugleich bewegt sich Link in einer geläufigen Romantradition. Man "simuliert" die Zukunft, seit es Computer gibt. Früher hatte man Erwartungen. Es gibt etliche große Romane, deren Helden, in der Regel infolge sozialer Ausgrenzung oder anders bedingter Einsamkeit, in der Welt ihrer Erwartungen eher als in der Gegenwart leben. Das berühmteste Beispiel ist wohl Prousts Erzähler, der sich in tausend Einzelheiten vorstellt, wie die Kathedrale des Ferienorts Balbec aussehen und auf ihn wirken würde - an Ort und Stelle kann er nur noch feststellen, dass die Realität dem Reichtum der Erwartung nicht standhält.
Ist das nun enttäuschend, oder ist es das, was den Erwartenden zum Dichter qualifiziert? Bei Link kommt noch verschärfend dazu, dass seine Erzähler das Wahrwerden ihrer "Simulation", des deutschen Krieges, einerseits gar nicht wollen können, andererseits aber doch darauf warten, dass er sich zumindestens anbahnt. Denn dann entsteht vielleicht noch einmal eine revolutionäre Situation wie 1968 und mit ihr das zwiespältige Glück jener Zeit. Übrigens nimmt Link in Vielem auf Proust Bezug. Das fängt schon mit dem Titel an: Auch seine Erzähler sind "auf der Suche" nach einer verlorenen Zeit und fragen sich am Ende, was von ihr geblieben ist.
Die Spießbürgeridylle
Die Erzähler - es gibt sie tatsächlich nur in der anonymen Mehrzahl. Ein "Wir" spricht, stellt manchmal Untereinheiten wie "unser männliches Teil" heraus, benennt Einzelne mit Spitznamen. Das gehört einerseits zur Botschaft des Romans: Individualismus ist kleinbürgerliche Schwäche, Liebe nur zu zweit eine Spießbürgeridylle. Der Roman träumt rousseauistisch vom Clan, auch deshalb lässt er sich von proletarischen Gärten und ihren Bierfesten faszinieren. Andererseits ist damit der Grundstein zu seinem formalen Avantgardismus gelegt.
Im wesentlichen ist er ein Geschehen zwischen einigen Wirs, vor allem dem erzählenden Wir, den Schrebergartenproletariern und den Kapitalisten. Die Struktur des erzählenden Wir ist am komplexesten: Es stellt die maoistischen "Vereinleins" satirisch dar und grenzt sich von ihnen ab, obwohl es ihnen auch nahe steht; es fällt zeitweise in "Nord- und Südfraktion" auseinander und verdoppelt sich, man weiß nicht ob ernsthaft oder im Spaß, zum Gespenst der "Roten Ruhrarmee". Die Schrebergartenproletarier, als Objekte des Begehrens, werden unmittelbar erzählt. Die Kapitalisten sind zur allegorischen Einzelperson namens "der V-Träger" (Verantwortungs-Träger) zusammengezogen. Das ganze Erzählgerüst scheint dazu gemacht, den Auftritt dieser Nicht-Person zu ermöglichen. Ihr wird die Textform des Redens von der Psychoanalytiker-Couch her zugeordnet, wohl weil es im Konjunkturzyklus "Depressionen" gibt. Das Kapital, ein klarer Fall von manisch-depressivem Irresein.
Einen Roman lesen, indem man von Textform zu Textform springt, daran muss man sich erst gewöhnen. Aber schon der Einstieg ist fesselnd. Er handelt von Fahrgemeinschaften, die frühmorgens auf dem Weg zur Fabrik sind - das erzählende Wir um 1980 herum, vertrieben aus den paradiesischen Gärten -, so schlaftrunken noch, dass es sich selbst kaum wiedererkennt. Wo sind wir denn überhaupt? Subjektloses Aufwachen, Link fängt ganz ähnlich an wie Proust: "Wenn die roten Ampeln den dunklen Regenhimmel leicht violett machten und die grünen dann ruckartig wieder grau, fingen die lautlosen Wörter schon hin und wieder an, sich etwas schneller durch die Gehirne zu drehen, obschon sie an solchen nasskalten trüben Arbeitstagen bei weitem nicht das Tempo auch nur der langsamsten Maschinenspiralen erreichten."
Jürgen Link Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung, Roman. assoverlag, Oberhausen 2008, 923 S., 29,90 EUR
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