Die Politik der Ausstellung

Toleranzgrenzen Ausgehend von der Jenaer Ausstellung "BrandSchutz" befragt ein Symposion "Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens"

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Das unsichtbare Gesicht

Es sieht wie eine Fotografie aus, ist aber gemalt: (Aus der) Serie Old Street (2005-2009) von Slawomir Elsner. Leicht links von der Mitte des hochformatigen Gemäldes befindet sich der Kopf eines Obdachlosen, der umgeben von seinem Gepäck aus Plastiktüten auf einer Parkbank sitzt. Es ist eine von der Sorte, die metallne Armlehnen nicht nur an den Rändern hat, damit der Mann nur ja nicht auf die Idee kommt, sich lang ausstrecken zu wollen. Hinter ihm leere Hauswände, neben ihm eine halbhohe Mauer, weiter weg ein kahler Baum. Es ist offenbar kalt und er hat eine Decke über sich geworfen. Sein Gesicht sieht man nicht, nur von oben die blaue Mütze, denn er hat den Kopf gesenkt, wie überhaupt seine ganze Gestalt zusammengesunken ist. Vielleicht versucht er zu schlafen. Es ist auch möglich, dass er unserm Blick ausweichen will.

Das Gemälde war zwischen September und November 2013 in der Jenaer Ausstellung BrandSchutz. Mentalitäten der Intoleranz zu sehen. In der vorigen Woche fand zwischen Donnerstag und Samstag die wissenschaftliche Konferenz zur Ausstellung statt (When Exhibitions Become Politics. Geschichte und Strategien des politischen Ausstellens). Ein interessanter Bogen wurde da geschlagen: Von einer Ausstellung, die aus einem konkreten politischen Anlass erwuchs, zur allgemeinen Frage der politischen Dimension, die jeder Kunstausstellung eignet. Der konkrete Anlass war, dass das NSU-Trio in Jena sozialisiert wurde. Diese Tatsache hat die Jenaer aufgeschreckt. Ihr antifaschistischer Protest war deutlich, es trauen sich heute keine Neonazis mehr in die Stadt. Aber die Frage, wie es zu so einer Sozialisation kommen konnte, war damit nicht erledigt. Auch die mit Kunst Befassten legten sie sich vor und wollten einen eigenen Beitrag leisten. So entstand BrandSchutz als gemeinsames Projekt des Jenaer Kunstvereins, der von Wolfram Stock geleitet wird, und des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Universität Jena. Zwei Semester lang hat eine Gruppe von Studierenden unter Leitung von Prof. Verena Krieger die Ausstellung vorbereitet. Krieger, die vor langer Zeit Sprecherin der Grünen war, hat auch die Konferenz organisiert.

Die Ausstellung hat ein recht starkes publizistisches Echo gehabt, doch beklagt Krieger eine gewisse Einseitigkeit der Berichterstattung. Oder nimmt es als Erfahrung, die zur Sache gehört: dass eigentlich nur das Politische der Ausstellung rezipiert wurde, die doch eine Kunstausstellung war. Das Politische war freilich für sich schon eindrucksvoll genug. Die Vorbereitungsgruppe war von der Einsicht ausgegangen, dass faschistische Kräfte gefährlich werden, wenn sich ihnen bedeutende Teile des Bürgertums anschließen. Wie man weiß, ist das schon geschehen und kann wieder geschehen. Wenn man dann erfährt, wie stark rechtsextremistische Mentalitäten verbreitet sind, ist man erschrocken. Nach dem überzeugenden Ansatz des Leipziger Forscherteams Decker und Brähler kann man "Ungleichwertigkeitsvorstellungen" abfragen, um dem Rechtsextremismus auf die Spur zu kommen. Da erfährt man, dass sich zwar kaum jemand traut, für Diktaturen oder gar für Hitler einzutreten, wenige nur sich als Antisemiten zu erkennen geben und auch Sozialchauvinismus in einer tief sozialdemokratisch geprägten Gesellschaft ungern gezeigt wird. Doch die Zahl der Ausländerfeinde geht in Richtung 40 Prozent. Ausländerfeindschaft zu bekennen braucht offenbar keinen Mut. Das Parteiensystem bildet sie nicht ab - man muss befürchten, dass es bei ungünstigem Wind leicht Feuer fängt.

Die Vorbereitungsgruppe ging davon aus, dass sich Sexismus und Homophobie einer ähnlich hohen Zustimmung erfreuen können. Zählt man alles zusammen, hat man es mit solchen Ungleichwertigkeitsvorstellungen zu tun, die sich gegen Fremdes und Fremde richten. Diese werden nicht nur deklassiert. Angst und Verrohung können den Wunsch eingeben, sie ungeschehen zu machen, das heißt zu vernichten oder mindestens aus dem Blickfeld zu bannen. Der Angstanteil ist aber oft unbewusst. Das führt zur Ambiguität des Bewusstseins. Bewusst wollen viele für "tolerant" gehalten werden, die es vielleicht gar nicht sind, denn Toleranz ist ein gesellschaftlicher Wert. Hier scheint es möglich zu intervenieren. Ein solches Bewusstsein wird variabel sein. Man kann es aufsuchen, mit ihm sprechen. Deshalb fragte die Vorbereitungsgruppe nach den Toleranzgrenzen, hinter denen die Ungleichwertigkeitsvorstellungen anfangen. Befragen wollte sie die "bürgerliche Mitte". Sie tat es mit den Mitteln der Kunst. Die bürgerliche Mitte ist ja auch ein Kunstpublikum. Das ist nun ein eigenes Thema.

Unter einer künstlerischen und zugleich politischen Befragung hätte man sich früher "engagierte" und "Agit-Prop"-Kunst vorgestellt. Doch die Zeit solcher Kunstwerke scheint vorbei zu sein. Sie können nicht anlässlich einer Ausstellung zu neuem Leben erweckt werden. Das heißt aber nicht, dass die Kunst unpolitisch geworden wäre. Eher hat man den Eindruck, sie verstehe jetzt mehr und Besseres unter Politik als in den 1920er Jahren. Politisierte Kunst, hieß das damals nicht stets, dass es organisierte Zentren gab, die eine Politik vorab festlegten, so in willige Künstlerhand gaben und von den Künstlern top-down ans Kunstpublikum weiterreichen ließen? Dieses war als Empfänger vorgesehen. Selbst für die große Dada-Ausstellung, wo man es nur mit Künstlern zu tun hatte und keine Partei dahinter stand, die nach der Staatsmacht griff, hat das analog gegolten. Dass unter solchen Bedingungen die allergrößten Kunstwerke entstanden, braucht nicht eigens gesagt zu werden. Es ging auch nicht immer darum, zu einer Doktrin zu bekehren. Picassos Guernica zum Beispiel hatte das nicht nötig. Hier sollten Ohnmacht und Sprachlosigkeit vor dem Entsetzlichen überwunden werden. Aber auch dies Gemälde sprach zu einer Masse von Gleichen, der Friedenspartei.

Heutige Kunstwerke, die sich mit Fremdenfeindlichkeit aller Art befassen, sehen im Individuum das politische Subjekt. Das Gespräch auf Augenhöhe führend, geben sie ihm etwas zu bedenken. Demokratische Kunst: Während im top-down-Verfahren alle rezipierenden Individuen behandelt werden, als wären sie das Gleiche, gilt hier jedes als verschieden, weshalb das Kunstwerk die Frage nach seiner Besonderheit ist. In der Jenaer Ausstellung ist es die Frage, wo "meine" besonderen Toleranzgrenzen liegen. So fragt mich Serie Old Street nach meiner Haltung zur Obdachlosigkeit.

Der Obdachlose, den ich da sitzen sehe, woran erinnert er mich, wenn nicht daran, dass ich ihn nicht sehen will. Vor allem das sehe ich in der Unsichtbarkeit seines Gesichts. Wäre er doch im Ganzen unsichtbar! Der Künstler zwingt mich, ihn zu betrachten. Aber er führt kein aggressives Gespräch mit mir. Er maßt sich nicht an, mir "ein schlechtes Gewissen einzujagen". Es ist ja auch denkbar, dass nicht nur meine, sondern auch seine Toleranzgrenze mit dem Anblick des Obdachlosen überschritten ist. Wer weiß, ob wir nicht beide am liebsten ein Obdachlosenverbot über alle von uns begehbaren Gegenden verhängen würden. Wie dem auch sei, der Künstler spricht mich offen an auf diese Tendenz, die eine von mir oder von uns beiden ist. Er schlägt eine Auseinandersetzung vor und tut es mit so viel Unaufgeregtheit, wie gerade noch möglich ist. Der Anblick verstößt zwar gegen die Regeln der Werbebranche. Die gestatten es nicht, Unangenehmes abzubilden. Doch der Künstler ist klug genug, nicht ins andere Extrem zu fallen. Von einem schlichtweg schrecklichen Bild würde man sich nämlich einfach abwenden. Niemandem wäre geholfen, auch dem Werbungskritiker nicht.

Deshalb hat er sich zur Ästhetisierung des schlimmen Sujets entschlossen. Die größte der drei Plastiktüten steht einigermaßen aufrecht, während die beiden andern und der Mann selbst einen zunächst nur formlos wirkenden, farblich differenzierten Klumpen bilden. So verlängert sie sich indes in den zwar zusammengesunkenen, aber ebenfalls aufrechten Oberkörper des Mannes. Das weckt den zweiten Blick. Nun erscheinen auch die kleineren Tüten halbwegs wie geometrische Gebilde. Alle drei zusammen bilden ein Z. Die Gestalt des Mannes darüber erscheint jetzt Lambda-förmig pyramidal, denn die Decke, mit der er sich einhüllt, gleitet von der Spitze, die sie über seinem Kopf bildet, einigermaßen gleichmäßig an seinen Körperseiten herab. Dies Lambda-Z, das die untere Bildhälfte einnimmt, ist ein Klumpen und zugleich eine beherrschte Form. Es korrespondiert mit den Linien der Mauer, des Baums und auch der Rillen der Parkbank, vor allem aber mit den leeren Hauswänden, zumal die Linien dort Farbe umschließen. Die stärkste ästhetische Wirkung geht von den fetten Farbstreifen der sehr großen Plastiktüte aus. Deren mittlerer blauer Streifen setzt sich in der blauen Mütze des Mannes fort, die Mütze in einer aufrechten blauen Fläche am Haus. Insgesamt sehe ich eine starke, leicht zickzackförmige Blau-Vertikale.

Mir könnten nun geradezu Parallelen aus der Kunstgeschichte einfallen. Dies ist keine Maria, deren Gewand reiche Falten schlägt. Kein heiliger Markus, der als ein Blitz vom Himmel herabfährt, zickzackförmig, um Sklaven zu befreien. Wer befreit ihn, den ich sehe? Jedenfalls kann ich nicht anders, als das Bild ästhetisch zu genießen, obwohl es schrecklich ist. Und so hält es mich fest, während ich mich von einem mir auf der Straße begegnenden Obdachlosen gleich abgewandt hätte. Indem ich stehen bleibe, kommt es dazu, dass ich über meine Haltung zur Obdachlosigkeit nachdenke.

Occupy

Damit solche Exponate auch wirklich die Individuen erreichten, wurden sie über die Stadt Jena verteilt. Man begegnete ihnen an ungewohnten Orten: in der Kirche, dem Stadtpark, der Sparkasse, vor einer Häuserwand. Serie Old Street wurde im Romantikerhaus gezeigt, dem stattlichen Treffpunkt der Frühromantiker um 1800.

So ein Ausstellungskonzept zeigt noch nicht, dass "alle Ausstellungen politisch sind", doch sieht man schon, dass es nicht einzigartig ist. Hans Dickel, Professor in Erlangen, rief die 1987er Westberliner Ausstellung zur 750-Jahr-Feier der Stadt in Erinnerung, von der noch jetzt bedeutende Stücke herumstehen. Man denke nur an die hohntriefende Automobil-Skulptur Wolf Vostells am Halensee-Ende des Kurfürstendamms (Cadillacs in Form der nackten liegenden Maja, Rathenauplatz). Obwohl sie den Berliner Autofahrern gar nicht gefallen hat, muss sie nun ständig umfahren werden. Die Skulptur Randale-Denkmal von Olaf Metzel, ein Turm von Polizeiabsperrungen zur Erinnerung an die Hausbesetzerkämpfe, gehörte zur selben Ausstellung. Es hatte damals einen Toten gegeben, Klaus-Jürgen Rattay. Hieran wollten die Berliner nicht erinnert werden. Ein Sturm der Entrüstung zwang den Berliner Senat, das Werk wieder abbauen zu lassen. Dafür dürfen sich zwei Schlangenlinien auf dem Tauentzien als Symbol der Wiedervereinigung noch heute umarmen.

Auch das war Kunst, die nach der Reaktion des einzelnen Betrachters fragte. Das Ergebnis war anders als erwartet. Der Senat hatte die Weltoffenheit der Stadt ausstellen wollen, die sich nun als gar nicht so offen erwies. Wie Dickel zeigte, geschah gleichzeitig Analoges in Ostberlin. Das Marx-Engels-Forum zwischen dem Palast der Republik und dem Fernsehturm entstand um dieselbe Zeit (nach Plänen Ludwig Engelhardts). Eine heimliche Künstlerbotschaft sieht Dickel schon darin, dass die Klassiker, wie er meint, als müde Rentner in "kleinbürgerlicher Idylle" dargestellt sind. Das kann ich nicht nachvollziehen. Ich sehe resümierende Richter der Zeit. Ihr Sitz wie für Thronende zeigt auch äußerlich eine nicht vom DDR-Staat hergeleitete Autorität. Den Palast der Republik im Rücken, schauen sie aufmerksam, wenn auch kühl zum Fernsehturm, dem Denkmal der Sputnikbegeisterung, in die Zukunft also. Engels hat sich erhoben. Er ist doch irgendwie beeindruckt. Marx bleibt aber sitzen und zeigt keine Regung. Zustimmen würde ich Dickel, dass die begleitenden Relieftafeln uneindeutige Bilder zeigen, so dass der Staat als Auftraggeber des Forums nicht erreicht hat, was er wollte, die Übermittlung einer "linientreu" rezipierbaren Botschaft. Dasselbe lässt sich aber auch vom Paar der Klassiker sagen.

Besonders interessant war Dickels Hinweis auf eine dritte Ausstellung, die von Heiner Müller und Rebecca Horn ins Gespräch gebracht worden war. Wieder zur selben Zeit, vor der Maueröffnung also. Es war der Plan, Westkünstler im Osten, Ostkünstler im Westen Skulpturen aufstellen zu lassen, wovon ein Vereinigungsimpuls ausgehen sollte. Natürlich hatte die Idee keine Chance, doch nach der Maueröffnung wurde sie aufgegriffen und umgesetzt (Die Endlichkeit der Freiheit, so auch der Titel des Vortrags). Nun war freilich etwas anderes aus ihr geworden. Sie warb nicht mehr für eine mögliche Zukunft, sondern diese war eingetreten und es ging schon darum, eine Gegenwart künstlerisch zu kommentieren. Und erneut geschah das anders als die Politik sich wünschen konnte. Statt nämlich die Befreiung des Ostens zu feiern, machten manche Künstler den Westen madig. So wurde auf einen Mauergrenzturm der Mercedesstern gesetzt, aufs Lenindenkmal der Warenkonsum projiziert.

Obwohl Westberliner, habe ich hiervon nichts mitbekommen. Dickel sagte, Berlin sei zu groß für eine stadtgreifende Ausstellung. Sie dauerte auch nur sechs Wochen. Aber in der Dokumentation hat sie viel Wirkung gehabt, Dickel meinte sogar, sie sei der Auftakt zum danach boomenden Berlin-Kulturtourismus gewesen. Politisch an ihr war nach seiner Auffassung ihr öffentlicher Charakter, wobei er unter "Öffentlichkeit" einen Prozess des Konsenses und Dissenses und insgesamt der Aushandelung versteht, der staatfinden kann, wenn es Orte für ihn gibt. In der DDR, meinte er, habe es solche Orte nicht gegeben. Dem widersprach Hans D. Christ, indem er darauf hinwies, dass wenn solche Prozesse stattfinden, sie sich ihre Orte selbst schaffen. Das sei auch in der DDR geschehen.

Christ hat recht. Man braucht nur an Stefan Naus öffentliche Umschmiedung eines Schwerts zur Pflugschar in Wittenberg unter der Moderation des jungen Pfarrers Friedrich Schorlemmer zu denken. Zuletzt wurde ja auch Ostberlin, die Hauptstadt der DDR, zum Schauplatz solcher Öffentlichkeit. Und darauf kommt es an. Wenn eine große Stadt Ausstellungsraum sein soll, muss ihr Zentrum von der Kunst besetzt sein. Wenn ein ganzes Land, das Zentrum der Hauptstadt. Solche Ausstellungen sind eine Form von Occupy.

Jena ist eine kleine Stadt, dort braucht man kein Zentrum zu besetzen, sondern tut besser daran, an Wegen zu lagern, die häufig begangen werden. Welche Erfahrungen wurden hier gemacht? An Kriegers Bericht („BrandSchutz als Experiment im Feld des Politischen“) fand ich besonders interessant, dass die Ausstellung das Kunstverständnis der Bürger irritierte. Das war jedenfalls eine Ebene, auf der sie mit den Anfragen der Künstler umgehen und sie beantworten konnten. Man sprach natürlich nicht von der Entdeckung eigener Intoleranz. Sagen konnte man aber, dass man von aktueller Kunst erwartet hatte, sie müsse gegenstandslos abstrakt sein. Abstrakte Kunst zu tolerieren, war man bereit, darauf war man vorbereitet. Man glaubte, das würde verlangt werden. Aber nun war es gar nicht an dem. Nicht wenige äußerten sich freudig erstaunt über die unvermuteten Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst.

Krieger verallgemeinerte das zum Modell eines Dreiecks von Kunst, Politik und Pädagogik. Auch wenn der Anlass einer Kunstausstellung rein politisch ist, schafft die Kunst eine eigene Ebene. Von der Politik gilt umgekehrt, dass sie nicht nur Anlass ist, sondern durch "Artikulation und Unterbrechung" Gelegenheiten schaffen kann, die Kunst allein nicht hätte. Die Pädagogik wiederum nimmt weder der Kunst noch der Politik etwas weg. Die politische Logik mit ihrem Konsens und Dissens von Menschen, die als prinzipiell gleichwissend unterstellt sind, bleibt unangetastet, wenn, wie hier geschehen, die Ausstellungsmacher gezielt sehr viele gesellschaftliche Gruppen einzeln ansprechen, sich von ihnen einladen lassen und sie ihrerseits einladen. Nur darin bestand beim BrandSchutz das Pädagogische.

Von der Stuttgarter Ausstellung Die Kunst, dermaßen regiert zu werden, mit der 2010 und '11 gegen Stuttgart 21 protestiert wurde, berichtete Christ, der Direktor des Württembergischen Kunstvereins. Dass sie "von einer interessegeleiteten Öffentlichkeit genutzt" werden sollte, war das Ziel und tatsächlich "entdeckte der Widerstand diesen Raum". Eine Aktionskonferenz mit 700 Teilnehmern fand in den Ausstellungsräumen statt. Christ sprach aus, dass eine Ausstellung ihren Exponaten etwas hinzutut, statt bloß der Ort ihrer Sammlung zu sein. Sie ist selbst ein Kunstwerk. Zugleich ist aber ihre Perspektive auf die Exponate politisch. Dies wurde im Vortrag, den die Leipziger Professorin Beatrice von Bismarck hielt, noch deutlicher („Die Politizität des Gastspiels – Zur politischen Struktur der Ausstellung“). Eine Ausstellung greift Kunstwerke auf, wie sie sind, wird von ihnen vielleicht überrascht, macht sich dann aber einen Reim auf sie und stellt diesen mit aus.

Von Bismarck führte das Beispiel der diesjährigen New Yorker Ausstellung Other Primary Structures an. Das ist nun eine Ausstellung in geschlossenen Räumen, die alle denkbaren Ausstellungen repräsentiert. Der Kurator Jens Hoffmann hat entdeckt, dass neuere Skulpturen aller Erdteile so abstrakt minimalistisch sind wie die westlichen im Jahr 1966, und lässt jene mit diesen korrespondieren. Ist das ungewollt eine neokoloniale Geste, weil es aussehen kann, als hole alle Welt nur nach, was im Westen schon früher geschah? Jedenfalls zeigt gerade dies Beispiel, dass eine Ausstellung immer politisch ist. Denn sie kann nicht anders, als ein Rahmen mit Eigenbedeutung zu sein, der in bestehende Diskurse eingreift. Ob sie will oder nicht, wird sie dadurch zur Stellungnahme. Besser ist es dann schon, wenn sie bewusst Stellung nimmt wie die Ausstellung BrandSchutz.

Ich habe nur von einigen Konferenzbeiträgen berichten können. Ein Dokumentationsband mit allen Beiträgen ist aber angekündigt. Er wird im Lauf des Jahres erscheinen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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