Die rätselhaften Spuren

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Heute am Ende der kleinen Reihe über die MaerzMusik stelle ich zwei Werke vor, die dem, was man "engagierte Kunst" nennt, immerhin ähneln, politischer Thematik wenigstens nahe kommen; zusammen mit der gestern besprochenen Wüstenbuch-Aufführung bildeten sie den Abschluss des Festivals.

Et Ecce Terrae Motus - Es bebte die Erde, eine "utopische Musik im Angesicht des Untergangs", wurde Samstag abend und Sonntag früh gegeben. Das Musikalische daran waren Ausschnitte aus einer Messe Antoine Brumels, eines Klerikers und Komponisten der Renaissance. Man fragte sich wieder, wie schon beim Renaissance-Theater Luci me traditrici, über das ich vorigen Mittwoch schrieb, warum ein so alter Stoff verwendet wird, außerhalb der Kirche; warum eine Musik "utopisch" sein soll, die den Kreuzestod Christi vertont. Ohne Zweifel modern war Clemens Goldbergs Inszenierungsmethode, auf die ein weiterer Untertitel zielt: "eine Raum-Klang-Aufführung nach dem Verfahren des 'Slow Listening'". Nun gut, Goldberg ist Gründer einer "Internet-Akademie für interdisziplinäre Geisteswissenschaft", die "neuartige Formen der musikalischen Aufführung fördert". Aber warum gießt er alten Wein in die neuen Schläuche? Seine Erklärung im Programmbuch mag manche befremden: "Die Aufführung stellt bewusst alle Parameter unseres heutigen Kulturkonsums in Frage, besonders deren Wahllosigkeit und Genuss-Sucht." Der Hörer wird "von der Gegenwart in die historische Kreuzessituation geführt. Er kann sich aber nicht im Schein der Perfektion der Zwölfstimmigkeit und der Gesamtheit der Messe der eigenen Frage nach Leben und Tod entziehen."

Lassen wir den Ton der Predigt beiseite und folgen nur Goldbergs Hinweis auf die "Perfektion der Zwölfstimmigkeit". Überraschend führt er ins Zentrum all der Fragen moderner Musik, die ich in diesem Blog erörtert habe. Schon dass die "Zwölfstimmigkeit" an Arnold Schönbergs Zwölftonmethode erinnert, ist eine Spur. Gemeint ist, dass der Renaissance-Komponist zwölf Sänger einsetzt und jeden eine eigene Linie singen lässt. Jede(r) beginnt mit lang anhaltendem Ton, was an Sciarrinos Technik in Luci me traditrici erinnert. Ihre polyphone Einheit tut ihrer Vereinzelung keinen Abbruch. Goldberg unterstreicht diese noch, indem er die Sänger zunächst einzeln nacheinander singen lässt. Danach erst vereinigen sie sich zum Chor. Die "Assoziation freier Individuen" scheint vor, nicht erst bei Goldberg, sondern schon bei Brumel, in einem Kontext, wo wir es nun wirklich nicht erwarten. Aber warum eigentlich nicht? Wie wir doch wissen, vereinzelt das Christentum die Menschen vor Gott, ein daraus resultierender Individualismus hatte in der Renaissance seinen ersten Durchbruch, wenig später folgte die Reformation und von ihr wurden frühbürgerliche Revolutionen motiviert. Warum soll sich das nicht in der Kirchenmusik niederschlagen?

Der Bogen zur neuen Musik ist aber viel breiter. Zwei zentrale Eigenschaften teilt die Messe formal mit ihr, erstens den Willen zur radikal stimmigen "Konstruktion" - ich setze das Alltagswort in Gänsefüße, weil Adorno es zum Hauptbegriff seiner Charakterisierung moderner Kunst macht - und zweitens den Unwillen, Entwicklung oder gar Fortschritt musikalisch zu suggerieren, der dem "auf der Stelle treten" neuer Musik entspricht. Was die Konstruktion angeht, weiß Goldberg wahre Wunderdinge zu berichten: "Alle Stimmen sind so konstruiert, dass sie prinzipiell komplett vertauschbar sind und damit Oben und Unten nicht mehr spürbar sind." Beim Unwillen zur Fortschrittsmusik denken wir an die Analogie in der bildenden Kunst: Es ist gezeigt worden, dass die russischen Avantgarde-Maler, als sie die Perspektive aufgaben, teils bewusst auf die alte Ikonenmalerei zurückgriffen. Am schlagendsten ist aber nicht der formale, sondern der inhaltliche Gesichtspunkt. Wenn wir nämlich moderne Musik als den Versuch, ein "rissiges Ewigkeitsbild" zu konstruieren, kennzeichnen konnten, so sehen wir nun auf den ersten Blick, dass die Bewältigung dieser Aufgabe Brumel viel leichter fallen musste als Schnebel oder Furrer: Er brauchte nur das Kreuz zu vertonen! Das Kreuz, das bekanntlich die "Auferstehung" symbolisiert.

Insofern war nicht nur die Inszenierung modern, sondern auch dieser musikalische Bogen. Doch was nützt es, "von der Gegenwart in die historische Kreuzessituation geführt" zu werden? "Slow listening" bedeutete, dass man beim Musikhören eine durchs Kreuz gemusterte Videotafel ansah, auf der Bilder historischer Katastrophen erschienen. Aus unserer Zeit Tschernobyl und die Vernichtung des Kölner Stadtarchivs. Dann das Erdbeben von Lissabon, 1755, das seinerzeit den Glauben in die gottgleiche Natur und natürliche Gottheit (deus sive natura) erschütterte. Susan Neiman hat den Schock, den "Lissabon" auslöste, mit dem Schock von Auschwitz verglichen. Auschwitz auf die Bühne zu zitieren, verbot sich, man dachte aber daran und sollte es wohl auch. Das vierte Bild neben Lissabon, Tschernobyl und Köln war die Kreuzigung selber, eins der vier Kreuzigungsbilder von Grünewald, gemalt, wie man weiß, zur Zeit der Bauernkriege. Nicht das vom Isenheimer Altar, sondern ein noch verzweifelteres. "Die Enkel fechten's besser aus" haben die Bauern damals gesungen, das war ihr Rest von Utopie nach der Niederlage. Das Utopische der Goldbergschen Bildzusammenstellung lag in der Bereitschaft, sich den Katastrophen zu stellen. Wer einen so langen Anlauf nimmt, meint es ernst.

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(Foto: Kai Bienert)

Ein Schritt in den Sperrgürtel

Die andere Veranstaltung wollte zwar auch nicht Wegweisung geben, wie man die Assoziation freier Individuen erreicht, dafür machte sie aber hier und jetzt den musikalischen Anfang. Rithaa - ein Jenseitsreigen, "arabische Klagegesänge und Trauerrituale" von Mela Meierhans, war die letzte Veranstaltung des Festivals überhaupt. Rithaa heißt Klagen. Die Komponistin glaubt, Trauer über den Tod sei etwas, das die Differenzen zwischen arabischer und westlicher Welt überbrücken helfe. Dass sie eine palästinensische Komponistin und Sängerin, Kanilya Jubran, an der Komposition beteiligte, gibt ihrem Werk eine politische Dimension. "Engagiert" ist es in dem Sinn, dass Meierhans genau weiß, der Westen trauert zwar auch, verdrängt aber die Trauer. Sogar die eigene und zumal die fremde. Den arabischen Texten, die gesungen, gesprochen oder auf der Leinwand gezeigt werden, stellt sie Judith Butler entgegen, die von Antigone spricht. Antigone bestand darauf, ihren Bruder zu begraben, einen Terroristen. "Ich kenne mich selbst nicht durch und durch", hören wir Butler sagen, "weil ein Teil dessen, was ich bin, aus den rätselhaften Spuren der anderen besteht." "Offenbar werde ich ebenso von denen konstituiert, um die ich trauere, wie von denen, deren Tod ich verleugne, deren namenlose gesichtslose Tode den Hintergrund meiner sozialen Welt bilden."

Eine Assoziation arabischer und westlicher Menschen kann damit beginnen, dass ihre Musik verknüpft wird. So sang Jubran ihre arabischen Lieder, und die Sängerin, die Butler rezitierte (Leslie Leon), antwortete in westlich aktueller Musik. Das war äußerst erhellend. Ich habe mich beim Zuhören gefragt, zum ersten Mal in meinem Leben, was die Fremdartigkeit arabischer (auch türkischer) Gesänge ausmacht. Man hat sie im Ohr, aber was hört man eigentlich? Ich kann hier nicht als jemand sprechen, der von der Sache etwas verstünde. So viel ist aber bei mir angekommen, dass arabische Musik ganz einfach keine Buchstaben-Musik ist. Sie hat Tonika, Dominante und Subdominante wie wir, doch lässt sie alle Töne ineinander gleiten. Das ist sicher der Grund, weshalb sie Vierteltöne nicht verschmäht, und es mag die Häufigkeit des Tremolos daher rühren (ein Begriff, der nicht passt). Wir können uns also, wenn wir solche Musik hören, an Saussure und Lévi-Strauss erinnern, die mit Westler-Stolz verkündet haben, es erhebe "die Kultur" über "die Natur", dass sie den natürlichen Strom unterbreche und dann mit den Bruchstücken operiere, eben den Buchstaben. Wir erinnern uns aber auch, dass moderne westliche Komponisten, Scelsi, Schnebel, den natürlichen Ton und sogar den Schrei zurückzuholen versuchen. Da gibt es eine Konvergenz.

Dass viele in der westlichen Konzerttradition geschulte Menschen, zu denen auch ich immer gehört habe, mit arabischer Musik nicht viel anfangen können, liegt sicher auch an der Erziehung durch diese Tradition. Man denke an Werke wie die Scheherazade von Rimski-Korsakov oder den Tanz der sieben Schleier von Richard Strauss. Der letztere scheint vom natürlichen Strom der arabischen Melodie etwas zu ahnen, doch wird man von seiner Deutung erschlagen, die darin besteht, dass solche Musik Verführung und sexuelle Gier verkörpere. Es ist eine Haremsphantasie. Daraus, dass Arabien dem Natürlichen in der Kunst mehr Freiheit gönnt als wir, macht Strauss, dass auch Arabiens Kultur in Naturfesseln liege. Einer anderen Entfremdung setzt uns Rimski-Korsakov aus: Er fasst den arabischen Melodiestrom als Ornament auf. Seine Musik ist schwächer als die von Strauss, hat dafür wenigstens geistigen Gehalt jenseits des Bierzelts zu bieten.

Beide aber hören vor allem Sehnsucht heraus, und das ist nicht falsch. Denn alle Musik sehnt sich nach Versöhnung mit der Natur; an der arabischen hören wir, dass sie uns nicht gelungen ist. Was ist unser Räuspern, Knarzen und Knarren im Konzertsaal, von dem anlässlich der Schnebel-Musik die Rede war, gegen den öffentlichen Klagegesang arabischer Frauen, der unmittelbar schreit und zugleich ein Akt der Sublimation ist! Solcher Gesang wurde per Video eingespielt, man konnte die elementare, kultivierte Trauer hören und erleben.

Meierhans hat sich "als Artist in Residence in Kairo eingehend mit der arabischen Musik beschäftigt". Durch ihre Komposition gewann ich den geschilderten Eindruck. Erst trug Jubran ein Lied vor, dann sang Leon eine moderne westliche Melodie aus atomisierten Tönen, die große Sprünge machten und sich so verbanden. Das war eine Auseinander-Setzung der Kulturen, bei der sich zeigte, dass beide ihre Errungenschaften haben. Denn eine Errungenschaft ist es natürlich auch, wenn westliche Musik große Räume, auch Sinn-Räume überbrücken kann, eben weil sie mit Buchstaben operiert. Hier hat sie es einmal gewagt, den Sperrgürtel zum Orient zu betreten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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