Dass die antiken Straßen- und Tempelreste Palmyras von der Terrormiliz Islamischer Staat erobert wurden, ist aus mehr als einem Grund ein Ereignis und womöglich ein Wendepunkt. So ist die syrische Hauptstadt Damaskus von nun an unmittelbar bedroht. Neben allen militärischen Gründen aber wiegt die drohende Vernichtung der antiken Stätte für den Westen noch schwerer als alle Zerstörungen von Kulturdenkmälern durch islamistische Kräfte in den vergangenen Jahren. Denn erstmals ist ein Ort der eigenen westlichen Vergangenheit betroffen. Palmyra ist nicht Assyrien und es geht nicht um Buddha-Statuen wie in Afghanistan – Palmyra ist eine bedeutende Stadt im Römischen Reich gewesen. Kein Zufall, dass dieser kulturelle Gesichtspunkt in Berichterstattung und Kommentaren der Medien alles andere, was sonst noch am Verlust der Stadt erschrecken kann, in den Schatten stellt.
Soll man sagen, das sei eine schiefe Wahrnehmungsweise der Medien? Weil ein Feld toter Steine viel unwichtiger sei als die steigende Zahl der im syrischen Krieg getöteten Menschen? Nein, man braucht das nicht gegeneinander auszuspielen. Beides ist furchtbar, und doch ist der Akzent auf dem Kulturellen weder neu noch erstaunlich. Wer findet es unangemessen, dass in Karl Kraus‘ Der Untergang der Menschheit, seinem Lesedrama über den Ersten Weltkrieg, die möglich gewesene Vernichtung Venedigs als das Schrecklichste erscheint? Wer wird Umberto Eco dafür rügen, dass sein Roman Der Name der Rose sich nicht mit einer Reihe von Morden begnügt, sondern in der Vernichtung einer Bibliothek gipfelt?
Der Schrecken solcher Verwerfungen trifft nur Symbole, keine lebenden Körper, doch auch Symbole sind wichtig und zumal solche, die Tradition symbolisieren. Wenn sie zerstört werden, ist das ein Todesopfer nicht nur von Steinen. Das sind Symbole von Menschen, die gelebt haben, und ihrer Kultur, auf der im Fall Palmyras die unsrige aufbaut. Wenn sie dem Erdboden gleich gemacht werden, werden gleichsam Tote nochmals getötet, Ahnen von uns, die uns sehr viel bedeuten müssen.
Gewiss kann Palmyra, was immer jetzt geschehen mag, als Symbol nicht mehr verschwinden. Es ist in Bildern und archäologischen Einsichten bestens dokumentiert. Fatal genug wäre es, wenn die Denkmäler nicht mehr „angefasst“ werden können, und mehr noch, wenn die Möglichkeit weiterer Ausgrabungen mitzerstört wird. Aber man wird einräumen, dass es schlimmere kulturelle Verwüstungen gegeben hat. Von den verbrannten Büchern etwa, die in der Bibliothek des antiken Alexandria lagerten, gibt es keine Abschriften. Und doch nimmt das der möglichen Zerstörung Palmyras nicht den Schrecken, sei‘s auch nur, weil sie an die noch schrecklicheren Zerstörungen erinnert.
Erschütternd ist die Bedrohung gerade dieses Kulturzeugnisses noch aus einem anderen Grund: Es könnte uns noch heute eines Besseren belehren. Gelegen zwischen Römern und Parthern, jenem Feind, den Rom nie ausschalten konnte, spielte die Wüstenoase Palmyra im ersten Jahrhundert nach Christus eine Vermittlungsrolle, die ihm zunächst weitgehende Autonomie der Metropole gegenüber erhielt, obwohl es ihr tributpflichtig war. Denn der Handelsweg von Asien nach Europa lief durch diesen Ort. Da seine Bewohner sich Stämmen zurechneten, zu denen auch Nomaden im Wüsten-Umfeld gehörten, waren sie kriegsfähig und konnten zugleich erfolgreich verhandeln. Deshalb wurde die Stadt von Rom gebraucht. Ihr Selbstbewusstsein äußerte sich darin, dass ihr die kulturelle Synthese aus römischen Elementen, die sie zum Zeichen ihrer Verbundenheit mit der Mittelmeerkultur übernahm, und der eigenen, Jahrtausende zurückreichenden Vergangenheit gelang. Die kulturelle Kenntnis der Palmyrener stand auf solchem Niveau, dass die Stadt sich auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche griechisch-römische Polis mit Agora und Theater ausnahm und es doch nicht war. Bis vor ein paar Jahren war diese eindrucksvolle Synthese zum Anfassen präsent. So war vom Bel-Tempel viel erhalten: Man sah noch, wie ein länglicher Bau mit Eingang an der Seite, der römischen Architektur ganz fremd, sich vorn als griechisches Säulen-Architrav präsentierte. Was ist die Lehre, wenn das zerstört wird? Dass man sich fragt, wie es heute um Orte der Vermittlung und Synthese bestellt ist.
Die Vergangenheit gehört zu den Maßstäben, an denen wir die Gegenwart messen. Gerade dieser Zusammenhang begründet unsere kulturelle Identität: Wir wissen, dass wir nicht aus dem Nichts kommen, und fragen uns, wie weit wir gekommen sind. Nicht alle glauben noch, dass die Menschheitsgeschichte ein Fortschrittsprozess ist, aber alle wissen, dass es gravierende Rückfälle der Zivilisation geben kann. Wenn wir unsere Zeit mit der Blütezeit des antiken Palmyra vergleichen, müssen wir uns einen solchen Rückfall eingestehen. Zwischen der westlichen Zivilisation und ihrem Außen scheint Vermittlung immer schwieriger zu werden. Was finden wir an unserer Peripherie? Keine Staaten, die durch kulturelle Synthesen eine Brücke zum Außen bilden, sondern den Staatszerfall. Der möglichen Vernichtung Palmyras sehen wir tatenlos zu. Manche meinen, der Westen trete als gewaltsames, aber doch Frieden bringendes Imperium in die Fußstapfen Roms. Nichts kann absurder sein als diese Ansicht.
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