Die Stadt ohne Juden

MaerzMusik 2019 Olga Neuwirths musikalische Turbulenzen, Hans Mosers zweite Filmrolle

Die beiden von mir besuchten Abende des „Festivals für Zeitfragen“, wie sich die Berliner MaerzMusik seit einigen Jahren nennt, waren durch den Namen Olga Neuwirth verbunden. Von der 1968 in Graz geborenen Komponistin wurde vorgestern ein Stück für großes Orchester gegeben, Masaot / Clocks without Hands (2013, rev. 2015), zur gestrigen Aufführung eines Stummfilms hatte sie eine neue musikalische Begleitung komponiert, die live vor der Leinwand gespielt wurde, wie es in den letzten Jahren üblich geworden ist: Musik zu „Die Stadt ohne Juden“ für verstärktes Ensemble und Zuspielung (2017). Am Donnerstag waren neben Masaot eine Komposition von Ashley Fure, Bond to the Bow für Orchester und Elektronik (2016, deutsche Erstaufführung), und eine von Justé Janulyté, Was there a Swan? für Orgel und Orchester (2019, Uraufführung), zu hören, es konzertierte das Konzerthausorchester Berlin unter Peter Rundel.

Masaot ist nach der Uraufführung der revidierten Fassung von der Presse sehr gefeiert worden. Die New York Times nannte es „ein großes, freches, brillantes Glanzstück in der Tradition von Le sacre du printemps“. Ich habe den Zugang nicht so leicht gefunden. Auf dem Untergrund wechselnder atonaler Klangteppiche werden verschwommene Zitate laut, bei denen ich zuerst an Jahrmarktmusik oder Umzüge dachte. Frech, ja. Aber Strawinskys Sacre ist nicht frech. Wie war das gemeint? Neuwirth selbst gibt an, sie habe Gustav Mahler reflektieren wollen. Außerdem sei ein Traum zum „Auslöser der ‚musikalischen Turbulenzen‘ meines Orchesterwerks“ geworden. In diesem Traum lässt ihr Großvater Lieder vom Tonband hören und sagt dazu, er habe sich in Österreich immer ausgegrenzt gefühlt. So vereine denn das Stück „Melodiefragmente aus sehr unterschiedlichen Orten und Lebenserfahrungen meines Großvaters“. Sie selbst habe versucht, „mir das Thema ‚mehrere Heimaten‘ zu beantworten, nämlich durch das Komponieren von Musik als Heimat und Fremde zugleich“. Tatsächlich hat sie in vielen Orten gelebt: San Francisco, New York, Prag, Paris, Venedig, Triest, Wien, Berlin.

Welchen Reim soll man sich darauf machen? Mahler einerseits, diese vielen Orte andererseits, dann der Wunsch, dass eine „Kontinuität“ herauskommt („auf der Suche nach Verortung und Identität“), drittens schreibt sie auch noch, ihr Großvater sei „aus der Zeit gefallen“ und die Komposition „möge als poetische Reflexion über das Verschwinden von Erinnerung angesehen werden“. Dem entspricht, dass sie hin und wieder Metronom-Schläge einblendet, „die die Zeit hör- und spürbar machen“, schließlich allerdings dazu führen sollen, dass die Zeit als zeitlos empfunden werde. Deshalb der Titel Clocks without Hands, also Uhr ohne Zeiger, „die Zeiger sind abgebrochen“, wie sie noch zuspitzt. Da denke ich an einen Film von Ingmar Bergman, in dem jemand träumt, er sehe überall solche zeigerlosen Uhren, was in seinem Fall bedeutet, dass sein Leben abgelaufen ist. Der andere Titelbestandteil ist ein hebräisches Wort: Masaot, die Fahrt oder die Reise. André Sokolowski, der auf freitag.de bloggt, macht darauf aufmerksam, dass Neuwirth „an zufälligen Stellen“ immer wieder einmaljenes jüdisch-traditionelle Hava Nagila leitmotivisch durchblitzen lässt“. Man kann sich das schöne Lied, dessen Titel mit „Lasst uns glücklich sein“ zu übersetzen ist, auf YouTube anhören. Ich hatte nichts von ihm gewusst, es dürfte der Schlüssel sein.

Gustav Mahler war jüdischer Herkunft. Wenn man seine Lieder eines fahrenden Gesellen (1896) hört, braucht es nicht viel, um zu denken, dass er sich da mit seinem Ausgegrenztsein auseinandersetzt. Obwohl er Operndirektor in Wien und einer der berühmtesten Dirigenten seiner Zeit war, blieb auch ihm diese Erfahrung nicht erspart. In seiner Kasseler Zeit musste er eine antisemitische Kampagne über sich ergehen lassen. Seine Symphonien aber darauf zu beziehen, liegt weniger nahe. In Adornos Mahler-Buch ist meiner Erinnerung nach eher zu lesen, der Komponist habe die Verbrauchtheit des musikalischen Materialstands seiner Zeit erkannt und deshalb typische Floskeln nur noch ironisch zitiert, es aber mit Wehmut getan. Olga Neuwirth hat die Symphonien wohl anders gehört. „Seiner Ersten Symphonie wurde nach der Uraufführung Eklektizismus vorgeworfen“, schreibt sie, und „genau das hat mich interessiert“. Zeugen die Zitate also eher von Mahlers Gefühl, nicht dazuzugehören? Sicher kannte er die böse Behauptung Richard Wagners, der jüdische Opernkomponist Giacomo Meyerbeer – dem Wagner selbst so viel verdankt – könne nur die Oberfläche der Musik anderer nachahmen, Gefühl und Tiefe würden von ihm nur simuliert. Und nun verstehe ich auch, wie man Neuwirths Rekurs auf all diese Abgründe „frech“ nennen kann. Auch sie zitiert Floskeln, aber sie gibt Hava Nagila dazu.

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Der Stummfilm Die Stadt ohne Juden wurde 1924 gezeigt, es ist die Verfilmung des gleichnamigen, 1922 erschienenen Romans von Hugo Bettauer. Das Drehbuch verfassten Hans Karl Breslauer, der Regisseur, und Ida Jenbach. Bettauers Vater Samuel Aron Bettauer war Börsenmakler. Er selbst wurde nach einer wochenlangen Medienkampagne, die der Uraufführung des Films folgte, von einem Nationalsozialisten niedergeschossen. Die Handlung: In Wien, der Film sagt „Utopia“, schlägt Dr. Schwertfeger, der Bundeskanzler, ein Gesetz vor, nach dem alle Juden das Land verlassen müssen. Das geschieht auch und führt zu einer kurzen wirtschaftlichen Blüte, weil die Bioösterreicher sich die zurückgelassenen jüdischen Immobilien aneignen können. Bald aber bricht die Wirtschaft zusammen, weil sie von Juden kundig geführt worden war und diese Führung jetzt fehlt. Einer der Ausgewiesenen, Leo Strakosch, kehrt als Franzose verkleidet zurück und klebt heimlich Plakate im Namen „wahrhaftiger Christen“, die zur Rückgängigmachung des Gesetzes auffordern. Dafür braucht es die Zweidrittelmehrheit im Parlament, die sich auch bald anbahnt, aber eine Stimme fehlt noch. Da macht sich Strakosch mit einem der Gegner bekannt, dem Antisemiten Rat Bernart - der im Film von Hans Moser gespielt wird, es ist dessen zweite Filmrolle -, macht ihn am Morgen der Abstimmung betrunken und lässt ihn von einem Taxi weit weg fahren, so dass er an der Abstimmung nicht teilnehmen kann. Am Ende wird Strakosch, der auch als Verlobter eines österreichischen Mädchens gezeigt wird, von einer jubelnden Menge am Rathaus gefeiert.

Gestern Abend ging dem Film eine Lesung aus dem Roman voraus. Zuerst trug Josef Bierbichler die lange Rede vor, mit der Dr. Schwertfeger für das Ausweisungsgesetz wirbt. Diese Romanpassage hinterlässt einen starken Eindruck. Der Kanzler beginnt damit, die Juden als Menschen zu feiern, die den Österreichern in allen Belangen überlegen seien und die er deshalb bewundere. Aber diese Überlegenheit mache die Juden zu Herren über die Einheimischen, die sich das im Kampf um ihr Dasein nicht gefallen lassen könnten. Zuletzt vergleicht er sie mit dem Rosenkäfer, den man ja auch ob seiner Schönheit bewundere und der doch „vertilgt“ werden müsse, sonst würden die Rosen zerstört.

Immer wieder staunt und erschrickt man über solche prophetischen Ahnungen, die Auschwitz lange vorausgingen, wo wirklich ein Insektenvertilgungsmittel zum Einsatz kommen sollte. Schon 1902 hatte Hugo von Hofmannsthal im berühmten Chandos-Brief – berühmt dafür, dass der fiktive Verfasser sagt, ihm sei „völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen“, ja ihm zerfielen die Worte im Mund - die Vision vom Todeskampf eines vergifteten „Volks von Ratten“ gezeigt, man möge sie selbst nachlesen, ich bringe es nicht über mich, sie zu zitieren, aber schon da frage ich mich, was Hofmannsthal denn dazu bringt, das zu phantasieren. Auch Bettauer hat sich bestimmt nicht vorstellt, dass jemand seinen Vergleich mit dem Rosenkäfer entmetaphorisieren und in die Tat umsetzen könnte. Das Äußerste, was Roman und Film für möglich halten, und das ist freilich schon viel, ist die gesetzliche Drohung, alle Juden zu töten, die nach dem Ausweisungstermin im Land noch vorgefunden werden. Im Film wenigstens wird keine solche Tötung gezeigt, allerdings sieht man lange Züge armer jüdischer Flüchtlinge mit wenig Gepäck, die sich im Winter auf die Landesgrenze zubewegen, und ein allzu vertrautes Bild ist es, wenn dann ein alter Mann nicht mehr laufen kann und stürzt. Schlimm ist es auch, die Szenen am Bahnhof mitanzusehen, wo die bessergestellten Juden in die Züge einsteigen. Die Züge haben Fenster, es sind keine Viehwagen, aber trotzdem. An einer Stelle spielt Neuwirths Begleitmusik auf Schönbergs Überlebenden aus Warschau (1948) an.

Im zweiten Teil der Vorlesung, als Samuel Finzi vortrug, ging es vor allem um die Listen des als Franzosen verkleideten Protagonisten Leo Strakosch. Diese realistisch erzählten Passagen sind als Romaninhalt ziemlich schwach, als Dokument des Wunschdenkens sich bedroht fühlender Juden aber wichtig. Man erfuhr gestern Abend, dass der Wiener Antisemitismus wegen einer aktuellen Fluchtwelle russischer Juden stark zugenommen hatte. Es ist, aus vielen Gründen, nicht nur eine Geschichte von gestern. In der Ästhetik des Films ist sie auch künstlerisch vollkommen. Da verschwindet der Eindruck, ein Einzelner, Strakosch, könne heimlich das politische Gefüge umwälzen, denn nun werden seine Handlungen bloß knapp angedeutet, in kurzen Bildsprüngen, so dass man den Ablauf eher symbolisch versteht. Ein Höhepunkt die Szene, in der Rat Bernart / Hans Moser, vom Taxi in die Vorstadt gefahren, dort von Irrenhausärzten in Empfang genommen wird und tatsächlich in ein Delirium gerät, wo ihn Davidsterne umgeben. Sein Wahn macht ihn übrigens hellsichtig, er findet sich in einem erstaunlichen kubistischen Raum wieder.

Von Olga Neuwirths Musik ist vor allem zu sagen, dass sie ihrer Komposition Masaot / Clock without Hands verblüffend ähnelte. Auch hier fassliche Klänge und Melodien, die aus dem atonalen Teppich emportauchen. Natürlich trug das nachträglich zu meinem Verständnis von Masaot bei. In der Filmbegleitmusik kommen aber die „Zuspielungen“ hinzu, das sind etwa Rufe im Parlament, undeutlich vom Band abgespielt. Sehr genau konnte ich nicht zuhören, weil der Film so fesselnd war, aber dazu trug diese Musik ja bei, sie war so gut, könnte man sagen, dass man aufhörte sie zu hören. Es spielte das Ensemble PHACE, Klangregie Alfred Reiter, Leitung Nacho de Paz.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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