Die Trumpfkarte

Siegchancen 2006 Angela Merkel wird patriotisch

Das Blatt scheint sich für die SPD zu wenden. Nachdem ihr Kanzler die unpopulärsten Schritte der Legislaturperiode schon hinter sich hat, kann er hoffen, dass seine Regierung als "das kleinere Übel" auch die nächste Bundestagswahl übersteht. Die Pläne der Union sind nämlich noch unpopulärer, und wie die letzten Landtagswahlen belegen, haben die Bürger es gemerkt. Das ist die Situation; sie ist nicht leicht zu begreifen. Denn warum macht die Union es dem Kanzler nicht schwerer? Sie verhält sich wie eine Partei, die ihre Niederlage absichtlich vorbereitet.

Nach früher üblichem Ermessen müssten wir zur Zeit den raschen Untergang der CDU-Vorsitzenden Merkel erleben. Sie sucht den Kanzler an neoliberaler Radikalität zu überbieten, aber der wichtigste Fachmann für radikale Rezepte, Friedrich Merz, verweigert die Zusammenarbeit. Sieht das nicht wie der Weg in die Wahlniederlage aus? Werden daran, ob sie für Wahlsiege gut sind, Parteivorsitzende nicht traditionell gemessen? Doch die Union lässt Merkel gewähren und zwingt sie nicht einmal zur Kursänderung. Im Streit um die Gesundheitsprämie hat Stoiber ihr alle Essentials der CSU geopfert, obwohl er wissen muss, dass die politischen Kosten gewaltig sind. Auch hier ging der wichtigste Lotse von Bord. Horst Seehofers Worte sind tödlich für die Wahlchancen der Unionsparteien: Er halte es nicht für gerecht, dass Merkels Gesundheitspolitik einem Besserverdienenden wie ihm die Kosten deutlich senke und die Ärmsten der Gesellschaft es bezahlen müssten. Mit Merz und Seehofer gibt die Union jeden Anspruch auf, Wirtschafts- und Sozialpolitik auch nur scheinbar aufeinander beziehen zu wollen. Und doch darf Merkel weitermachen? Dafür, dass es beim CDU-Parteitag im Dezember zur Schwächung ihrer Position kommen könnte, gibt es kein Anzeichen.

Ein Muster zeichnet sich in dem selbstzerstörerischen Vorgang zwar ab. Wir kennen es aus den letzten beiden Bundestagswahlkämpfen: Vor dem Wahltag greift Gerhard Schröder das Unionsprogramm an, nach dem Wahltag führt er es aus. An den Zielen der neoliberalen Revolution gemessen ist das ein kluges Drehbuch. Wie anders ließen sich bürgerfeindliche Projekte mit den Spielregeln der Demokratie vereinbaren? Da muss die Union den für "gute" Zwecke geopferten Helden spielen. Es stünde demnach zu erwarten, dass Schröder zum dritten Mal gewählt wird, weil er Merkels Gesundheitspolitik bekämpft, und sich diese anschließend zu eigen macht.

So mag es kommen, aber es ist keine Erklärung des Unionsverhaltens. In der Parteipolitik findet man selbstlose Menschen noch weniger als anderswo. Die Durchsetzung des Neoliberalismus mit verteilten Rollen liegt in Schröders Interesse, denn so bleibt er Kanzler - aber man muss fragen, welches ebenso egoistische Interesse die CDU und ihre Vorsitzende leitet. Doch wohl, dass sie Regierungspartei werden wollen. Wenn sie sich auch ohne Merz und Seehofer eine Chance ausrechnen, müssen sie glauben, noch eine Trumpfkarte im Ärmel zu haben.

Ihre Hoffnung ist das Nationale. Die CSU spielt schon lange auf diesem Register; am Wochenende begann auch Merkel, sich darin zu üben. Von nun an müsse das deutsche Interesse Kriterium deutscher Politik sein. "Wir arbeiten für deutsche Interessen, für unsere Arbeitnehmer in unserem Land" wie auch für "die patriotischen Arbeitgeber", sagte sie den Delegierten des CSU-Parteitags. Lässt sich damit ein Wahlkampf gewinnen? Durchaus, denn auch dieses Muster ist bekannt: Nationalismus als Kompensation für sozialen Kahlschlag. Das schwebt Merkel nicht nur so im Allgemeinen vor, sondern sie will es mit dem deutsch-türkischen Verhältnis illustrieren. Die Weiterentwicklung Europas, sagt sie, sei (nur) deshalb wichtig, weil sie im deutschen Interesse liege; und weil das so sei, könne die Türkei nicht EU-Mitglied werden.

So ist es also möglich, dass sich das Blatt von der SPD wieder zur Union zurückwendet, wenn auch auf Kosten der Türken in diesem Land, die bald wieder - im Fahrwasser der Unions-Politik - zu Konkurrenten "deutscher Arbeitnehmer" gestempelt werden könnten. Doch die SPD wird kämpfen. Sie mag sich zum Wettstreit um den "besseren" Nationalismus hinreißen lassen. Hat es dergleichen Untertöne nicht schon im vorigen Wahlkampf gegeben? Schröder nannte es einen "deutschen Weg", als er den US-Präsidenten wegen der Vorbereitung des Irak-Kriegs angriff. Aber der Rückblick zeigt auch, dass die SPD sich auf einen nationalistischen Wahlkampf nicht einzulassen bräuchte.

Sie kann die Wähler erinnern, dass Merkel seinerzeit dafür plädierte, die deutsche Irak-Politik der amerikanischen unterzuordnen. Sind nicht Merkels Bereitschaft, in die "Koalition der Willigen" einzutreten, und die rot-grüne Türkeipolitik Konzepte auf der gleichen Ebene von Weltordnungspolitik? Sie sind beide so wenig "national", dass jede nationalistische Aufbereitung, käme sie von SPD oder Union, ein gefährliches Irrlicht wäre. Wenn Merkel Bushs Irak-Politik unterstützt, dann heißt das doch, sie schließt sich dem amerikanischen Versuch an, den Nahen Osten mit Kriegsgewalt zu "demokratisieren". Schröder hingegen hofft auf einen anderen Demokratisierungsweg, einen friedlichen und freiwilligen mit der Türkei als Vorreiter; deshalb unterstützt er deren EU-Begehren. Auch wenn Merkel anderes behauptet, um Wählerstimmen zu fangen, geht es bei diesem Streit um europäische Interessen und nicht um "deutsche" Fragen.

So viel kann man von der SPD verlangen, dass sie wenigstens der nationalistischen Versuchung widersteht, wenn sie schon das Gift der neoliberalen Revolution verbreiten hilft. Unterstützung von Verteidigern des Sozialstaats hat sie 2006 nicht mehr zu erwarten, jedenfalls verdient sie keine. Die sozialstaatlichen Kräfte stellen sich besser unabhängig zur Wahl. Aber jeder Beitrag wird begrüßt werden, der Merkels deutschen Weg hemmt. Auch der des jetzigen Kanzlers.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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