Kirill Petrenko, der am Freitag die 8. Sinfonie (1943) von Dmitri Schostakowitsch mit den Berliner Philharmonikern zur Aufführung brachte, sah einen Zusammenhang zwischen diesem Werk und der Corona-Situation. Es ist einer von den Vergleichen, die man nicht missverstehen darf. Natürlich hat unsere Situation nichts mit der Angst eines Sowjetbürgers zu tun, der unter Stalins Herrschaft nicht wagt, sich anderen anzuvertrauen, selbst wenn sie zur eigenen Familie gehören. Aber die Corona geschuldeten Kontakt-Erschwernisse können es dem Orchester und seinem Chefdirigenten doch erleichtert haben, sich in die Stimmung hineinzuversetzen, in der sich der sowjetische Komponist seinerzeit befand.
In dem Gespräch, das vor der Aufführung ausgestrahlt wurde – beides in der Digital Concert Hall, da in diesem November kein Publikum einen Konzertsaal betritt –, wies Petrenko den Untertitel zurück, den man der Achten im Entstehungsjahr verpasst hatte: Das sei keine „Stalingrad-Sinfonie“ im Gedenken an die Opfer der kriegsentscheidenden Schlacht, vielmehr eine Reflexion der Verzweiflung eines gänzlich isolierten Menschen. Tatsächlich wurde das Werk, so gehört, vollkommen durchsichtig. Überhaupt sei das die Aufgabe eines Dirigenten, so Petrenko: Noten lesen könnten die Orchestermitglieder selbst, aber eine gemeinsame Vision davon, wofür eine Komposition metaphorisch stehen mag, müsse ihnen gegeben werden.
Wahrscheinlich tut ein Dirigent in der Arbeit mit seinem Orchester noch mehr. Er wird eine Verbindung herstellen zwischen seiner Vision und gewissen Grundelementen der Partitur, um die es geht. Im Fall der Achten spielt der sogenannte Mordent, mit dem das Werk schon beginnt, eine Hauptrolle. Das ist die von der nächstunteren Note unterbrochene Wiederholung eines Tons: Ursprünglich eine bloße Verzierung unter vielen, hat sie sich zum eigenen Motiv entwickelt, das etwa im Schlusssatz von Johannes Brahms’ 4. Sinfonie (1885) den Gedanken eines apokalyptischen Endes evoziert.
Hoffnung für die Nachfahren
Und so auch bei Schostakowitsch. Man erkennt den Mordent nicht gleich als solchen, weil er am Anfang punktiert und sehr langsam gespielt wird. Aber mehr und mehr nimmt der erste Satz der Achten den Charakter eines Trauermarsches an. Eines ganz intimen freilich; ein Staatsakt ist das sicher nicht. Dazu würden auch die katastrophischen Ausbrüche nicht passen, zu denen sich dieser Satz gelegentlich steigert. Im zweiten Satz, wo der Mordent nicht mehr zu überhören ist, wirkt die Musik offiziös, es ist aber eine böse Satire.
Besonders wie Petrenko den dritten Satz, das Scherzo, hört, ist schockierend: eine lustige Jagd aus der Perspektive des gejagten, am Ende getöteten Tiers, mit immer wieder eingeblendeten Schüssen; im Trio die Perspektive des Jägers, für den es ein Freizeitvergnügen ist. Nach der neuerlichen Trauer des vierten Satzes kehrt im fünften und letzten der Mordent zurück, nun in der Variante, bei der die nächsthöhere Note die Tonwiederholung unterbricht. Vorsichtige Hoffnung, nicht des gejagten Tiers, aber für die Nachfahren, kennzeichnet diesen Satz.
Beim Berliner Musikfest vor einen paar Wochen saß man als Zuhörer von den Nebenmenschen isoliert, das war eine sehr künstliche und schwer erträgliche Anordnung. Das Zuhören am Bildschirm zu Hause fiel mir leichter. Man fühlt sich dann weniger ausgeliefert.
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