Die visionäre Lücke

Analyse Alain Badious Thesen zu Terroranschlägen und Faschisierung bieten Stoff zum Weiterdenken
Ausgabe 15/2016

Alain Badious Analyse ist sehr klar. Die global agierenden Großkonzerne setzen sich über die mächtigsten Staaten hinweg – das wurde schon häufiger festgestellt. Diese Staaten sind dazu übergegangen, dem Staatszerfall in Gebieten ihrer früheren Kolonialherrschaft tatenlos zuzusehen, wenn sie ihn nicht sogar aktiv betreiben – das konnte man ähnlich bei Herfried Münkler lesen. Badiou aber verknüpft beide Befunde: Kapitalistische Unternehmen können desto besser expandieren, je weniger ein Staat sie reguliert, am besten aber ist es, wenn gar nichts sie behindert. Seit 30 Jahren, seit der Niederlage des Kommunismus, setzen sie sich über alles hinweg.

Was kann man dagegen tun? Badiou weiß, worin das Rezept bestünde: Man müsste von einer Alternative zum Kapitalismus wissen. Aber auch er hat keine griffbereit. Gerade dieser Mangel führt Badiou zum wichtigsten Teil seiner Analyse. Viele Menschen, die im Staatszerfall lebten, flüchteten zu uns, weil sie in den Westen falsche Hoffnungen setzten, sagt Badiou. Gemeinsam mit diesen Menschen sollten wir eine „strategische Vision“ entwickeln.

Tun wir das nicht, würden sie, so Badiou, nihilistisch, und es bestünde die Gefahr, dass manche von ihnen auch „faschistisch“ werden. Der IS ist in seinen Augen eine faschistische Bewegung, keine religiöse. Er beschreibt das Phänomen nicht anders als der Philosoph Jürgen Manemann (siehe Freitag 48/2015), nur dass Manemann es auf Symptome des Kapitalismus zurückführt statt auf diesen selber.

Es gibt einen weiteren Unterschied zwischen Manemann und Badiou: Letzterer spricht nur vom Nihilismus in zerfallenden Staaten, während Manemann ihn noch mehr im saturierten Westen am Werk sieht. Man fragt sich, weshalb sie nicht auch da übereinstimmen; Badiou kennt ja seinen Nietzsche und weiß, dass Nihilismus sich aus dem Fehlen einer Vision ergibt. Nicht einmal er, der Kommunist, verfügt über eine solche – wie dann seine Landsleute?

Das ist eine analytische Schwäche in Badious Vortrag Wider den globalen Kapitalismus, den er zehn Tage nach den Terrorakten von Paris im vergangenen November hielt und der jetzt also als Buch erschienen ist. „Wie können wir uns dem Ganzen verweigern?“ ist die Leitfrage seines Schlusskapitels. Zum „Ganzen“ wird nicht nur die kapitalistische Ökonomie, sondern auch der geschwächte Staat gezählt. Nicht mehr wählen gehen ist Badious erste Empfehlung. Ein Präsident Hollande erscheint ihm als purer Kapitalagent, nicht zuletzt weil er zum Krieg gegen die Faschisten aufgerufen hat. Die faschistischen Jugendlichen sind Opfer des Kapitals, Hollande indes ist der Feind! Was aber, wenn auch der sozialistische Staatspräsident keine Alternative zum Kapitalismus sieht, so wenig wie Badiou?

Mit faschistischen Jugendlichen sprechen ist keine falsche Idee. Die Diskussion hat es auch vor 1933 gegeben. Ernst Bloch und Paul Tillich warnten damals davor, die Berührung zu scheuen. Aber dann muss man genau wissen, was man will. Mit ein paar Worten darüber hinwegzugehen, wie Badiou es tut, ist wohl leider nicht die Lösung. Womöglich kommt nur die Querfront gegen Hollande dabei heraus.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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