Unbeherrschtheit
"Willensschwäche" ist das Schwerpunkt-Thema des ersten Heftes der Deutschen Zeitschrift für Philosophie in diesem Jahr. Die meisten Beiträge gehen auf einen Workshop der Universität Potsdam zurück, das unter dem Titel "Akrasia" stand. In ihm stecken schon alle Schwierigkeiten, mit denen sich die Beiträge herumschlagen. Akrasia ist nämlich das Wort, das gefunden wird, wenn man unsere Vorstellung von "Willensschwäche" auf antike Philosophie zurückzuführen versucht. Und umgekehrt scheint es nahe zu liegen, Akrasia mit "Willensschwäche" wiederzugeben. Es ist aber eine problematische Übersetzung. Denn der wörtliche Sinn von Akrasia ist Unbeherrschtheit.
Nicht, dass die Autoren der Beiträge das nicht wüssten. Aber sie stören sich nicht daran. Sie lassen sich von der Botschaft leiten, die schon im Wort steckt, und fassen demnach Willensschwäche als Unbeherrschtheit auf. Statt dies Quidproquo zu hinterfragen, geht ihr Impuls dahin, das Wertvolle der Unbeherrschtheit hervorzuheben. In der auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Tradition sei sie gescholten worden, doch da Willensschwäche zu den Bedingungen der Entstehung des Neuen gehöre, müsse man sie vielmehr loben. Denn wenn ein einmal gefasster Wille immer stark statt schwach wäre, das heißt unter allen Umständen stur durchgehalten würde, dann könnte es ja niemals zu irgendwelchen Korrekturen kommen. Das ist die Logik der Beiträge.
Kreativität
Sie erinnern an die Debatte, die es vor vierzig Jahren um das Buch von Thomas S. Kuhn über "wissenschaftliche Revolutionen" gab. In einer solchen Revolution, hatte Kuhn argumentiert, entstehe notwendig eine "Rationalitätslücke": Alles, was vorher als wissenschaftlich und somit als rational gegolten habe, nicht nur Theorien, sondern auch Methoden, werde in ihr über Bord geworfen. So im Übergang von der aristotelischen zur galileischen Naturbetrachtung. In den Augen der Aristoteliker war Galileis Forschung irrational, da sie die aristotelischen Maßstäbe - wir können auch sagen die Anweisungen, Befehle, den "Willen" des Aristoteles - teils widerlegte, teils einfach ignorierte. Uns gilt Galilei als der Rationalere, obwohl wir diese Ignoranz nicht bestreiten. Wir begrüßen sie sogar. Begrüßen wir also eine "Rationalitätslücke"? Die Frage wurde damals von vielen bejaht: Im wohlverstandenen Eigeninteresse müsse sich Rationalität hin und wieder unterbrechen lassen, zum Beispiel durch "Kreativität", jedenfalls durch Psychologie.
Dasselbe lesen wir nun unter der Rubrik Willenslücke. Es sei "Teil der Idee des Geistes", schreibt Jonathan Lear in seinem Beitrag Ruhelosigkeit, Phantasie und der Begriff des Geistes, "dass er in der Lage sein muß, zu springen, zu assoziieren", und gleich danach: "Geist muss zumindest die potenzielle Möglichkeit zur Kreativität haben." Das ist wahr, doch erhellender wäre der Hinweis gewesen, dass Geist nicht per se Herrschaft (Krasie) ist. Geist braucht gar nicht zu befehlen, er kann auch fragen und antworten, und dann entsteht keine Lücke weder der Rationalität noch des Willens. Wer seinem eigenen Befehl nicht mehr folgt, ist allerdings "unbeherrscht". Doch wer imstande ist, seine eigene Frage als falsch gestellt zu erkennen und durch eine andere zu ersetzen, hat mehr Rationalität und Willensstärke als andere.
Insistieren
Den herausragenden Beitrag hat Dirk Setton geschrieben: Das Medea-Prinzip. Vom Problem der Akrasia zu einer Theorie des Un-Vermögens. Auch er beschreibt zwar die Willensschwäche, in der sich die neue Rationalität eines neuen Willens ankündigt, mit psychologischen Ausdrücken, doch sind es solche einer philosophischen Psychoanalyse, derjenigen Lacans. In der irrationalen Unterbrechung einer "Ordnung" des Willens, schreibt Setton, "insistiert" etwas Überschüssiges, in ihr nicht Verrechenbares, eine "bloße Kraft ohne Grund. Weil diese Kraft aber insistiert hat", könne sie "als Symptom" angesehen werden. Symptom wovon? "Die Unerklärbarkeit dieser Kraftdimension", so Setton weiter, weist "in letzter Instanz auf die Verantwortlichkeit des Subjekts".
Man kann das so verstehen, dass ein Wille nur so stark sein kann, wie der Charakter, besser gesagt die Individuation des oder der Wollenden es zulässt. "Individuation" ist besser als "Charakter", weil es den falschen Glauben nicht stärkt, als sei die Besonderheit des einzelnen Menschen mit seiner Geburt oder Zeugung schon fertig bestimmt. Nein, sie ist etwas, das beständig von meiner Zukunft her auf mich zurückkommt. Jeder gefasste Wille ist mein Versuch, diese Zukunft zu entdecken und zu beeinflussen. Und wenn ich willensschwach bin, habe ich darin den Kommentar meiner Individuation, ich sei ihr noch nicht hinreichend gerecht geworden. Was darin scheitert, ist nicht meine "Selbstbeherrschung". Vielmehr meine Frage nach mir selbst. Sie scheitert an einem Einspruch - das kann man nicht irrational nennen.
Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Akademieverlag, Heft 1/2009
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