Eisenach am letzten Februarsonntag: Der Gottesdienst in der Georgenkirche wird vom Rundfunk übertragen. Hier hat Martin Luther oft gepredigt, hier wurde Johann Sebastian Bach getauft. Jetzt predigt Propst Werneburg, und was ist seine Botschaft vor so vielen Hörern?
Er hat Anlass, von einer anderen Predigt zu sprechen, die vor und nach seinen Worten erklingt: einer Bach-Kantate. Am Sonntag Invokavit steht Ein feste Burg ist unser Gott auf dem Plan, die Kantate über einen Luther-Choral. Da hat Werneburg Anlass, auch vom Reformator zu sprechen. Eine Predigt, die von einer musikalischen Predigt und von einem anderen Prediger spricht? Das ist aus zwei Gründen sehr angebracht. Erstens werden an diesem Wochenende die Bach-Luther-Ausstellung im Bachhaus und ein interdisziplinäres Symposium Bach als Lutheraner eröffnet. Zweitens spricht Werneburg nur aus, was jeder weiß: Kein Prediger kann heute noch Zuhörer fesseln wie Luther zu seiner Zeit, und keiner hat so viel Überredungskraft wie Bachs Musik.
Bach ist uns noch gegenwärtig – wie kommt das? Sind wir noch solche Subjekte, wie schon er sie kannte, da es seiner Musik gelingt, zu uns zu sprechen?
In der Ausstellung erfährt man erst einmal, wie Bach seinerseits im 18. Jahrhundert das Lutherlied vergegenwärtigt. Und wie Luther seinerseits zwar nicht dieses Lied, aber andere von ihm komponierte Choräle dem Liedschatz der christlichen Antike entnahm. Von Luther als einem Komponisten zu sprechen, ist nicht übertrieben. Er hat auch Motetten komponiert, eine ist in der Ausstellung zu hören. Sie bezeugt seine Orientierung an Josquin Desprez, dem großen zeitgenössischen Vorbild, das ebenfalls zu hören ist.
Etwas nie Dagewesenes
Josquins polyphone Musik für 16 Stimmen ist zweifellos an andere Seelen adressiert, als wir welche haben, aber trotzdem sind diese „Tumulte stürmisch entzückten Gefühls“ der helle Wahnsinn. Im Vergleich damit müssen Luthers Choräle schon damals archaisch geklungen haben, eben weil sie den Tonfall der Antike oder auch des Mittelalters, der Gregorianik, wieder aufleben lassen. Indessen hat schon Luther die antiken Melodien durch eine Art musikalische Übersetzung vergegenwärtigt. Er meinte nämlich, weil die deutsche Sprache anders sei als die lateinische, müsse es auch die Musik sein. Seine Choräle folgen dem Rhythmus der deutschen Worte, die gesungen werden.
Schon er hält die Musik für fähig, zu predigen. Deshalb führt er den Gemeindechoral ein, den es vor der Reformation nicht gab. Die Ausstellung dokumentiert das. Am Anfang entwickeln sich die Dinge sehr spontan. Luthers Choräle werden zuerst auf Flugblätter gedruckt, dann kommt einer auf die Idee, die Blätter zusammenzubinden. Das erste Set von Gemeindegesangbüchern ist entstanden. Hiervon existieren weltweit noch zwei Exemplare, und eins davon zeigt die Ausstellung: das Achtliederbuch mit vier Liedern von Luther. Warum ist Musik für Luther so wichtig? Darüber gibt er selbst Auskunft. Sie beruhigte die Seele, meint er. Wenn das so ist, tut sie dasselbe, was auch die biblische Botschaft erreichen will, nämlich von der Todesangst zu befreien.
Aber hier wird ein geschichtlicher Graben sichtbar, den Luther nicht überbrücken kann. Denn während Musik in der Art Josquins eine Ruhe komponiert, die schon erreicht ist, sind Choräle eine Musik des Kampfes. Des Kampfes um Ruhe, der Ruhe im tobenden Kampf. Lass alles „fahren dahin“, „Gut, Ehr‘, Kind und Weib“, so sagt es drastisch der Choral: „Sie haben‘s kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.“ Bach gelingt es zwei Jahrhunderte später, Ruhe und Angst musikalisch zu integrieren. In seinen Choralkantaten dadurch, dass er Lutherchoräle zitiert. Sie sind Cantus firmus inmitten wogender polyphoner Felder.
Das ist nun eine viel aufregendere Art der Vergegenwärtigung, als sie Luther möglich gewesen war. Denn durchs Zusammenklingen mit der scharf gespannten Dur-moll-Musik der Bachzeit, einem Dualismus, den Luther noch nicht kannte, hört sich ein Lutherchoral ganz anders an, als wenn er unisono gesungen wird. Er ist wie verkleidet. Man kann auch sagen, die umgebende Musik macht seine historische Ferne hörbar und regt dazu an, sich in sie zu versenken.
Außerdem, wenn Bach polyphon komponiert, dann doch nicht wie Josquin, obwohl man sagt, dessen Geist sei in ihm noch lebendig gewesen. Polyphonie im neuen „wohltemperierten“ System, das es Bach erlaubt, in allen Tonarten, auch den entlegensten, zu komponieren und von der einen zur andern leicht überzugehen, ja in kurzer Zeit viele zu durchschreiten, ist etwas vorher nie Dagewesenes. Richard Wagner wird es auf den Punkt bringen: „Ich schreite kaum, doch dünkt es mich schon weit.“ „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ Bach hat den riesigen neuen Hörraum nicht erfunden, ist aber der erste, der dessen Möglichkeiten voll ausschöpft. Diese Musik will nicht mehr die Harmonie der kosmischen Sphären nachbilden. Sie ist im Gegenteil desto gespannter, je mehr sie umherschweift. Wenn man denkt, sie nähere sich einem Ziel, biegt sie nur um die nächste Ecke.
Es geht vorüber
In aller Gespanntheit jedoch vermittelt sie Ruhe, und nicht nur dann, wenn sie Lutherchoräle zitiert. Sie beruhigt ja auch in einer Kantate wie Ich will den Kreuzstab gerne tragen, die auf den Satz „Ich wünsche mir den Tod“ hinausläuft, weil die Welt so grausam schmerzt. Das ist von keinem Luther-trost begleitet, deshalb auch in der Bach-Luther-Ausstellung nicht zu hören, aber wie kommt es, dass gerade diese Musik, die sich der Verzweiflung hingibt, besonders tief beruhigt? Weil man den Tonartenraum, so gespannt er auch ist, als einheitlichen wahrnimmt. Die Welt ist schlimm, aber nicht aus den Fugen. Aus demselben Grund beruhigt in den Choralkantaten nicht nur der zitierte Choral, sondern auch das Tohuwabohu, über dem er schwebt. „Und wenn die Welt voll Teufel wär‘“: Man hört das zwar unaufgelöste, aber in sich völlig konsequente Rätsel heraus. Margot Käßmann würde hier ihren Satz wiederholen, sie könne „nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“.
Dass Bach sich gerade auch hier „als Lutheraner“ erweist, war im Symposium von dem Theologen Jochen Arnold zu lernen. Denn die komponierte Verzweiflung ist nicht nur dem deutschen Elend im Jahrhundert nach dem 30-jährigen Krieg geschuldet. So eine materialistische Erklärung ist nicht falsch, bleibt aber unvollständig, wenn man nicht auch begreift, wodurch Bach die Verzweiflung bändigen konnte. Er besaß eine kleine theologische Bibliothek und las eifrig in ihr, Anstreichungen bezeugen es. Einige Bücher sind in der Ausstellung zu sehen. Er hat Luthers Lehre gut gekannt und so auch den besonderen Ernst, mit dem der Reformator auf den Deus absconditus hinweist. Der „verborgene“, abwesende Gott ist im Unterschied zum geoffenbarten Gott vollkommen unverständlich. Man weiß nicht, weshalb ein Gott der Liebe nicht immerzu eingreift, um die Dinge zum Besseren zu wenden. Doch wer der Bibel glaubt, wird darauf vertrauen, dass die Abwesenheit nicht von Dauer ist. Es ist oft nur der Augenblick, in dem sich Gott vom Zorn über die Sünde überwältigen lässt. Manchmal, wie im Fall Hiobs, führt er uns leider auch in Versuchung. Aber jedenfalls: Es geht vorüber.
Das ist eine fremde Welt für das heutige Bewusstsein. Und doch versteht man, weshalb uns ihre musikalische Repräsentation noch gegenwärtig sein kann. Denn Bachs Trostmethode, ein inneres Kampf- und Schmerzgetümmel dadurch zu relativieren, dass er es in den Raum einer alles umfassenden Einheit stellt, finden wir in uns selber. Freilich ist aus dem erhofften gütigen Gott der bloße eigene Beobachterblick geworden, mit dem ich meinen Qualen kalt zuschaue. Und freilich ist es mir verwehrt, wie Gott aus einer Zukunft, in der die Rätsel der Gegenwart aufgelöst wären, auf mich zurückzublicken. Aber der Effekt ist doch recht ähnlich. In meine Gegenwart zwar eingeschlossen, kann ich eine Reserviertheit meiner bösen Erfahrung gegenüber aufrechterhalten. Dieses Verhältnis ist nichts anderes als die moderne Subjektkonzeption, in der wir immer noch leben und weben, obwohl sie seit einem Jahrhundert der Subjektkritik unter schwerem Beschuss steht. In diesem Jahrhundert hat die Kunst, statt noch Einheit der Welt oder des Subjekts zu unterstellen, eher nach dem Montageprinzip gearbeitet. Wir hinken ihr aber noch hinterher, halten auch gegen sie unsere Reserve aufrecht. Wir können noch Bach hören. Und wenn wir Bach hören, lassen wir uns sogar Luther gefallen.
Die Ausstellung Luther und (Bachs) Musik im Bachhaus Eisenach bleibt bis zum 11. November geöffnet
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