Eisenach am letzten Februarsonntag: Der Gottesdienst in der Georgenkirche wird vom Rundfunk übertragen. Hier hat Martin Luther oft gepredigt, hier wurde Johann Sebastian Bach getauft. Jetzt predigt Propst Werneburg, und was ist seine Botschaft vor so vielen Hörern?
Er hat Anlass, von einer anderen Predigt zu sprechen, die vor und nach seinen Worten erklingt: einer Bach-Kantate. Am Sonntag Invokavit steht Ein feste Burg ist unser Gott auf dem Plan, die Kantate über einen Luther-Choral. Da hat Werneburg Anlass, auch vom Reformator zu sprechen. Eine Predigt, die von einer musikalischen Predigt und von einem anderen Prediger spricht? Das ist aus zwei Gründen sehr angebracht. Erstens werden an diesem Wochenende die Bach-Luther-Ausstellung im Bachhaus und ein interdisziplinäres Symposium Bach als Lutheraner eröffnet. Zweitens spricht Werneburg nur aus, was jeder weiß: Kein Prediger kann heute noch Zuhörer fesseln wie Luther zu seiner Zeit, und keiner hat so viel Überredungskraft wie Bachs Musik.
Bach ist uns noch gegenwärtig – wie kommt das? Sind wir noch solche Subjekte, wie schon er sie kannte, da es seiner Musik gelingt, zu uns zu sprechen?
In der Ausstellung erfährt man erst einmal, wie Bach seinerseits im 18. Jahrhundert das Lutherlied vergegenwärtigt. Und wie Luther seinerseits zwar nicht dieses Lied, aber andere von ihm komponierte Choräle dem Liedschatz der christlichen Antike entnahm. Von Luther als einem Komponisten zu sprechen, ist nicht übertrieben. Er hat auch Motetten komponiert, eine ist in der Ausstellung zu hören. Sie bezeugt seine Orientierung an Josquin Desprez, dem großen zeitgenössischen Vorbild, das ebenfalls zu hören ist.
Etwas nie Dagewesenes
Josquins polyphone Musik für 16 Stimmen ist zweifellos an andere Seelen adressiert, als wir welche haben, aber trotzdem sind diese „Tumulte stürmisch entzückten Gefühls“ der helle Wahnsinn. Im Vergleich damit müssen Luthers Choräle schon damals archaisch geklungen haben, eben weil sie den Tonfall der Antike oder auch des Mittelalters, der Gregorianik, wieder aufleben lassen. Indessen hat schon Luther die antiken Melodien durch eine Art musikalische Übersetzung vergegenwärtigt. Er meinte nämlich, weil die deutsche Sprache anders sei als die lateinische, müsse es auch die Musik sein. Seine Choräle folgen dem Rhythmus der deutschen Worte, die gesungen werden.
Schon er hält die Musik für fähig, zu predigen. Deshalb führt er den Gemeindechoral ein, den es vor der Reformation nicht gab. Die Ausstellung dokumentiert das. Am Anfang entwickeln sich die Dinge sehr spontan. Luthers Choräle werden zuerst auf Flugblätter gedruckt, dann kommt einer auf die Idee, die Blätter zusammenzubinden. Das erste Set von Gemeindegesangbüchern ist entstanden. Hiervon existieren weltweit noch zwei Exemplare, und eins davon zeigt die Ausstellung: das Achtliederbuch mit vier Liedern von Luther. Warum ist Musik für Luther so wichtig? Darüber gibt er selbst Auskunft. Sie beruhigte die Seele, meint er. Wenn das so ist, tut sie dasselbe, was auch die biblische Botschaft erreichen will, nämlich von der Todesangst zu befreien.
Aber hier wird ein geschichtlicher Graben sichtbar, den Luther nicht überbrücken kann. Denn während Musik in der Art Josquins eine Ruhe komponiert, die schon erreicht ist, sind Choräle eine Musik des Kampfes. Des Kampfes um Ruhe, der Ruhe im tobenden Kampf. Lass alles „fahren dahin“, „Gut, Ehr‘, Kind und Weib“, so sagt es drastisch der Choral: „Sie haben‘s kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.“ Bach gelingt es zwei Jahrhunderte später, Ruhe und Angst musikalisch zu integrieren. In seinen Choralkantaten dadurch, dass er Lutherchoräle zitiert. Sie sind Cantus firmus inmitten wogender polyphoner Felder.
Das ist nun eine viel aufregendere Art der Vergegenwärtigung, als sie Luther möglich gewesen war. Denn durchs Zusammenklingen mit der scharf gespannten Dur-moll-Musik der Bachzeit, einem Dualismus, den Luther noch nicht kannte, hört sich ein Lutherchoral ganz anders an, als wenn er unisono gesungen wird. Er ist wie verkleidet. Man kann auch sagen, die umgebende Musik macht seine historische Ferne hörbar und regt dazu an, sich in sie zu versenken.
Außerdem, wenn Bach polyphon komponiert, dann doch nicht wie Josquin, obwohl man sagt, dessen Geist sei in ihm noch lebendig gewesen. Polyphonie im neuen „wohltemperierten“ System, das es Bach erlaubt, in allen Tonarten, auch den entlegensten, zu komponieren und von der einen zur andern leicht überzugehen, ja in kurzer Zeit viele zu durchschreiten, ist etwas vorher nie Dagewesenes. Richard Wagner wird es auf den Punkt bringen: „Ich schreite kaum, doch dünkt es mich schon weit.“ „Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.“ Bach hat den riesigen neuen Hörraum nicht erfunden, ist aber der erste, der dessen Möglichkeiten voll ausschöpft. Diese Musik will nicht mehr die Harmonie der kosmischen Sphären nachbilden. Sie ist im Gegenteil desto gespannter, je mehr sie umherschweift. Wenn man denkt, sie nähere sich einem Ziel, biegt sie nur um die nächste Ecke.
Es geht vorüber
In aller Gespanntheit jedoch vermittelt sie Ruhe, und nicht nur dann, wenn sie Lutherchoräle zitiert. Sie beruhigt ja auch in einer Kantate wie Ich will den Kreuzstab gerne tragen, die auf den Satz „Ich wünsche mir den Tod“ hinausläuft, weil die Welt so grausam schmerzt. Das ist von keinem Luther-trost begleitet, deshalb auch in der Bach-Luther-Ausstellung nicht zu hören, aber wie kommt es, dass gerade diese Musik, die sich der Verzweiflung hingibt, besonders tief beruhigt? Weil man den Tonartenraum, so gespannt er auch ist, als einheitlichen wahrnimmt. Die Welt ist schlimm, aber nicht aus den Fugen. Aus demselben Grund beruhigt in den Choralkantaten nicht nur der zitierte Choral, sondern auch das Tohuwabohu, über dem er schwebt. „Und wenn die Welt voll Teufel wär‘“: Man hört das zwar unaufgelöste, aber in sich völlig konsequente Rätsel heraus. Margot Käßmann würde hier ihren Satz wiederholen, sie könne „nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“.
Dass Bach sich gerade auch hier „als Lutheraner“ erweist, war im Symposium von dem Theologen Jochen Arnold zu lernen. Denn die komponierte Verzweiflung ist nicht nur dem deutschen Elend im Jahrhundert nach dem 30-jährigen Krieg geschuldet. So eine materialistische Erklärung ist nicht falsch, bleibt aber unvollständig, wenn man nicht auch begreift, wodurch Bach die Verzweiflung bändigen konnte. Er besaß eine kleine theologische Bibliothek und las eifrig in ihr, Anstreichungen bezeugen es. Einige Bücher sind in der Ausstellung zu sehen. Er hat Luthers Lehre gut gekannt und so auch den besonderen Ernst, mit dem der Reformator auf den Deus absconditus hinweist. Der „verborgene“, abwesende Gott ist im Unterschied zum geoffenbarten Gott vollkommen unverständlich. Man weiß nicht, weshalb ein Gott der Liebe nicht immerzu eingreift, um die Dinge zum Besseren zu wenden. Doch wer der Bibel glaubt, wird darauf vertrauen, dass die Abwesenheit nicht von Dauer ist. Es ist oft nur der Augenblick, in dem sich Gott vom Zorn über die Sünde überwältigen lässt. Manchmal, wie im Fall Hiobs, führt er uns leider auch in Versuchung. Aber jedenfalls: Es geht vorüber.
Das ist eine fremde Welt für das heutige Bewusstsein. Und doch versteht man, weshalb uns ihre musikalische Repräsentation noch gegenwärtig sein kann. Denn Bachs Trostmethode, ein inneres Kampf- und Schmerzgetümmel dadurch zu relativieren, dass er es in den Raum einer alles umfassenden Einheit stellt, finden wir in uns selber. Freilich ist aus dem erhofften gütigen Gott der bloße eigene Beobachterblick geworden, mit dem ich meinen Qualen kalt zuschaue. Und freilich ist es mir verwehrt, wie Gott aus einer Zukunft, in der die Rätsel der Gegenwart aufgelöst wären, auf mich zurückzublicken. Aber der Effekt ist doch recht ähnlich. In meine Gegenwart zwar eingeschlossen, kann ich eine Reserviertheit meiner bösen Erfahrung gegenüber aufrechterhalten. Dieses Verhältnis ist nichts anderes als die moderne Subjektkonzeption, in der wir immer noch leben und weben, obwohl sie seit einem Jahrhundert der Subjektkritik unter schwerem Beschuss steht. In diesem Jahrhundert hat die Kunst, statt noch Einheit der Welt oder des Subjekts zu unterstellen, eher nach dem Montageprinzip gearbeitet. Wir hinken ihr aber noch hinterher, halten auch gegen sie unsere Reserve aufrecht. Wir können noch Bach hören. Und wenn wir Bach hören, lassen wir uns sogar Luther gefallen.
Die Ausstellung Luther und (Bachs) Musik im Bachhaus Eisenach bleibt bis zum 11. November geöffnet
Kommentare 17
na ja, ich denke, die Entwicklung der Dur-Moll-Tonalität muss nicht notwendig als Fortschritt aufgefasst werden, man kann darin durchaus auch eine Verarmung der musikalischen Sprache erkennen, die sich freilich nicht am Werk Bachs erweist sondern an den fernsten Erben, den Schlagerkomponisten und Volksmusikanten. Der "riesige neue Hörraum" hatte sich schneller erschöpft, als es selbst ein Bach wohl für möglich gehalten hätte; wirkliche Kreativität ermöglichte er für vielleicht 100 Jahre, dann begann das Zeitalter der Wiederholungen, während modale Konzepte, zu denen längst wieder zurückgefunden wurde, bis heute ihre ungebrochene Fruchtbarkeit beweisen.
@Michael Jäger,
der Text hat mir gefallen und mich wieder einmal auf eine Frage/Feststellung zurückgeführt, von der mich interessieren würde, inwiefern diese sich aus dem Gedankengang des Artikels bzw. Bachs Protestantismus heraus weiterdenken liesse.
Was ich an Bachs Musik sehr schätze, ist, dass ich nie das Gefühl habe, mir wird eine Idee oder ein Bild aufgedrängt. Gänzlich anders verhält es sich da oft mit der modernen Popmusik, die doch sehr oft versucht mir einen Ohrwurm ins Ohr zu dreschen, um mich als Konsument zum Kauf eines Hits zu animieren. Und selbst bei Beethoven scheint gelegentlich der Mond oder das Schicksal klopft an die Tür. Bei Bach hingegen stellen sich bei mir selten "romantische" oder andere konkrete Empfindungen ein. Ich würde seine Musik fast als "bildlos" beschreiben. Kann man das nun eher auf seinen Protestantismus beziehen oder liegt das vielleicht daran, dass eine Musik die "ganze Räume" oder Alles umschliesst, eben dann auch nichts Einzelnes "zeigt" oder "be-tont"?
Bei Beethoven ist ja das Programm zumeist nachträglich unterschoben, während gerade Bach extrem bildliche Musik schrieb, voller Gesten und Symbole und ein unaufhörliches Schauspiel. Man merkt es auch beim Spielen an der angemessenen Phrasierung, sobald man einmal darauf zu achten beginnt. Und wenn die Wolken sich im Text türmen, türmen sie sich auch in den Noten, wenn vom Kreuz die Rede ist, findet sich eine absolut bildliche Kreuzfigur, wenn von Seufzen die Rede ist, typische chromatische Seufzer, über den passus duriusculus hinaus. Das gilt genauso für die Instrumentalmusik, auch wenn sie keinen expliziten Text hat. Albert Schweitzer hat das schon vor hundert Jahren in aller Ausführlichkeit herausgearbeitet. Die Choralvorspiele für Orgel deuten den Text teils bis ins einzelne durch musikalische Analogien theologisch aus, von der Trinität bis zu den auf- und abschwebenden Engeln. Plastischer geht es kaum. Das reicht über Buxtehude oder Böhm weit hinaus. Auch empfinde ich die motorischen, sequenzierenden Themen etlicher Orgelfugen oder Violinkonzerte als rechte Ohrwürmer. Insofern wirkt auf mich Ihr Kommentar ein wenig kurios und irgendwie, ja, der romantischen Auffassung von Bach verpflichtet.
Na wenn ich von etwas so gut wie gar keine Ahnung habe, dann ist das Musiktheorie. Ich würde die Musik zu den Künsten zählen, die ich wahrnehme ohne sie im entferntesten zu reflektieren oder ihre Komplexität aufschlüsseln zu können. Ich könnte nicht einmal den banalsten Hit erklären. Trotzdem habe ich Bachs Instrumentalwerke immer als sehr reichhaltig oder eben raumgreifend und weniger verengend empfunden... und damit auch interessant. Falls mein kuriose Unwissenheit also dem/der einen oder anderen einen sinnigen Kommentar entlockt, ist mir das nur recht.
Das eine steht zum anderen nicht notwendigerweise im Widerspruch. Bachs Werke insgesamt sind auch in meinen Ohren, wie Sie schreiben, "sehr reichhaltig oder eben raumgreifend und weniger verengend", wenn man sie etwa mit vielen seiner Zeitgenossen vergleicht. Seine große Kunst bestand darin, sich dabei auch noch mehr als andere "etwas zu denken". Diese Anspielungen und diese Bildsprache sind heute nicht mehr so recht bekannt, ebenso wenig wie die Symbolsprache barocker Lyrik. Lesen Sie einmal das Buch Schweitzers über Bach. Die biographischen Angaben u.ä. entsprechen nicht mehr dem neuesten Stand der Forschung, aber die musikalische Analyse ist nach wie vor außerordentlich lehrreich und erweitert den Horizont. Man muss m.E. nicht einmal Noten lesen können, denn die Notenbeispiele sind so ausgewählt und dargeboten, dass sie sich bereits sozusagen graphisch erklären. Bachs Musik hört man nicht nur, man kann sie parallel auch sehen.
Ist mit dem Buch von Albert Schweitzer über Bach dieses hier gemeint? Das würde ich mir auf jeden Fall einmal merken, obwohl es mit über 700 Seiten schon ziemlich wuchtig ist. Gibt es da auch etwas schmaleres?
ja, genau das, Sie erhalten es m.W. antiquarisch (sogar als gut erhaltene Originalausgabe späterer Auflage) wesentlich günstiger, etwa über ZVAB. Mir ist nicht bekannt, dass S. eine Kurzfassung geschrieben hätte. Am besten, Sie leihen sich das Buch irgendwo oder lesen die entsprechenden Passagen (u.a. Wort und Ton bei Bach, Musikalische Sprache der Choräle, Musikalische Sprache der Kantanten; auf Instrumentalmusik weitgehend übertragbar) online, z.B. hier: archive.org/details/jsbach01schwgoog (allerdings in Frakturschrift). Auch finden sich in einem Wikipedia-Artikel einige wenige Informationen: de.wikipedia.org/wiki/Albert_Schweitzer.
Freundliche Grüße.
Merci.
Lieber Michael,
sosehr ich Deinem Hohen Lied auf Bach, der Luther tonal verfugt, zustimme , so frage ich Dich doch wie alle hier:
"Wer war zuerst da?, wenn ja, war es Luther, war es Bach oder war es die Musik als universal zu allen denkbaren zeiten präsente Sprache in uns daselbst, an die uns allerdings Luther wie Bach in Fugen erinnern?
Wobei es sich wundersam wie konsequnet fügt, dass Bach mit Luthers u. a. Kompositionen, Cantaten den "Omnibus" Versuch gestartet, flächendeckend, einer im Sinnen Trachten dem Glauben an weltlich- geistliche Musik verpflichtet verankerten Musikinstrumentenbauindustrie in deutschen wie euopäischen Landen, gepaart mit den entsprechend musikalischen Bildungsangeboten, darunter die Ausbildung von Kantoren, Gesangs- und Instrumetenlehrern, geistlich wie sprituell Atem einflösend, ins Leben gesellschaftlicher Bildungs- und Kulturwirklichkeit zu rufen, die den ganzen europäischen- amerikanischen Erdkreis kulturell und wirtschaftlich hebt.
tschüss
JP
Was mich an Deinem überaus gelungenen Text fasziniert, ist die Ahnung von einer sich gegenseitig bestimmend sinnstiftenden Einheit aus Kultur, Religion, Musik und Wirtschaft.
Danke!
Sich gegenseitig bestimmend - du hast recht.
@ ich
Für RAJmues Antworten auf Ihre Fragen kann ich mich nur meinerseits bedanken. Dennoch meine ich, daß Sie ein richtiges Gespür haben, wenn Sie Bach so gegen Beethoven setzen, daß Sie sagen, Bach d r ä n g e I h n e n n i c h t s a u f . Bach arbeitet mit Bildern, ja, aber trotzdem drängt er Ihnen nichts auf. Es ist so, daß Bach sich, und damit seine Zuhörer_innen, nicht in die Aktion verwickelt, sondern kontemplativ - sub specie aeternitatis - verbleibt. Der Unterschied zwischen Bach und Beethoven in dieser Hinsicht wird von Gertrud Meyer-Denkmann gut verdeutlicht: Den
„‘gestischen Vorgang‘ in der Musik Bachs beschreibt Albert Schweitzer im Verhältnis zwischen Wort und Ton bei Bach: ‚Was er beim Text in erster Linie sucht ist das Bild oder der Gedanke, der eine bestimmte Plastik des musikalischen Ausdrucks nahelegt.‘ Fern einer Programmmusik etwa bei Kuhnau unterstreicht Bach wohl das charakteristische Detail und bringt Kontraste heraus – aber Albert Schweitzer betont, daß Bach‚ zum Unterschied von Beethoven und Wagner den Gefühlsinhalt nicht als ein dramatisches Geschehen darstellt – Beethoven und Wagner dichten in Musik, Wagner malt [..]. Er schildert nicht das aufeinanderfolgende Geschehen, sondern greift den prägnanten Moment heraus, in dem für ihn das ganze Geschehen liegt und stellt ihn musikalish dar‘, und Schweitzer ergänzt, ‚daß er ganz im Gegensatz zu Wagner sich Handlung und Musik nicht in einem denkt‘.“ (Mehr als nur Töne. Aspekte des Gestischen in neuer Musik und im Musiktheater, Saarbrücken 2003, S. 53; zitiert aus Schweitzers Buch J. S. Bach, Leipzig 1948, S. 436)
In Beethovens Musik, die Sie in Aktion verwickelt, fühlen Sie sich im Z u g z w a n g . In Bachs Musik hngegen sind Sie in der Ewigkeit, da hat es mit allem Zugzwang ein Ende. Diese Ewigkeit ist zwar selbst nichts anderes als das letzte Ende aller Geschehnisse, in denen Zugzwänge nicht ausbleiben; aber sich in sie, die Ewigkeit, das Ende, hineinzuversetzen, kann doch hilfreich sein, g e r a d e für die, die sich in die Akion verwickeln, wie man es ja tun muß, unbedingt tun sollte. Man sagt sich dann: Ich tu was ich kann, und hoffe (vielleicht: „glaube“) an ein gutes Ende. Von diesem her l e b t man. Von diesem her lebte Bach, d e s h a l b betonte er den prägnanten Moment, den „Augenblick“, das n u n c s t a n s als Verdichtung des wogenden Getümmels, mitten in diesem. Und war ruhig: Nichts A u f d r i n g l i c h e s konnte ihn erschüttern.
Ich habe mich verschrieben - es muß heißen: "Beethoven und Wagner dichten in Musik, B a c h [hingegen] malt" usw.
@Michael Jäger
Dem »Zugzwang« enthoben zu sein, das ist ein sehr schöner Gedanke. In der Tat finde ich diese Idee in dem was ich von Bach kenne öfters verwirklicht, als in dem was ich von Beethoven kenne.
Beim lesen des Gedankens sich in sie, die Ewigkeit, das Ende, hineinzuversetzen, kann doch hilfreich sein, g e r a d e für die, die sich in die Akion verwickeln, wie man es ja tun muß kommt mir der Begriff der Transzendenz in den Sinn.
Trotzdem finde ich interessant, das Bach eher das malerische zugeschrieben wird, weil ich ja zunächst vom Gegenteil ausgegangen bin. Aber es soll ja auch Maler geben deren Bilder sich selbst übersteigen - also transzendieren, wobei Bach dieser Trick gelingt, scheinbar ohne den Rahmen zu sprengen.
Sehr geehrter Herr Jäger,
Sie haben schon recht. Beethoven und Brahms gehören einer anderen Zeit an; diese zielt auf das „Innere“ des Individuums, das zum „Außen“ wird. Bach lebte in einer viel stärker sozial geregelten Welt. Das „Äußere“ ist hier ins „Innere“ gewendet, dient der Bewältigung so wie die religiösen Rituale, nicht der Exaltation. Die unterschiedliche emotionale Beladung zeigt sich auch darin, dass man Bach viel weniger auf einem Instrument „totüben“ kann als etwa Beethoven. Spielt man dessen große Klaviersonaten zu oft nicht unter gewollt rein technischem Aspekt unter Absehen vom „Gehalt“, dann werden sie leer. Sogar aus Opus 111 geht dann die Luft heraus. Anders bei Bach. Der ist immer neu. Dass man etliche Bachsche Werke auf dem Computer mit Sinustönen laufen lassen kann und es immer noch Musik ist, liegt nicht einfach daran, dass der spezifische instrumentale Klang noch nicht so wichtig ist wie bei Beethoven oder Brahms. Das Faszinierende an Bach ist die Kunst, etwa bei sequenzierenden Themen rechtzeitig aufzuhören, bevor es öde wird, und dann unter den Optionen des Weiterführens eine solche zu wählen, die überraschend und einen Augenblick später absolut „logisch“, ja zwingend erscheint. Stärker noch als etwa bei Mozart. Andererseits sind etwa die Werke für Tasteninstrumente primär musikalisch und nicht so sehr (außen z.B. in Tokkaten) klavieristisch geleitet, was die Werke deutlich schwerer zu spielen macht. Bei Händel etwa ist viel mehr aus der Bewegung der Hand geschrieben, auch später bei Liszt, aber der kaschiert es sehr gut. Bach gelingt es, sozusagen konkrete, bildliche, gestische, ja barock tänzerische Musik zu schreiben, die zugleich ganz abstrakt selbstzweckhaft erscheint. Und ich glaube, dass gerade das Gestische, ja Motorische uns heute umso mehr berührt, da wir es fühlen, aber zumeist nicht mehr verstehen und daher auch nicht mehr zu „plattifizieren“ geneigt sind. Deshalb auch tritt diese Musik nicht zu nahe an uns heran, sie will nicht eindringen, nicht überwältigen. Sie überlässt dem Zuhörer, auf wie viel er sich einlässt. So wie in einem kontrapunktischen Stück ja auch die Stimmen ihre Rollen spielen und sich respektieren statt verdrängen. Daher auch das nunc stans. Bach ist da wie Jazz, der unaufhörlich variiert statt vorzuspiegeln, ein Thema vollständig zu Ende zu bringen. Und tatsächlich kommt für mein Gefühl der Schluss in etlichen Klavier- oder Orgelfugen Bachs eigentlich überraschend, fast willkürlich, auch wenn das ggf. durch eine virtuose Passage kurz davor kaschiert wird. Es könnte davor immer so weiter gehen. Das ist es wohl, was Sie mit der Abwesenheit des „Zugzwangs“ meinen. Und nach dem Schlussakkord geht es dann womöglich innerlich immer weiter.
Mit freundlichen Grüßen
@ RAJmue
Vielen Dank für Ihre interessanten und wichtigen Gedanken. "Es könnte immer so weiter gehen": Das denke ich besonders beim Konzert für Cembalo und Orchester d-moll. gespielt von Glenn Gould am Klavier, dessen maschinistische Bach-Interpretation ich meistens nicht mag, hier aber holt er phantastisch heraus, daß es b e s o n d e r s hier um E w i g k e i t s -Musik geht (es ist immer welche, aber hier wird es thematisch)- das immer gleiche Rondo-Signal, dazwischen die Variationen, die nur auf das Signal zurückverweisen, aber so was von unerschöpflich sind, daß sie Millionen Jahre so weitergehen könnten. Ja, Bach ist schon der Größte. Haben Sie den Witz gelesen, den Jan Brachmann gestern in der FAZ erzählte? Kommt ein Musiker in den Himmel und denkt, jetzt wird er endlich einmal erfahren, ob Gott lieber Bach oder lieber Mozart hört. Er ist eher erstaunt, als er sieht, wie Gott sich an den "Musikalischen Späßen" von Mozart erfreut. Als Gott die Frage ihm sich auf dem Gesicht abzeichnen sieht, sagt er: "Alter Freund, du fragst dich, warum ich nicht lieber Bach höre? Die Antwort ist - ich b i n Bach."
Bach oder Beethoven, ist die Fragestellung nicht zu kurz gefasst? Kann ich das eine gegen das andere aufwiegen? Also wenn ich von den Wellen eine Ewigkeit getragen werde, erspüre ich Bach, das Wiederkehrende in Harmonie versetzende. Doch gibt ein keine Gewitter, wo ich schnell handeln muss? Ist da nicht ein Beethoven erforderlich, der mich zum Aufbruch drängt? Sehe ich in der Welt nur Harmonie, so dass ich mich von Bach einhüllen lasse, oder ist da mehr? Toben da nicht Stürme die uns vernichten wollen? Ich liebe Bach und das ist für mich eher das Ausgleichende, das Weibliche und ich liebe Beethoven, das ist das Stürmende doch auch in Verbindung mit dem Getragen werden, das Bach deutlicher ünd öfter zeigt. Also lieber Gott, ich bin kein Bach. "Wenn dann schon Beethoven :-)" Schön Dich zu treffen lieber Gott Bach-US! Lenke nur nicht ab damit.