Die Krähen schrei´n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei´n -
Wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!
Friedrich Nietzsche
Warum hat ein Parteitag genau 1001 Delegierte? Bestimmt nicht, damit Kommentatoren auf die Metapher des "Märchens aus 1001 Nacht" verfallen. Denn das würde zwar passen, aber nicht auf wahlsiegfördernde Weise. Angela Merkel ist tatsächlich eine Scheherazade, die sich ihrer Opferung als Kanzlerkandidatin durch Dauer-Erzählen entzieht. Fast zwei Stunden redet sie und zwingt die Parteifreunde, die am Ende mit Ermüdung gekämpft haben, zu neun Minuten standing ovations. Denn was sollten sie machen? Schon vorher hatten Freunde und Gegner darauf hingewiesen, dass der CDU ja gar nichts übrig bleibe, als ein Signal der "Geschlossenheit" auszusenden. Der Beifall ist nicht herzlich, nur höflich. Aber als Merkel den Rivalen Friedrich Merz als bedeutenden Reformer lobt, wird auch er minutenlang gefeiert. Merz, auf dem Podium sitzend, quittiert die nicht endende Rede-Unterbrechung mit distanziertem Lächeln. Merkel selbst muss den Beifall durch Weiterreden stoppen. Sie ist kühl und routiniert, das muss man ihr lassen.
Ihr früheres unbeholfenes Auftreten hat sie vollkommen abgelegt. Ihre Kopf-, Hand- und Armbewegungen "sitzen" jetzt, die Lufthoheit über dem Rednerpult ist errungen. Das ist ein kleines Machtmoment und gerade für sie nicht unwichtig. Früher waren die Parteifreunde zufrieden, wenn ihr Machtinstinkt nur durch Ritzen der weichen weiblichen Schale durchschimmerte. Da hatte die CDU aber auch wegen Kohls Spendenskandals viel tiefer in der Nacht gesteckt als heute. Heute muss Merkel ihre Macht täglich und stündlich selber vorführen. Denn es könnte sein, dass andere aufhören, sie ihr zuzusprechen. So kommt es, dass ihre Spitzen gegen die CSU fast nicht mehr diplomatisch sind. Den mit der Schwesterpartei erzielten Gesundheitskompromiss wertet sie offen als Sieg der CDU, weil er eine "unumkehrbare Weichenstellung" sei. Das heißt, er beschreibt nicht das Ziel der Unionspolitik, sondern nur deren Richtung. Das Ziel bleibt Merkels Kopfprämie pur. Und wenn sie die bayerische Technologiepolitik lobt, fügt sie hinzu: "Ich sage es ganz ehrlich, ich bewundere sie nicht immer, lieber Edmund..."
Aber das sind Gesten, die nur über den Augenblick der Vorsitzenden-Wahl tragen, bei der Merkel mit 88 Prozent ein leidliches Ergebnis erzielt. Längerfristig muss sie mit ihrem strategischen Konzept zur Bundestagswahl überzeugen. Auch da gibt es nun einen Kompromiss mit der CSU; den hat sie viel weniger siegreich bestanden. In ihm geht es um die nationale Frage. Es ist berichtet worden, Merkel und Stoiber hätten sich über die Kanzlerkandidatur schon geeinigt. Das ist gut möglich, weil man die Folgen sieht. Stoiber mag sich gesagt haben, die Bundestagswahl werde Merkel ohnehin nicht gewinnen, also spiele der Inhalt des Gesundheitskompromisses keine so große Rolle, eine größere hingegen die Zustimmung der gesamten CDU einschließlich der Vorsitzenden zu einem nationalistischen Wahlkampf. Dass Merkel sich das Thema nur widerwillig zu eigen macht, sieht man an der Art, wie sie es aufgreift. Sie geht eben nur kompromisslerisch darauf ein. Denn sie hat zwar das Wort Deutschland ihrem Wortschatz einverleibt, spricht aber so offensichtlich stattdessen von Europa, dass man an der Wählerwirksamkeit eines solchen Diskurses - wenn er nur von ihr abhinge - eher zweifeln müsste.
Woran sie anknüpfen will, ist ein "durch die Aufklärung geprägtes" und sogar "christlich-jüdisches" Erbe, eine Formulierung, die nun wirklich nicht taugt, Luther und Fichte, Hitler und Wilhelm II. von den übrigen, nichtdeutschen Europäern überzeugend abzuheben. Im Parteitagsbeschluss "Integration fordern, Islamismus bekämpfen!", den Merkel mitformuliert hat, heißt es sogar, "Grundlage des Zusammenlebens der Menschen in Deutschland" müsse die "Wertordnung unserer abendländischen Kultur" sein, "die maßgeblich von Christentum und Judentum, von antiker Philosophie und Humanismus, von römischem Recht und vom Gedankengut der Aufklärung geprägt wurde". Man versucht also Deutschland zu sagen und die EU zu meinen. Der Antrag und Merkels Rede sprechen deshalb auch nicht mehr von einer deutschen, sondern von der "freiheitlich-demokratischen" Leitkultur. Aber was ist das alles, wenn nicht pure Parteitagslyrik? Der Antrag gibt es schon in der Überschrift zu erkennen, die den Islamismus als neuen innerdeutschen Zentralfeind aufbaut.
Wenn man liest, dass es um "Integrationskurse" geht, an deren "erfolgreiche" Teilnahme künftig die Vergabe von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, von Ansprüchen nicht nur auf berufliche Fortbildungsmaßnahmen, sondern überhaupt auf soziale Transferleistungen gebunden sein soll, dann sieht man, wer unter dem Namen "Islamismus" wirklich gehetzt wird: die hier lebenden Türken. "Wir erwarten", heißt es, "von Zuwanderern, die in Deutschland leben wollen, dass sie sich kritisch mit ihren eigenen kulturellen Traditionen auseinander setzen und sich für neue, aufgeklärte Sichtweisen öffnen." Es wäre schön, wenn die Deutschen selber der Erwartung entsprächen, zum Beispiel der brandenburgische CDU-Vorsitzende Schönbohm. Die SPD sei nicht für die deutsche Einheit gewesen, keift er und räumt mit Merkels europäischen Übungen auf: "Ein Volk, ein Staat, eine Nation!" Der Spruch kommt einem irgendwie bekannt vor. Jürgen Trittin, schimpft Schönbohm weiter, schreibe auf seinen Briefkopf "Bundestag" statt "Deutscher Bundestag". Das dürfe man sich nicht bieten lassen! Merkel selbst findet nichts dabei, als "wichtig für unsere Identität" auch den Bau des "Zentrums für Vertriebene" hervorzuheben, den die "liebe Erika Steinbach" fordert.
Die Früchte von all dem werden andere pflücken. Denn letztlich kommt nicht nur Merkels Nationalismus zu gequält daher, dasselbe gilt für den Nationalismus der ganzen Union. Die Vorsitzende spricht für alle Parteifreunde, wenn sie erklärt, was die Menschen, so wörtlich, "wollen müssen", damit der Unternehmer-Standort Deutschland wieder einen europäischen Spitzenplatz einnimmt. Es geht um einen Leistungs-Patriotismus, bei dem schwerlich viel Stimmung aufkommen kann. Damit die Menschen, was sie müssen, auch können, sollen sie sich in Heimatliebe üben. Dann fällt es leichter, Kapitalflucht durch Lohnverzicht zu bekämpfen. Merkel und andere Redner ergehen sich in Verzicht-Beispielen, greifen die Gewerkschaft an - solchen Deutschland-Scherzen wird nur eins gelingen: der NPD das Tor aufzustoßen.
Norbert Blüm ist überhaupt nicht gealtert seit der Zeit, als er das von Gerhard Schröder zerschlagene Bundesarbeitsministerium führte. Mitten in der Märchenwelt aus 1001 Nacht wird er ans Rednerpult gelassen, vielleicht weil die Regisseure glauben, er sei genauso feige wie sie selber, und rechnet gnadenlos mit der "Ausbeutung" ab, die seine Partei dem Land zumute. Auch wenn man sich noch so sehr erniedrige, mit dem Billiglohn in Bangladesch werde man nie konkurrieren können. Aber die Menschen sähen die Gewinnexplosion und Selbstbereicherung der global players. Eine "Zugvogelgesellschaft" einzurichten und dann Heimatgefühle zu erwarten, sei lächerlich. Die Menschen hätten Angst. Niemand solle glauben, sie würden sich den Gang der Dinge einfach gefallen lassen. Blüm spricht und spricht, wird ermahnt und sagt: "Meine Zeit ist noch lange nicht abgelaufen." Er ist fröhlich. Er braucht ja nicht zu lügen. Angela Merkel, die vom Podium aus zuhören muss, guckt jetzt wie das kleine Trotzköpfchen, das sich geweigert hat, die Handschuhe anzuziehen: Geschieht meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Finger abfriere!
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