Dirigenten der Anpassung

Mindestlohndebatte Die SPD laviert zwischen Union und Gewerkschaften

Es ist eine Frage wert, warum SPD und Union über den Mindestlohn überhaupt streiten. Denn letztere stellt immer wieder klar, daß sie keinen zulassen wird. Was nützt uns dann Franz Münteferings Ankündigung, in der zweiten Aprilhälfte werde man koalitionsintern zur Einigung streben? Eine erste Antwort lässt sich gerade wegen des Unionswiderstands leicht geben: In der Mindestlohndebatte findet die SPD das Mittel, sich gegen den Koalitionspartner zu profilieren. Hat sie es doch schwer genug, den Eindruck zu vermeiden, sie sei nicht viel mehr - handle es sich um Tornado-Einsätze, Unternehmenssteuerreform oder die Rente mit 67 - als der linke Flügel einer in allen Hauptsachen christdemokratischen Gesamtregierungspartei. Diesen Zustand hatte Ex-Bundeskanzler Schröder herbeigeführt. Noch im Abgang war es ihm gelungen, seine Partei auf die Fortsetzung der sozialdemokratischen Selbstaufgabe einzuschwören, die unter seiner Führung entstand.

Die Union für den Mindestlohn zu begeistern, konnte man sich schwerlich vornehmen, wohl aber, den Gewerkschaften das Gefühl eines Bündnisses, einer gemeinsamen Front zu vermitteln. Diese machen sich über die SPD längst keine Illusionen mehr, doch warum sollen sie nicht mitspielen? Es schadet ihnen nicht, wie es der SPD nicht nützt. Jürgen Peters von der IG Metall und andere Gewerkschaftsführer werden sich ins Fäustchen gelacht haben, als die SPD-Führung just 24 Stunden nach dem Dortmunder Doppelparteitag von WASG und Linkspartei die Unterzeichnung eines Mindestlohnaufrufs von ihnen erbat. Daran, dass nur noch 19 Prozent der Bevölkerung im Parteivorsitzenden Beck einen passablen Kanzlerkandidaten sehen, ändert das gar nichts. Eine Regierungspartei, die ihre Politik nicht umsetzt, sondern Unterschriften für sie sammelt - die Grünen unter Schröder haben sich so etwas nicht getraut, die SPD unter Merkel ist gewissermaßen mutiger ... Doch inzwischen haben auch Klaus Ernst, Gysi, Bisky, Lafontaine den Aufruf unterschrieben; sie wollen ihn als Antrag im Bundestag einbringen, und die SPD-Fraktion wird ihn nicht wiedererkennen dürfen, wird ihn ablehnen müssen.

Der Aufruf stellt fest, dass nur 68 Prozent der westdeutschen, nur 53 Prozent der ostdeutschen Beschäftigten die tariflich vereinbarten Löhne erhalten. Über zweieinhalb Millionen Vollzeitbeschäftigte arbeiten für Armutslöhne. Schon in vielen Ländern gebe es Mindestlöhne, "auch in Deutschland ist es höchste Zeit". Das ist wohl wahr: England, die USA, Frankreich, Spanien und andere Länder operieren mit diesem Instrument. Aber was sind solche Hinweise, was ist der ganze Aufruf wert? Er ist ziemlich unentschieden formuliert. "Mindestlöhne" sind kein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn, den Beck und Müntefering auch tatsächlich nicht anstreben. Nach ihrer Vorstellung sollen "flächendeckende Mindestlöhne" in Tarifverträgen vereinbart und dann erst vom Gesetzgeber für allgemeinverbindlich erklärt werden. So gibt es längst einen Mindestlohn in der Baubranche, und das Entsendegesetz schreibt vor, dass er auch für ausländische Mitarbeiter gilt. Vor einem Monat beschloss der Bundestag die Ausweitung des Gesetzes auf die Gebäudereiniger. Die Entsorgungswirtschaft wird folgen. Auch die Maler und die Deckdecker haben Mindestlöhne tariflich vereinbart. Die SPD-Führung fordert nur, was ohnehin geschieht. Ein Gesetz, das fürs ganze Land gilt, sähe anders aus.

Außerdem: Wie hoch soll der Mindestlohn denn sein? Die Gewerkschaften fordern 7,50 Euro. Beck sagt: Er müsse "ohne Frage deutlich höher sein" als drei Euro. Eine Kommission soll eine Höhe in der Größenordnung vergleichbarer Länder herausfinden. Da nähern wir uns der zweiten Antwort auf die Frage, was Münteferings Hinweis auf die vielleicht bevorstehende koalitionsinterne Einigung bedeuten könnte. Denn es ist denkbar, dass jene "Kommission" längst arbeitet. Bereits im Februar wurde gemeldet, Fachpolitiker von Union und SPD strebten eine Untergrenze von sechs Euro an. Sechs Euro liegen "ohne Frage deutlich höher" als drei Euro. Dasselbe kann man von fünf Euro sagen: Peter Struck, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, findet es "unmöglich, dass in Deutschland sogar tarifvertraglich vereinbarte Löhne von unter fünf Euro festgelegt worden sind". Man kann es auch von 4,50 Euro sagen. Das ist der Betrag, den Bert Rürup nannte, der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Er weist darauf hin, dass es etwas wie einen impliziten gesetzlichen Mindestlohn längst gibt, weil jeder, dem für seine Arbeit nur drei Euro angeboten werden, es vorziehen wird, Hartz IV-Empfänger zu werden: Die Höhe des "Arbeitslosengelds II" entspricht einem Mindestlohn, der bei 4,50 Euro liegen würde.

Wer weiß, ob sich nicht die Vorgeschichte der Hartz IV-Reform wiederholt, wenn sich die Koalitionsspitzen über eine Mindestlohnhöhe einigen sollten. Damals war eine Koalition angetreten, die sich die Grundsicherung für alle, eine Art Grundeinkommen, ein Bürgergeld auf die Fahne geschrieben hatte. Umgesetzt wurde die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau. Und die Politiker kommentierten: Es sei doch nun wenigstens ein erster Schritt zum Grundeinkommen getan. So könnte man jetzt wieder verfahren: Fünf Euro Mindestlohn sind nicht viel, aber man musste sich mit der Union einigen; fünf Euro sind mehr als 4,50 Euro, also ist doch ein Anfang gemacht... Auch die Vorgeschichte der jüngsten Gesundheitsreform würde grüßen lassen. Denn wie sich dort die SPD bereit fand, der Union einen ersten Schritt zur Kopfprämie zu erlauben, wäre hier faktisch das Kombilohnmodell, der Niedriglohnsektor der Union auf den Weg gebracht: Fünf Euro, und der Staat zahlt drauf.

Die SPD unter ihrer jetzigen Führung wird entweder einer solchen Regelung zustimmen müssen, oder ihr Mindestlohnaufruf bleibt geduldiges Papier zur Wählerberuhigung. Die Wähler freilich werden zunehmend ungeduldig. Wie lange wird sich die SPD noch von Gerhard Schröders Ersatzmännern dirigieren lassen? Wen will sie als Kanzlerkandidaten aufstellen, da Beck offenbar nicht mehr in Frage kommt? Hinter allem steht das falsche Konzept, jeder Unternehmerwunsch müsse erfüllt werden, weil "die Globalisierung" es vorschreibe - das Konzept der Union. Denn die Unternehmer sind gegen jeden Mindestlohn. Sie sagen, er würde sie zur Arbeitsplatzverlagerung ins Ausland zwingen. Früher oder später wird die SPD aufhören müssen, darauf nur mit Anpassung zu reagieren.


Die besten Blätter für den Herbst

Lesen Sie den Freitag und den neuen Roman "Eigentum" von Wolf Haas

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Wissen, wie sich die Welt verändert. Abonnieren Sie den Freitag jetzt zum Probepreis und erhalten Sie den Roman “Eigentum” von Bestseller-Autor Wolf Haas als Geschenk dazu.

Gedruckt

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt sichern

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden