Dona nobis pacem

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Seit einem knappen Jahrhundert wollen sich viele Menschen, die eigentlich kunstempfänglich sind, nicht mehr anhören, was die aktuelle Musik ihnen zurückspiegelt. Das ist auch jetzt in Berlin zu besichtigen. Die Philharmonie wäre brechend voll, wenn irgendwas zwischen Mozart und Mahler gespielt würde, Festwochen aber, in deren Mittelpunkt Boulez und Berio stehen, sind immer noch ein Risiko. Das Eröffnungskonzert am vorigen Freitag war ziemlich ausverkauft, wohl wegen des Ereignisses und vielleicht weil die große Bratschistin Tabea Zimmermann mitwirkte, zudem noch an einen Stück von Berlioz. Am Samstag dann gähnende Leere in vielen Rängen, als "nur" Boulez und Alban Berg zu hören waren.

Gestern war der Saal besser gefüllt, aber keineswegs voll. Und das fand ich besonders interessant, denn zwar stand wieder Berio auf dem Programm, daneben aber doch zwei "tonale", wenn auch sehr dissonante Werke, die Passacaglia von Anton Webern (sein op. 1) und die 3. Sinfonie von Prokofjew. Die sind so gewichtig, man könnte sie so gut verstehen und doch locken sie nicht viele herbei. Was lernen wir daraus: Es liegt vielleicht gar nicht an den Avantgardismen der Musiksprache im 20. Jahrhundert, Zwölftontechnik, Serialismus und so weiter, dass größere Teile des Publikums sich verweigern, sondern - an der Botschaft.

"Passacaglia" ist die aus dem Barockzeitalter überkommene Form, dass sich über einem ostinaten Bass, also einer tragenden Tonreihenfolge, die ständig wiederholt wird, nacheinander wechselnde Gestalten von Oberstimmen aufbauen. Wenn Webern zu dieser Form griff, dann weil es wenige Jahrzehnte zuvor Johannes Brahms getan hatte, im Schlusssatz der 4. Sinfonie. Brahms, das hört man sich an und strömt in die Säle. Aber wahrscheinlich würde man da schon wegbleiben, wenn man die Botschaft verstünde. Clara Schumann und andere ihm nahestehende Menschen waren nach der Uraufführung tief erschrocken. Dieser Brahms-Satz ist ein einziges Schluss! Aus! Vorbei! - es ist gar nicht zu überhören. Und da wird nicht vorgespiegelt, etwas sei erreicht worden, das Ende stelle sich als Vollendung dar. Nein, da wird nur vollstreckt, auf formalste Weise, besonders auf dem Höhepunkt mit der Doppelschlag-Figur.

Webern mag sich gesagt haben: Wenn sie es bei Brahms nicht hören wollten, ich mache es unüberhörbar. Seine Passacaglia führt den schrecklichen Höhepunkt gleich am Anfang herbei, lässt dann etwas Ruhe und Besinnung folgen, der Zeit vergleichbar, in der sich König Lear gerettet wähnt, und zuletzt wird's noch schrecklicher. An die Stelle der Brahmsschen sich steigernder Doppelschläge, die noch irgendwie zur Melodie verbunden sind, tritt bei Webern die Serie nackter Schlusspunkte, die das Schlagzeug herausbrüllt. Aber was soll's, man hört es sich eben nicht an. Man will nicht verstehen, was man hört, und will nicht hören, was man versteht.

Es liegt mir fern, schlechte Stimmung verbreiten zu wollen. Ich finde es im Gegenteil erleichternd, dass Musik sie aufgreift und klärt, statt den grinsenden Idolen der Werbeflächen noch mehr seichten Frohsinn hinzuzufügen. Im 20. Jahrhundert war genug Anlass nicht bloß zur Misslaunigkeit, sondern zur nackten Angst, und ob es wirklich zuende ist, nur weil wir bis 21 zählen können, ist noch sehr fraglich. Nein, das Leben, das die Angst verdrängt, ist bestimmt nicht das entspannteste.

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Ein Werk wie die 3. Sinfonie von Prokofjew müsste wegen seines Rangs immer wieder aufgeführt werden, doch obwohl es dissonant-tonal komponiert ist und man die überlieferte sinfonische Form gut erkennt, ist es selber fast unbekannt. Dem Komponisten gelang mit Mühe, die Sinfonie in der Sowjetunion aufführen zu lassen, wo sie aber gar nicht gut ankam. Jahre zuvor hatte er den musikalischen Stoff in einer Oper verarbeitet. Der feurige Engel: Acht Jahre arbeitete er daran, doch die von Bruno Walter geplante Uraufführung an der Berliner Städtischen Oper kam nicht zustande. Die Handlung, nach einem Roman des Symbolisten Waleri Brjussow, fasst das Programmheft so zusammen: Sie "spielt in einem mystisch dunklen Mittelalter und schildert, sehr kurz gesagt, den Kampf zwischen Wissenschaft und schwarzer Magie, in den der Ritter Ruprecht gerät. Er verfällt Renata, die sich vom Teufel, ihrem feurigen Engel, besessen wähnt".

Nach dem Scheitern des Opernplans transponierte Prokofjew seine Idee ins Sinfonische, wie gesagt mit ebenso wenig Erfolg. Man kann aber deshalb Opernszenen und Sinfoniesätze einander zuordnen. Der erste Satz schildert Renatas grauenhaftes Erschrecken, als ihr der feurige Engel erscheint. Im zweiten hat sie sich ins Kloster zurückgezogen und will zur Ruhe kommen. Im dritten versuchen sich Renata und Ruprecht an schwarzer Magie. Im vierten erscheint als "unheimliche Nebenfigur", so das Programmheft (ich muss so sprechen, weil ich die Oper nicht kenne), der Zauberer Agrippa von Nettelsheim. Als er um eine Aufführung in der Sowjetunion kämpfte, hat Prokofjew darauf hingewiesen, dass die musikalischen Ideen nicht aus dem Opernstoff stammen, sondern mit ihm nur bebildert worden waren. Die Grundlagen der Komposition habe er vor der Befassung mit der Oper gelegt. Die Zuständigen in der Sowjetunion nahmen ihm das nicht ab, und sie verabscheuten den Roman von Brjussow. Ich denke aber, es ist glaubhaft.

Denn man hört gut, der "feurige Engel", wie immer schrecklich man ihn sich vorstellt, ist kein hinreichendes Bild für das musikalische Thema, um das sich die Sinfonie dreht. Lassen wir den Opernstoff beiseite, hören wir nur die 1928 komponierte Sinfonie: Das Schreckliche fällt mit dem ersten Takt ins Haus, es ist eine sich schrill monoton hin- und herbewegende Figur, etwas wie eine Kreissäge, die sich ins Brett frisst, umgeben von schwarzem Schein, ein automatisches Subjekt, das gerade die Allmacht ergreift oder dessen Allmacht man gerade bemerkt. Dieses Thema ist schnell vorgestellt, so dass nach wenigen Takten das zweite folgen kann, das nicht automatisch sondern menschlich subjektiv erscheint; es versucht der Vorgabe mit Reflexion zu antworten. Dem Dirigenten des Abends, Vladimir Jurowski, der das London Philharmonia Orchestra leitete, ist zu danken, dass der traditionelle Charakter des Verhältnisses von erstem und zweitem Thema recht deutlich, so aber die ganze Sinfonie erst verständlich wurde. Er setzte nämlich mit dem zweiten Thema neu an, indem er das Tempo etwas zurücknahm. Vielleicht ließ er es nicht entsetzt genug klingen angesichts des eben erlebten Terrors, aber jedenfalls begriff man ein für alle mal die Konstellation: Das menschliche Subjekt ringt mit dem automatischen, die ganze Sinfonie über, immer in Gestalt dieser beiden Themen, so stark sie auch variiert werden.

Und wie geht der Kampf aus? Gar nicht einmal ohne jede Hoffnung. Obwohl es dem Pianisten Svjatoslaw Richter so vorkam, als er die Sinfonie 1939 hörte. Er empfand den letzten Satz als "Weltuntergang", "grandiose Massen türmen sich auf und stürzen zusammen". Ja, aber da hat Prokofjew schon die Perspektive gewechselt. Die ersten drei Sätze sind in der Perspektive des menschlichen Subjekts geschrieben. Renata sucht sich mit dem Feind erst abzufinden, dann ihm zu entkommen, schließlich mit ihm zu kollaborieren. Alles scheitert. Im letzten Satz hört man das automatische Subjekt selbst reden. Es schleppt seine ganze Macht wie einen dicken Bauch mit sich herum. In der Tat stürzt es zusammen. Gott sei Dank, und wenn wir Glück haben und etwas dafür tun, reißt es uns in sein Ende nicht mit hinein.

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Stanze für Bariton, drei Männerchöre und Orchester ist Berios letztes vollendetes Werk. Der Mann, der 2010 wie Boulez 85 Jahre alt geworden wäre, verabschiedet sich 2003 mit einer Komposition über Auschwitz. So sieht er unsere Welt. Es ist die Vertonung von fünf Gedichten, das erste ein deutsches von Paul Celan, das letzte ein aus dem Hebräischen ins Deutsche übersetztes von Dan Pagis. Tenebrae ist das Gedicht, in dem Celan Gott auffordert, zu den Menschen zu beten, denn "wir sind nah", "nahe und greifbar". "Gegriffen schon, Herr, / ineinander verkrallt, als wär / der Leib eines jeden von uns / dein Leib, Herr." Das Gedicht von Dan Pagis beschwört ein Jüngstes Gericht, das keine Gnade erwarten lässt: "Langsam / von jenseits der Linie des Schreckens her / werden sie kommen, / Reihe für Reihe / und von Entsetzen geschlagen / mit aufgerissenen Mündern schweigen". Das sind die Eckdaten, zwischen denen Hoffnung kaum keimen kann. Berio lässt es aber nicht unversucht. Das mittlere Gedicht von Edoardo Sanguineti verortet Gott traditionell in den Naturerscheinungen, als ob es ihn trotz allem immer noch gäbe, und verortet es im Wiehern des Pferdes, so dass man nicht anders kann, als an Picassos Guernica zu denken. Das vierte Gedicht ist ein satirisches von Alfred Brendel: Der Pianist wirft die Frage auf, ob Gott in der "Trisch-Tratsch-Polka" von Johann Strauss stecken könnte. In der Musik also!

Musikalisch gesehen ist die Behandlung des zweiten Gedichts, von Giorgio Caproni, am interessantesten. Vordergründig mag man es für besonders depressiv halten, und es kleidet sich auch noch in Zynismus. Gott wird als Mitreisender vorgestellt, der sich mit lockeren Worten verabschiedet. Nachdem er sich für die "Unruhe" entschuldigt hat, die er hinterlässt, sagt er "Addio", "Bin angekommen". Doch Berio, wie ich seine Musik höre, stellt die Szene auf den Kopf. Dadurch, dass Gott als einzelner Sänger einem Chor gegenübersteht, wird sie zur veränderten Wiederholung zweier anderer Wechselgesänge, die ebenfalls das Gespräch zwischen Mensch und Gott als Gespräch zwischen Solist und Chor gestalten: Der Szene in Schönbergs Moses und Aron, wo Moses den brennenden Dornbursch sieht und mit Gott über den Auftrag diskutiert, den er erhält, und der Szene in Messiaens Franz von Assisi, wo dieser die Wundmale erhält und Gott ihm erklärt, dies sei das höchste Mysterium der Liebe. In diese Reihe gefädelt, wird Berios Bariton zur zwielichtigen Gestalt. Ist er denn wirklich der Gott? Nach traditioneller Struktur müsste vielmehr der Chor es sein, der den sich davonstehlenden Mitreisenden kritisiert und aus seiner Bitte, man möge ihm vergeben, "perdonnare", nur das "donna" heraushört und wütend zurückschleudert. Dona nobis pacem.

Gott ist gewiss kein bürgerlich apartes Individuum, sondern ein Chor der ganzen Geschichte. Wenn eine Gestalt, in der er ist, sich verabschiedet, dann verabschiedet er selbst sich von der Gestalt. Dann geht es nur so weiter, dass er sich neu konstruiert als neuer Chor. Zu dem führt aber kein Automatismus. Als Berio starb, sah er nur den Chor, der um Frieden schrie, nicht den, der Anstalten machte, ihn zu geben.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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