Drehbücher zum Corona-Diskurs

Pandemie Covid-19 kam nicht für alle überraschend – Paul Schreyer erinnert daran

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Die Corona-Krise oder etwas, das ihr sehr ähnlich sah, ist erwartet worden, und mehr noch, die internationale Politik hat sich mit sehr viel Aufwand darauf vorbereitet. Paul Schreyer hat diese Vorbereitung minutiös rekonstruiert. Sie war niemals geheim, aber erst Schreyer hat die Einzelheiten zum Bild zusammengefügt. Das bleibt sein großes Verdienst (Chronik einer angekündigten Krise. Wie ein Virus die Welt verändern konnte, Frankfurt/Main 2020), auch wenn seine Interpretation manchmal eher fragwürdig ist und hier nur am Rand kommentiert werden soll. Springen wir mitten hinein in die „Übungen“, die es gegeben hat: „Atlantic Storm“, zweifellos ihr Höhepunkt, wurde im Januar 2005 in einem Washingtoner Hotel abgehalten. Laut Drehbuch waren die Staatschefs der wichtigsten Länder des Westens, ergänzt durch die Chefs der WHO und der EU-Kommission, gerade zu einem „transatlantischen Sicherheitsgipfel“ versammelt, als sie von einem Pockenausbruch erfuhren.

Elf Mitspieler und über hundert Beobachter sind anwesend, darunter welche von FAZ und ZEIT, Vertreter von zwei Impfstoff-Herstellern, der damalige deutsche Botschafter und der Leiter des Zentrums für Biologische Sicherheit im Robert-Koch-Institut (RKI), Walter Biederbick, der zuvor als Bundeswehroffizier bei der NATO-Einsatzplanung tätig gewesen ist. Biederbick forschte später am RKI zur Krisenkommunikation im Pandemiefall. Anders Tegnell: Der heutige schwedische Chefepidemiologe ist schon vor der Übung Projektleiter bei der Entwicklung eines Pandiemieplans für Schweden gewesen. Das erklärt vielleicht, dass ihn die Beobachterrolle in Washington 2005 nicht entscheidend prägte. Die Pockenausbrüche erweisen sich laut Drehbuch als Ergebnis verdeckter Angriffe von Biowaffen-Terroristen auf Verkehrsknotenpunkte und Handelszentren in sechs Weltstädten. Im ausgeführten Spiel geht es um überlastete Krankenhäuser mit vielen Pandemie-Toten, Falschinformationen, ausbrechende Unruhen, die Kommunikationspolitik der Regierung und die Frage, mit wie viel Freiheitsbeschränkung sie reagieren muss.

Als Höhepunkt in einer Kette von Übungen, deren letzte im Oktober 2019 abgehalten wurde, kann „Atlantic Storm“ deshalb gelten, weil die Rollen hochrangig besetzt waren. So spielte Gro Harlem Brundtland die WHO-Chefin – sie war es kurz zuvor im realen Leben gewesen –, Madeleine Albright, die frühere US-Außenministerin, war US-Präsidentin und Werner Hoyer (FDP), ehemals Staatsminister im Auswärtigen Amt, war Bundeskanzler. Veranstalter der Übung war wie immer das Center for Health Security der John-Hopkins-Universität, das damals noch Center for Biosecurity hieß. Es war 1998 als Center for Civilian Biodefense Studies gegründet, 2003 aber umbenannt worden. Seinen heutigen Namen trägt es seit 2013. Die ursprünglichen Namen zeigen an, was der Gegenstand seiner Forschung ist: sowohl die von Biowaffen als auch die von Seuchen ausgehenden Gefahren. Dass sich an dieser Konstellation bis heute nichts geändert hat, und nicht nur in den USA, zeigt die Gründung einer neuen Abteilung „Gesundheitssicherheit“ im Bundesgesundheitsministerium. Ende 2019 geplant, wurde sie Anfang 2020 von Gesundheitsminister Jens Spahn eröffnet und unter die Leitung des Bundeswehrgenerals Hans-Ulrich Holtherm gestellt, „der zuvor eine neu gegründete NATO-Behörde geführt hatte, wo es um ‚frühzeitige Detektion von infektiösen Krankheitsausbrüchen in nahezu Echtzeit‘ ging‘“. In seiner Offiziersuniform leitet er heute den Corona-Krisenstab.

Die Verwicklung von Pandemie und Biowaffen-Terrorismus ist der springende Punkt. Mit dem Ende der Sowjetunion und ihres Lagers war die NATO unter US-amerikanischer Führung zur weitaus stärksten Militärmacht geworden. Indem sie sich von der Aufsicht der UNO befreite, gedachte sie ihre Macht noch zu steigern. Zum Angriff auf Serbien 1999 ermächtigte sie sich selbst, nachdem ihrem Krieg gegen den Irak 1991 noch ein UNO-Mandat zugrunde gelegen hatte. Doch musste sie im Lauf dieser Jahre lernen, dass sie nur im Kampf gegen Staaten übermächtig geworden war. Auf den neuen islamistischen Terror, den sie selbst in Afghanistan herangezüchtet hatte, war sie nicht vorbereitet. Schon im Februar 1993 wurden sieben Stockwerke des World Trade Centers in New York bei einem islamistischen Bombenanschlag schwer beschädigt. Bei einem weiteren Bombenanschlag, diesmal auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City, gab es im April 1995 168 Tote und 700 Verletzte. Nun begannen sich die USA für den „Krieg gegen den Terror“ zu rüsten, auch wenn dessen Proklamation erst am 20. September 2001, elf Tage nach dem zweiten Angriff auf die Twin Towers, durch US-Präsident George W. Bush erfolgte. Auf den Anschlag 1995 reagierte der damalige US-Präsident Bill Clinton mit einer Antiterror-Sonderdirektive, die vom FBI, der CIA und den wichtigsten Ministerien die jährliche Vorlage eines gemeinsamen „Antiterrorismus-Bereitschaftsplans“ verlangte.

Was man zu befürchten begann, zeigt ein Artikel, verfasst von einem Ex-Chef der CIA und einem Ex-Staatssekretär im Pentagon, der 1997 in der Los Angeles Times erschien: Wenn bei den Anschlägen 1993 und ’95 nukleare, biologische oder chemische Stoffe im Spiel gewesen wären, wäre alles noch viel schlimmer gewesen, schrieben sie, dass dies aber „in der Zukunft der Fall sein wird, halten wir für immer wahrscheinlicher, nachdem wir ein Jahr lang für die Regierung eine Untersuchung geleitet haben“. Schon 1995 war in einem Strategiepapier zu lesen gewesen, das Potential von Biowaffen, „schwere wirtschaftliche Verluste und in der Folge politische Instabilität auszulösen, verbunden mit der Möglichkeit, den Einsatz glaubwürdig abstreiten zu können, übertrifft die Möglichkeiten jeder anderen bekannten Waffe.“ Der Autor, Robert Kadlec, früherer Biowaffeninspekteur des US-Militärs im Irak, wurde 2007 unter George W. Bush Chefberater für „Biodefense“, 2017 unter Donald Trump Staatssekretär für Notfallmanagement im Gesundheitsministerium. In der Corona-Pandemie gehört er heute zu den leitenden Krisenmanagern der US-Regierung.

Die Nerven liegen blank

1998 gab es eine Übung, an der sich 40 Vertreter von US-Behörden beteiligten. Dem Szenario zufolge hatten Terroristen einen modifizierten Pockenvirus ausgesetzt, der sich mit vorhandenen Impfstoffen nicht bekämpfen ließ. Danach wurde in der Öffentlichkeit über die Hilflosigkeit der Regierung diskutiert. Im selben Jahr wurde jenes Center for Civilian Biodefense Studies gegründet, das heute Center for Health Security heißt; von ihm wurden alle folgenden Übungen veranstaltet, und schon die Anlage der ersten, 1999, war international. Vorausgesetzt war wiederum ein Angriff mit Biowaffen, doch die Probleme, die uns heute Corona stellt, wurden schon explizit formuliert. „Wie weit kann die Polizei gehen, um Patienten in Quarantäne zu halten?“, fragte der Auswertungsbericht, und wie soll die „über die Medien gehende Botschaft“ kontrolliert werden? Ein leitender Mitarbeiter des Justizministeriums habe die Anwesenden informiert, dass Zwangsimpfungen legal seien. Der ganze Corona-Diskurs, wie man ihn nennen könnte, war fix und fertig vorhanden, als sich der gleiche Kreis von Teilnehmern bei der nächsten Übung, 2000, erstmals auf die Epidemie als solche konzentrierte, obwohl erneut ein Angriff von Terroristen unterstellt wurde. Eine leitende Beamtin im Gesundheitsministerium schlug Reisebeschränkungen vor, Verbote für öffentliche Versammlungen und die Empfehlung, nicht erkrankte Menschen sollten zuhause bleiben, „aber ich würde nicht versuchen“, sagt sie, „eine echte Quarantäne im klassischen Sinne zu verhängen“. Nachdem zunächst jeder Bundesstaat anders auf die Situation reagiert hat, wird laut Drehbuch ein Gesetz verabschiedet, das der Bundesregierung die Quarantänehoheit gibt.

Obwohl sich die Kette der Übungen noch lange fortsetzt, ist bis hierher schon klar, was sie insgesamt charakterisiert. Wir erkennen eine Struktur aus drei Elementen. Von der Verwicklung von Epidemie oder Pandemie und Biowaffen-Terrorismus wurde schon gesprochen. Das zweite Element ergibt sich aus dem bestimmenden militärischen Aspekt dieser Konfusion: Was wir bisher Übungen genannt haben, sind weiter nichts als Manöver, wie es schon im 18. Jahrhundert welche gab, nur dass diesmal ein Krankheitserreger der unterstellte Kriegsfeind sein kann. Manöver dienen dazu, Lücken in der Planung des Ernstfalls zu entdecken und vor seinem Eintreten noch korrigieren zu können.

Drittens aber, wir haben es nicht mit einer Armee zu tun, die sich mittels gewöhnlicher Befehle auf den Ernstfall vorbereiten lässt, sondern mit der Bevölkerung eines demokratisch verfassten Staates. Schon weil die Drehbücher zunehmend von der Möglichkeit einer natürlich statt militärisch entstandenen Pandemie sprechen, kann über diese Bevölkerung nicht einfach das Kriegsrecht verhängt werden. Wie soll sie dann aber diszipliniert werden? Alle Überlegungen, von denen wir bisher erfuhren, ringen mit dieser Hauptfrage. Und das ist ja begrüßenswert. Denn es zeugt davon, dass nicht stattdessen überlegt wird, wie man die Demokratie abschaffen kann, um optimale Effizienz der Gefahrenabwehr, wie hergebrachte Manöver sie geübt haben, zu gewährleisten. So gestellt, ist das eine ganz neuartige Frage. Wenn erste Antworten nicht frei sind von der militärischen Vorgeschichte, etwa bei Überlegungen zur Medienkontrolle, die an den deutschen „Burgfrieden“ im Ersten Weltkrieg erinnern, wer wollte sich darüber wundern?

Einen Monat nach dem Fall der Twin Towers am 11. September 2001 initiierte die US-Regierung ein Treffen der Gesundheitsminister der G 7-Staaten, ergänzt um Mexiko. Eine Global Health Security Initiative mit den Zielen Informationsaustausch und Koordination der Methoden – vor allem im Fall eines Biowaffenangriffs –, Zusammenarbeit bei der Beschaffung von Impfstoffen, Austausch der Notfallpläne, gemeinsame Übungen und weltweite Vernetzung der Hochsicherheitslabore wurde gegründet. Jedes Land hatte einen hohen Beamten zu ernennen, zusammen sollten sie den Plan ausführen und konkretisieren. Die Gruppe traf sich fortan jährlich. Bei der nächsten Übung des Centers an der John-Hopkins-Universität im Dezember 2002 wurde erstmals klar formuliert, man habe „erkannt, dass es viele Gemeinsamkeiten gibt in der Notfallplanung für Bioterrorismus und für eine Grippepandemie“. Wieder ein Jahr später, im September 2003, unterstellt „Global Mercury“ erneut einen Pockenausbruch. Das Manöver wurde koordiniert in den Staaten der zuständigen Behörden der G 7 plus Mexiko abgehalten. Zu den Mitspielern gehörten auch Vertreter der WHO und der EU-Kommission. In Deutschland nahmen drei Teams vom Gesundheitsministerium und vom RKI teil. Es ergab sich, dass ein Informationsknotenpunkt geschaffen werden musste, am besten bei der WHO.

Dass die Nerven blank lagen, ersieht man aus dem Pockenimpfstoff, den die deutsche Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) Anfang 2003 für viele Millionen Euro bestellte. Denn wie sie meinte, war Deutschland ein „besonders attraktives Ziel für bioterroristische Angriffe“ und müsse nach einem Angriff mit Pockenviren mit „etwa 25 Millionen Toten“ gerechnet werden. Als ihr Vorstoß öffentlich wurde, trat sie den Rückzug an. Es war aber bezeichnend, wie das in den Manövern bloß Unterstellte für manche nun Realität geworden war. Woher wusste Frau Schmidt denn, dass die Terroristen Pockenerreger und nicht ein anderes Virus aussetzen würden?

Islamische, aber auch ökologische Terroristen

Von „Atlantic Storm“, der Übung im Januar 2005, haben wir schon gesprochen. Nun war 2005 das Jahr der Vogelgrippe. Obwohl diese Krankheit laut WHO in diesem und dem Folgejahr zu lediglich 122 Toten weltweit führte, hatte US-Präsident Bush eine Notfall-Unterstützung von 7,1 Mrd. Dollar, überwiegend für Impfstoffe, verlangt und auch erhalten, und von Deutschland forderte der WHO-Mitarbeiter Klaus Stöhr, der zwei Jahre später in einem Pharmakonzern arbeitete, Entsprechendes. Doch im Januar 2006 wies der Abgeordnete Wolfgang Wodarg (SPD) im Bundestag darauf hin, dass die Vogelgrippe eben eine Vogel- aber keine Menschengrippe war, und warf die Frage auf, wer ein Interesse daran habe, das Thema hochzuspielen. Er führte Länder auf, in denen es keine Tests und deshalb auch keine „Fälle von Vogelgrippe“ gab.

Dass zwischen 2005 und 2018 keine weiteren Manöver abgehalten wurden, lag wahrscheinlich an der Diskrepanz zwischen den jahrelang geschürten Erwartungen und dem Umstand, dass sie von der Vogelgrippe eher falsifiziert worden waren. Dennoch reagierten die Regierungen, und auch die Medien, auf die Schweinegrippe 2009 wieder hysterisch. In Deutschland kauften Bund und Länder für viele Millionen Euro Medikamente, die dann größtenteils ungebraucht vernichtet werden mussten. In ihrem Buch Corona Fehlalarm? (Berlin 2020) erinnern Karina Reiss und Sucharit Bhakdi daran, dass der Virologe Christian Drosten und das RKI eine flächendeckende Impfung empfohlen hatten, während Bhakdi und Wodarg schon damals von einem Fehlalarm sprachen und dessen Aufklärung verlangten, damit man Lehren für die Zukunft daraus ziehen könne.

Im Mai 2017 begann das Center an der John-Hopkings-Universität mit den Vorbereitungen für die Wiederaufnahme der Manöver. Paul Schreyers Interpretationskraft lässt von hier an, wie mir scheinen will, stark nach. Worauf führt er den Neuanfang zurück? Zum einen auf Bill Gates, weil der im Januar 2017 an der Gründung der Impfstoffinitiative CEPI beteiligt war, die sich die Entwicklung von Impfstoffen in weniger als einem Jahr, statt wie bis dahin üblich in zehn Jahren, zum Ziel setzte. Für eine wesentliche Rolle von Gates spricht aber gar nichts. Mehrere Regierungen und die Pharmaindustrie waren die anderen Beteiligten; sie verabredeten CEPI, als sie sich auf dem jährlichen Forum in Davos trafen. Die Rollenverteilung ist doch klar: Der Exponent der Bill & Melina Gates Foundation wollte Geld geben, also Wohltäter sein, die Idee der Impfstoff-Innovation kam aus der Industrie, die natürlich Geld verdienen wollte, die Regierungen aber, das hat die ganze bisherige Rekonstruktion ergeben, waren die treibende Kraft. Auch der von Schreyer betonte Umstand, dass Gates ein paar Wochen später auf der Münchener Sicherheitskonferenz auftrat und dort vor einer möglichen Pandemie warnte, die natürlich oder durch Terror entstehen könne, ändert daran nichts. Schreyer schreibt Gates zu, CEPI initiiert zu haben, doch abgesehen davon, dass Gates auch dann nur der Anlass, nicht aber die Ursache der Gründung von CEPI gewesen wäre – Ursache ist, wie wir sahen, die Terrorfurcht der westlichen Regierungen nach 1990, die Kette der auf sie reagierenden Manöver und die von diesen geweckten Erwartungen, die ganz ohne Gates schon längst zu sich wiederholenden Impfstoff-Panikrufen der Regierungen geführt hatten –, abgesehen von all dem wird Schreyers Behauptung von der einzigen Quelle, die er dazu anführt, einem Artikel der Financial Times von 18. Januar 2017, in keiner Weise belegt, nur dass es Gates ist, der Mann redet offenbar gern, von dem sich die Zeitung informieren ließ.

Wenn Schreyer die Wiederaufnahme der Manöver zum andern mit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten Donald Trump in Beziehung setzt, führt er gleich gar keine Gründe an, die das plausibel machen könnten. Dabei ist der wahre Grund nicht schwer zu erkennen. Er liegt darin, dass nun tatsächlich eine dichte Folge islamistischer Terroranschläge begonnen hat, verantwortet vom sogenannten Islamischen Staat. 2015 war das erste Jahr mit so viel Terroranschlägen gewesen, dass die Jahres-Artikel bei Wikipedia sie in einer eigenen Rubrik zu sammeln begannen. Der Anschlag auf die französische Satire-Zeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar hatte sie eröffnet. 2016 kamen zum Beispiel die LKW-Fahrt in eine Menschenmenge in Nizza (14. Juli) und der Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt (19. Dezember) dazu.

Es ist nach diesem Vorlauf umso überraschender, dass „Clade X“, als es nach einem Jahr der Vorbereitung am 15. Mai 2018 in einem Washingtoner Luxushotel über die Bühne geht, zwar einen Terroranschlag unterstellt, und auch von religiösen Terroristen, aber nicht von islamischen. Schon dass sie überhaupt näher charakterisiert werden, ist neu. Man gewinnt den Eindruck, das veranstaltende Center beginne sich auf drohenden ökologisch-antikapitalistischen Widerstand einzustellen. Wir schreiben das Jahr, in dem Greta Thunberg auftritt, nachdem Schwedens Wälder gebrannt haben, und in deutschen Umfragen die Grünen zeitweise die Unionsparteien überflügeln. Das Drehbuch des Centers erinnert freilich eher an AfD-Phantasien: In den 1990er Jahren sei eine Gruppe in den USA gegründet worden mit dem Ziel, den Verfall des Planeten durch Überbevölkerung erst zu verlangsamen, dann umzukehren. Die Gruppe habe friedlich mit Vorträgen gearbeitet, doch spaltete sich eine radikale Fraktion ab, zu der Leute mit biowissenschaftlicher Ausbildung, auch Virologen gehörten. Sie entwickelten die Biowaffe Clade X und lösten die Pandemie aus, geleitet auch von der Vorstellung einer „biblischen Plage“. Der Ausbruch der Pandemie beginnt in Deutschland (!), wo dann bald ein PCR-Test zum Nachweis des Virus entwickelt wird. In der Auswertung wird unterstrichen, die Regierung solle die nötigen Mittel zur Entwicklung neuer Impfstoffe „innerhalb von Monaten und nicht Jahren“ bereitstellen.

Das letzte Manöver

„Event 201“, das vorerst letzte Manöver, fand im Oktober 2019 statt, zwei Monate vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie, und simulierte einen „von Fledermäusen erst auf Schweine“ übertragenen, dann aber auch „von Mensch zu Mensch“ übertragbaren „neuartigen zoonotischen Coronavirus“. Alles läuft genauso ab wie anschließend in der Realität, zum Beispiel „steht im ersten Jahr kein Impfstoff zur Verfügung“. Ein Hauptthema ist die Abwehr von „Verschwörungstheorien“; es sei wichtig, so der Abschlussbericht, „die Medien mit schnellen, genauen und konsistenten Informationen zu überfluten“. „Die Medienunternehmen ihrerseits sollten sich verpflichten, dass falsche Botschaften unterdrückt werden, auch mit Hilfe von Technologie.“ An der Übung waren diesmal Führungskräfte globaler Konzerne beteiligt, sie spielten sich selbst. Auch der Direktor der chinesischen Seuchenschutzbehörde, der Anfang 2020 seinen US-amerikanischen Kollegen über die Gefährlichkeit des Coronavirus informierte und zwei der ersten maßgeblichen wissenschaftlichen Artikel in westlichen Fachzeitschriften mitverfasste, war anwesend. In Schreyers Buch werden dann noch die Anfänge der realen Pandemie kritisch hinterfragt.

Ich würde nicht wagen, aus all dem eine Schlussfolgerung zu ziehen. Man sieht zwar deutlich, dass die Akteure, die 2020 die Corona-Krise managen, neben allem anderen auch von ihren Vorerwartungen geleitet werden. Das mag aber auch für die Kritiker gelten: Bhakdi oder Wodarg denken an die Vogel- und Schweinegrippe zurück. Sind die Krisenmanager ihren Erwartungen zum Opfer gefallen? Oder soll man sagen, man sehe ja ihr exzellentes Agieren und das sei der guten Vorbereitung geschuldet? Uns verstört freilich der Umstand, dass man in all den Jahren so gar kein Interesse für die Kapazität der Krankenhäuser aufbrachte. Was wurde denn da eigentlich geübt? Wenn man bedenkt, dass fast immer auch ein Terrorangriff unterstellt wurde, kann man auf die Idee kommen, dass – nicht absichtlich, aber faktisch – die reale Corona-Krise selbst „nur“ ein weiteres Manöver sei, in dem sich ganze Gesellschaften, und besonders die westlichen, an die Koexistenz mit der Biowaffe gewöhnen, bevor sie tatsächlich ausgesetzt wird. Denn, so würde man weiterdenken: Diese Gesellschaften wissen im Grunde, was sie der Welt angetan haben. Zwar könnten sie umkehren. Alles könnte noch zum Besseren gewendet werden. Aber das zu begreifen, sind sie immer noch weit entfernt. Sie fühlen sich schuldig und warten auf die Bestrafung.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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