Durch den Wind

Müntefering und die SPD Die Sozialdemokraten werden unsanft daran erinnert, dass auch sie die Wahlen verloren haben

Undenkbar ist es nicht, dass Münteferings Rücktritt nur ein weiterer Schritt im Machtkampf der sozialdemokratischen Rechten ist. Sein Kompagnon Schröder kämpft schließlich seit Jahren mit solchen Mitteln: Vertrauensfragen, die angedrohte Rücktritte sind, und die vorzeitige Parlamentsauflösung. Gibt es nicht jetzt Stimmen, die Andrea Nahles beschimpfen und am liebsten den ganzen SPD-Vorstand auswechseln würden, weil er sich mit der Entscheidung gegen Müntefering parteischädigend verhalten habe? Was übrigens eine bezeichnende Verdrehung ist: Wenn Oskar Lafontaine Parteivorsitz und Ministeramt hinwirft, läuft er vor der Pflicht weg oder ist gar ein Verräter; wenn Müntefering exakt dasselbe tut, haben die anderen Schuld.

Es geht hier aber nicht nur um eine innerparteiliche Links-Rechts-Frage, und wenigstens Müntefering selber wird nicht so zynisch denken wie manche seiner Anhänger. Er hat bestimmt ein Gespür für das, was wirklich passiert ist: dass Schröder mit der in Hartz IV kulminierenden Politik und dem dazugehörigen üblen Politikstil nicht nur die SPD, sondern das ganze Land in eine schwere Krise gestürzt hat und dass er, Müntefering, dabei nach Kräften mithalf. Sein Rücktritt ist das Eingeständnis dieses Scheiterns. Es ist nicht die Crash-Taktik der letzten Monate allein, sondern die Grundlinie der Politik seit 1998, die dazu geführt hat. Auch hat sich die Hoffnung nicht erfüllt, Müntefering könnte nach Schröders Ende der Mann des vorsichtigen Neuanfangs sein. Weil man das schnell sah, war Nahles´ Kampfkandidatur richtig und Münteferings Reaktion auf ihren Sieg konsequent. Es wäre sonst für die SPD noch schlimmer gekommen.

Nahles´ Sieg im Vorstand ist ja nicht etwa das Symbol einer Machtübernahme durch die Linken. Sie hätte sich ohne die Unterstützung des "Netzwerks", einer Gruppierung, die eher dem Schröder-Kurs nahe stand, gar nicht durchgesetzt. Deshalb war es auch klug, dass sie einen Tag nach dem Sieg ihrerseits Rückzugsbereitschaft zeigte, damit jetzt eine neue Gesamtlösung gelingt. Nein, ihr Sieg signalisiert nur den Willen der jüngeren bis mittleren Parteigeneration, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen, statt sich weiter eine Welt vorzulügen, in der Schröder fast Kanzler geblieben wäre. Dabei bleibt es hoffentlich. Die Zeit ist einfach zu kostbar, als dass sie so hätte verrinnen dürfen.

Was jetzt geschehen muss, darüber sind sich Linke und Netzwerk bestimmt nicht einig. Aber eins ist ihnen vielleicht gemeinsam klar: dass die Krise in ihrer tieferen Dimension von der Weigerung der politischen Klasse herrührt, nach dem Willen der Wähler zu regieren. Es hat sich nicht erst 2005, sondern schon 2002 gezeigt, dass unabhängig von dem, was Politiker vermasseln, in diesem Land eine strukturelle linke Wählermehrheit existiert. Den Nahles und Gabriel muss klar sein, es ist ihre Aufgabe, diese Mehrheit und keine andere in Regierungspolitik umzumünzen. Dabei spielt es gar nicht die Hauptrolle, ob sie die Linkspartei akzeptieren oder glauben, sie könnten deren Wähler zurückholen, wie die SPD einst dasselbe bezüglich der Grünen hoffte. Denn so oder so drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass eine Fortsetzung der Hartz IV-Politik im Schulterschluss mit Angela Merkel für die SPD wie für das Land nur schädlich sein kann. Dass es jene strukturelle Mehrheit gibt, ist durchaus auch ein Erfolg von Rot-Grün. So unfähig deren führende Politiker waren, haben sie doch das Land kulturell verändert, die Veränderung anscheinend sogar unumkehrbar gemacht. Das ist kein kleines Verdienst. Es zeigt sich heute nicht zuletzt darin, dass quer durch die politischen Lager Frauen auf dem Weg zur Führung sind oder ihn schon hinter sich haben: Merkel, Künast, Nahles ...

Auch der nächste Schritt, die Mehrheit nun gar politisch auszunutzen, wäre nicht zuletzt ein kultureller. Denn wider Erwarten hat es Rot-Grün nicht vermocht, die sozialdemokratische Subalternität der Union gegenüber abzuschütteln, die so alt wie die Bundesrepublik und deren preußische Erbschaft ist. Schröder und Fischer hätte das gelingen müssen, dachte man in Erinnerung an deren "antiautoritäre" Jugend. Stattdessen waren gerade sie es, die der langjährigen Forderung der Union nachgaben, den Abbau des Sozialstaats einzuleiten. Vielleicht muss tatsächlich erst republikweit nachgeholt werden, was 1968 die sozialistischen Studenten heimsuchte: dass Frauen sich von führenden Männern emanzipieren.

Aber Nahles ist noch sehr jung. Vorerst gilt es, eine Übergangszeit zu organisieren. Sollte sich der SPD-Vorstand auf Matthias Platzek als neuen Parteichef einigen, wäre das gar keine schlechte Wahl. Die Frage ist nur, ob der Ostdeutsche und frühere Grüne den Mut hat, aus der Krise nach vorn und nicht zurück zu flüchten. Die Flucht nach vorn bestünde in einer rot-grünen Minderheitsregierung, die von der Linkspartei ins Amt gewählt würde, wenn sie nur ankündigt, Hartz IV rückgängig zu machen. Sie kann von da an mit wechselnden Mehrheiten regieren und müsste Neuwahlen in zwei Jahren ankündigen. Eigentlich sollte sogar die Union einem solchen Weg zustimmen, sie weiß ebenfalls, dass sie sich von den Wählern zu weit entfernt hat und eigentlich eine Pause zum Nachdenken braucht. Edmund Stoiber hat solche Klugheit schon signalisiert, warum nicht auch Angela Merkel? Das Letzte, was dieses Land jetzt braucht, ist verschärftes Kampfgetöse; die Weimarer Endzeit lässt grüßen. Vielmehr sollen sie sich alle neu aufstellen, möglichst ruhig und mit dem dafür gebrauchten Minimum an Zeit. Wer weiß, vielleicht bequemen sie sich gar, den Wählerwillen zu respektieren.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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