Franz Müntefering gerät in die Lage eines Mannes, der sich zeigen muss. Bis zur Bundestagswahl hatte der SPD-Vorsitzende jedermanns Liebling sein können. Das war ja der Grund gewesen, weshalb Kanzler Schröder ihm den Parteivorsitz überlassen hatte. Während Müntefering Hartz IV innerparteilich durchsetzte, konnte die Parteilinke gleichwohl glauben, er stünde auf ihrer Seite. Immerhin forderte er die Ausbildungsplatzabgabe, wenn er auch nicht für sie kämpfte, und kritisierte die Investment Fonds als "Heuschrecken". Das waren freilich nur Worte. In den Wochen nach der Wahl sieht man seine Personalvorschläge. Dabei konnte man bei seiner Liste der SPD-Minister im Kabinett Merkel noch glauben, er sei gewissermaßen aus Anstand Gerhard Schröders Wünschen gefolgt - hatte es doch eben noch geheißen, Schröder müsse Kanzler bleiben. Aber wo es um die Parteiführung geht, kann er sich hinter niemandem mehr verstecken. Wie soll der künftige Generalsekretär der SPD heißen? Die frühere Juso-Vorsitzende Andrea Nahles hatte geglaubt, dieses Amt würde ihr zugestanden. Da konnte Müntefering nicht mehr lavieren, sondern musste mit der Sprache heraus.
Ein letzter Versuch, die Dinge gütlich zu regeln, scheiterte: Sein Vorschlag, das Amt kurzerhand abzuschaffen, stieß sofort auf Widerstand. Da es in der Satzung verankert ist, müssten mehr als drei Viertel der Delegierten des Parteitags Mitte November für die Abschaffung stimmen. Darauf konnte Müntefering nicht bauen, also legte er seine Karten notgedrungen auf den Tisch: Nicht Nahles, sondern der bisherige Bundesgeschäftsführer Wasserhövel soll Generalsekretär werden. Er ist seit Jahren Münteferings engster Mitarbeiter, hat die Parteizentrale in seinem Auftrag straff geführt. Dieses zwar farblosen, aber bürokratisch starken Arms will er sich nun als Vizekanzler vom Kabinett aus bedienen, um die Partei durchregieren zu können. Aber werden die Delegierten ihm folgen? Nicht weniger als fünf Landesvorsitzende der SPD widersprechen ihm und fordern Nahles auf, ihre Kandidatur aufrechtzuerhalten. Auch im Parteipräsidium findet Müntefering keine Unterstützung.
Der Vorgang ist signifikant, da jedermann weiß, die Personen stehen für verschiedene Parteiwege. Gewiss reden viele verhüllend: Nahles sei doch jung und dynamisch, sagte der Landesvorsitzende Schleswig-Holsteins, Möller, während Kahrs, der Sprecher des rechten Seeheimer Kreises, Wasserhövel als exzellenten Mann bezeichnete, der die Partei von innen und außen kenne. Worum es aber geht, wird deutlich, wenn die einen sagen, die Partei müsse jetzt "einheitlich auftreten", die andern, ihre "Eigenständigkeit" müsse "erkennbar sein". Natürlich ist damit der Streitpunkt nur angedeutet, da alle im Zweifel sagen werden, sie seien für beides. Aber wenn Müntefering das einheitliche Auftreten fordert, meint er eine Partei, die das Sprachrohr sozusagen der Regierung Müntefering wäre, als die er die Regierung Merkel verkaufen wird. Und wenn die Linken von der Eigenständigkeit sprechen, wollen sie die Partei von der Koalition so weit distanzieren, dass sich auch einmal die Möglichkeit zum Absprung ergibt.
Von seinem Standpunkt kann Müntefering keine Generalsekretärin genehm sein, die an Merkels Richtlinien immer mal wieder herummäkelt. Die Frage ist aber, wie lange er und Schröder das Regiment über die Partei noch aufrechterhalten können. Auf wen will sich der 65-Jährige denn stützen? Die Linke musste er nun verprellen. Er kann Nahles kein großes Amt bieten: Auch als Stellvertretende Parteivorsitzende käme sie nur in Frage, wenn Heidemarie Wieczorek-Zeul ihren Platz räumte. Also eine Linke für eine andere. Das ist eine Unverschämtheit, zumal beide längst gesagt haben, gegeneinander würden sie nicht antreten. Nun könnte man erwarten, dass das "Netzwerk", eine Gruppe junger Bundestagsabgeordneter und anderer aufstrebender Funktionäre, die dem Schröderschen "Modernisierungskurs" bisher gefolgt sind, Münteferings Politik in Zukunft tragen werden. Das wäre was, denn es sind Landesvorsitzende darunter wie Ute Vogt, Baden-Württemberg, und Christoph Matschie, Thüringen. Hat Müntefering nicht ihre Karrieren gefördert? Olaf Scholz zum Beispiel soll jetzt Parlamentarischer Geschäftsführer werden. Sigmar Gabriel bekommt zwar nur deshalb ein Bundesministeramt, weil vorher der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck abgewinkt hatte. Der sollte eigentlich, nach Schröders und Münteferings Wunsch, der nächste Kanzlerkandidat der SPD sein. Aber nun ist eben stattdessen Gabriel aufgerückt.
Doch wie immer "Münte" gerechnet haben mag: All diese Leute haben ihren eigenen Kopf. Sie sagen sich, dass sie doch schon alt genug sind, um mehr zu sein als eine treue Gefolgschaft von zwei einzelnen Herren. Die Linken waren so klug gewesen, die Nominierung Gabriels zum Bundesumweltminister zu begrüßen; im Austausch wird die Kandidatur von Nahles nun auch vom Netzwerk unterstützt, gegen Münteferings ausdrücklichen Wunsch. Damit nimmt eine neue SPD erste Konturen an. Neu nicht in programmatischer Hinsicht, aber doch in den Gesichtern. Man wird sehen, ob Müntefering sich gegen die Flügel der nachrückenden Generation noch einmal wird durchsetzen können. Oder ob er gar, um die Kraftprobe zu vermeiden, sich mit Nahles abfindet - vielleicht schon am Sonntag in der Sondersitzung des Parteipräsidiums. Auf jeden Fall gewinnt man den Eindruck, die große innerparteiliche Machtfülle, über die er zur Zeit verfügt, sei nur Schein und ein eher flüchtiges Übergangsphänomen.
Inzwischen gibt es auch schon eine Debatte um die künftige Linie der Partei. Die Linken stellen die Frage so: Soll die SPD weiter "linke Volkspartei" sein? Dafür sind sie, dafür steht Nahles. Dafür wollen sie die "Eigenständigkeit" der Partei gegen Merkel und Müntefering verteidigen. Doch sie sehen auch die neuen Probleme: Je mehr die EU zusammenwächst, desto mehr drängen sich Parallelen zwischen den europäischen Parteiensystemen auf; da ist aber eine linke Volkspartei mit einem Wähleranteil, wie die SPD ihn immer noch hat, das Untypische. Gerade für die skandinavischen Länder, an deren Politik sich die SPD doch vielleicht wird orientieren müssen, ist es typisch, dass es links von den Sozialdemokraten noch linkere Parteien gibt, mit denen ohne weiteres koaliert werden kann. Da repräsentieren die Sozialdemokraten nicht "das Volk", sondern nur ein Segment davon, vielleicht nur Teile des Öffentlichen Dienstes einschließlich derer, die regierungserfahren sind. Warum sollte es in Deutschland dauerhaft anders sein? Aber dann müssten die Linken ihre eigene Rolle überdenken. Wollen sie der Kitt eines linken Parteienbündnisses sein und dieses vorbereiten? Damit wäre der Anspruch, ihre Partei sei "die" linke Volkspartei, nicht kompatibel.
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