Ein Betriebsunfall?

Anpassung nach Wahlniederlagen SPD und Grüne haben die Union noch nicht nachhaltig verändert

Ein Sieg wird erst vollständig, wenn das Selbstbewusstsein des Gegners gebrochen ist. Beim Sieg einer Partei über die andere in demokratischen Gesellschaften geht es um solche Vollständigkeit nicht. Die Sieger werden später doch wieder verlieren. Doch wechseln Sieg und Niederlage nicht alle vier Jahre: Meistens hält sich eine Partei oder eine Koalition über mehrere Legislaturperioden hinweg an der Macht. Ist das der Fall, kommt die unterlegene Partei in Versuchung, ihr Selbstbewusstsein mindestens zu ändern. Mit einem modifizierten Bild ihrer selbst vor die Öffentlichkeit tretend, hofft sie, "neue Mehrheiten" zu überzeugen. Sie könnte freilich bei der alten Botschaft bleiben und eine neue Sprache für sie finden. Aber ihre Chancen scheinen ihr größer, wenn sie anerkennt, dass der Sieger eine neue Lage geschaffen habe, in der sie sich nun eben "mitgestaltend" bewegen müsse. So ist es in der Bundesrepublik Deutschland noch stets gelaufen. In die Opposition geschickt, veränderten SPD und Union ihr Selbstbewusstsein. Mit expliziten oder impliziten "Ja, aber...!"-Einwänden gegen eine im Grundsatz akzeptierte Regierungspolitik suchten sie die Aufmerksamkeit derer, die sich von ihnen abgewandt hatten, zurückzugewinnen.
Alte Garde ausgepunktet
Vor diesem Hintergrund können wir fragen: Wie weit ist es der rot-grünen Regierung gelungen, die Unionsparteien zu verändern? Das ist ein zentraler Aspekt ihrer "Bilanz", weil es die Nachhaltigkeit ihrer Politik betrifft. Man sieht es schnell am Beispiel ihrer Atomenergiepolitik. Hier ist die Opposition nicht im mindesten verändert - sie denkt gar nicht daran, den rotgrünen Absichten auch nur Zugeständnisse zu machen -, weshalb der von der Regierung proklamierte "Ausstieg aus der Atomenergie" weiter nichts als ein Flop und eine Bilanzfälschung ist. Doch mit anderen Aspekten ihrer Politik mag sie das Selbstbewusstsein des Gegners erfolgreicher besetzt haben.
Blicken wir zunächst auf die Nachkriegsgeschichte zurück, um den Mechanismus zu begreifen. Das Beispiel der Marktpolitik ist besonders schlagend. Unmittelbar nach dem Krieg schien sozialistischer Politik die Zukunft zu gehören, doch Ludwig Erhard konterte: Sozialismus ja, aber ohne Staatskommando! Das brachte der CDU zur Überraschung aller den nachhaltigen Sieg. Die SPD brauchte mehrere Legislaturperioden, um sich zu erholen, dann antwortete sie: Soziale Marktwirtschaft ja, aber auch Planelemente! Damit prägte sie seit 1966 die Regierungspolitik. Erst 1980 fand die Union eine erfolgversprechende Erwiderung: Finanzplanung ja, aber ohne Staatsverschuldung! Als kommender Mann der SPD wandte Oskar Lafontaine Jahre später ein: Ende der keynesianischen Staatsintervention ja, aber auch den Arbeitslosen helfen - nun durch "Teilen in der Klasse"! Er hätte wohl 1990 die Wahl gewonnen, wäre nicht die deutsche Vereinigung dazwischengekommen. Auch das Beispiel der Militärpolitik ist schlagend. Mit dem Godesberger Programm stimmte die SPD nicht nur der "sozialen Marktwirtschaft", sondern auch der "Westbindung" zu, das heißt der Einbindung der Bundesrepublik in die NATO. Diese beiden Anpassungen ebneten ihr den Weg zum Wahlsieg von 1969. Danach musste sich die Union anpassen und tat es auch: Sie hätte 1982 nicht gesiegt, wäre sie nicht zur Übernahme von Elementen sozialdemokratischer "Entspannungspolitik" bereit gewesen. (Die FDP hätte ihr dann nicht als Koalitionspartner zur Verfügung gestanden.)
Solche Veränderungen werden in der Regel von neuen Parteieliten durchgesetzt. Nach der Wahlniederlage sucht erst einmal die alte Garde ihre Macht und ineins damit ihre alte Botschaft zu wahren. Doch sobald sich zeigt, dass die Niederlage kein bloßer "Betriebsunfall" war, sondern in ein langes Tal der Tränen geführt hat, verliert sie ihre Autorität, und die Jüngeren greifen an. So mussten nicht nur Willy Brandt und Herbert Wehner, sondern später auch Helmut Kohl und Heiner Geißler zuerst die eigene Parteiführung besiegen, bevor an einen Sieg über die gegnerische Partei auch nur zu denken war. Mit diesem Gesichtspunkt können wir in die Gegenwart springen. Hat Gerhard Schröders SPD die CDU verändert? Sie hat jedenfalls alles getan, ihr die Veränderung zu erleichtern, indem sie gnadenlos auf dem Helmut Kohlschen Spendenskandal herumritt. So schnell ist noch nie eine alte Garde ausgepunktet worden wie hier, weil der CDU wegen des äußeren Drucks gar nichts übrig blieb, als die Youngsters wie Friedrich Merz und Angela Merkel so rasch wie möglich nach oben kommen zu lassen. Doch wer weiß, ob die Schnelligkeit nicht überzogen war und deshalb täuscht. Ist wirklich schon ein Wandel erfolgt, oder ist der Wandel Tarnung?
Youngsters setzen Anpassungen durch
Einige Politikfelder sprechen für Wandel, so besonders die Familien- und auch die Einwanderungspolitik. Wenn man die ideologischen Wurzeln der Union in Rechnung stellt, ist es durchaus beachtlich, dass sie auf den rotgrünen familienpolitischen Ansatz, wonach jede Lebensgemeinschaft mit Kind als Familie zu betrachten ist, zwar mit wütenden Bekenntnissen zur etablierten Ehe, aber doch auch mit einer Öffnung sonstigen Lebensgemeinschaften gegenüber reagierte. Ebenso beachtlich ist ihr Eingeständnis, dass Deutschland tatsächlich ein Einwanderungsland ist, mag sie es auch noch so oft zurückgenommen, reduziert und Einwanderung in bloße "Zuwanderung" umgebogen haben. Sie hat eben zum Ja das Aber ergänzt. Diese beiden Anpassungsleistungen wurden nicht zufällig von den Youngsters durchgesetzt. Edmund Stoiber, der jetzt Kanzlerkandidat geworden ist, hätte sie von sich aus bestimmt nicht vollzogen - er gehört der alten Garde an.
Die Anpassungsbereitschaft einiger Youngsters ging noch viel weiter. Angela Merkel wollte eine "programmatische Erneuerung" universellen Zuschnitts durchsetzen. Sie hatte eine Idee: die "Neue Soziale Marktwirtschaft", Ludwig Erhard unter Globalisierungsbedingungen. Die Welt brauche eine den Wettbewerb einhegende Ordnung. In die Präambel von CDU-Dokumenten gerieten Sätze wie: "Das Kapital fängt an zu wandern und plötzlich werden Werte absolut gesetzt, die früher ethisch bedingt und begrenzt waren: die Dividende am Ende des Jahres, der Aktienkurs und der Börsenwert." Viel anders hatte auch Oskar Lafontaine nicht geredet. Freilich standen solche Sätze nur in der Präambel. Im Hauptteil der Papiere wurde vor allem Deregulierung gepredigt, so dass man sah, das Neue an der Neuen Sozialen Marktwirtschaft war wie unter Kohl ihre Zurückführung auf Marktwirtschaft pur. Anders gesagt: Frau Merkel hatte sich nicht durchsetzen können. Man gönnte ihr nur die Rolle der Phrasendrescherin. So war es konsequent, dass sie auch nicht Kanzlerkandidatin wurde.
Stoiber übernimmt Schröders "Konsenspolitik"
Edmund Stoiber hätte die Kanzlerkandidatur gar nicht angestrebt, wäre er nicht überzeugt gewesen, er könne Gerhard Schröder tatsächlich schlagen. Das bedeutet aber, die Union ist noch gar nicht überzeugt von der Notwendigkeit einer gründlichen Anpassung an rot-grüne Politik. Sie glaubt noch nicht an die Nachhaltigkeit des rot-grünen Sieges. Sie bietet deshalb einen Repräsentanten der Politik der Kohl-Ära auf. Gewiss passt sich auch Stoiber an, aber nur oberflächlich, nur taktisch. Dass er als weicher Lieferant "sachlicher" Ideen auftritt und sogar, wie es Helmut Kohl nie eingefallen wäre, das Bündnis für Arbeit erneuern will, signalisiert seine Übernahme der "Konsenspolitik", mit der Gerhard Schröder so überaus erfolgreich war. Inhaltlich muss er deshalb der SPD noch längst kein Zugeständnis machen. Immerhin ist auch diese Veränderung des Stils nicht unwichtig. Die ganze Gesellschaft ist in Veränderung begriffen, wenn die Leitfiguren beider großer Parteien aufhören, autoritär aufzutreten.
Zur substanziellen Veränderung der Unionspolitik kommt es erst, wenn der rot-grüne Sieg im September wiederholt werden kann. Vorerst beobachten Stoiber und Merkel noch, wie die SPD dabei ist, sich ihrerseits der Union anzupassen. Das begann ja erst richtig während der Kanzlerschaft Schröders. Die Entscheidungsschlacht um das "Ja, aber" der Union brauchte deshalb noch nicht geschlagen zu werden. Wenn sie einmal tobt, wird es vielleicht um ganz andere Dinge als die "Neue Soziale Marktwirtschaft" gehen. Doch wer weiß, ob sie je erforderlich wird. Ohne selber selbstbewusst zu sein, können SPD und Grüne auch keine Spuren im Selbstbewusstsein der Union hinterlassen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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