Ein Blitz ... und dann die Nacht!

Musikfest 2019 Der dänische Komponist Hans Abrahamsen ist in Deutschland noch nicht sehr bekannt. Er kann ein Publikum betroffen machen

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Ich schreibe heute über zwei Konzertabende und zwei Kompositionen, über eine dritte nur kurz; vor allem schreibe ich über diejenige, die mich sehr berührt hat, das ist Le me tell you für Sopran und Orchester (2013) von Hans Abrahamsen.

In der Reihenfolge war die Symphonie Nr. 1 (1969-72) des russischen Komponisten Alfred Schnittke, gespielt am Dienstag von den Münchner Philharmonikern unter Leitung Valery Gergievs, die erste. Dieses etwa einstündige Werk entstand in der Zeit, als die Breschnew-Ära, die mit einer gewissen Liberalisierung begonnen hatte, längst wieder zum Frost zurückgekehrt war. Da war es nicht leicht, überhaupt eine Uraufführung zu erreichen, doch Schnittke hatte Unterstützer und es konnte sich wenigstens in Gorki, der wegen ihrer geheimen Industrieanlagen geschlossenen Stadt, ein einziges Mal zeigen. Das war 1974, die nächste Aufführung kam erst 1987 in der Gorbatschow-Zeit zustande. „Zeigen“ ist hier der richtige Ausdruck, denn wie Martin Wilkening im Programmheft plausibel vermutet, lag nicht zuletzt darin ein Problem, dass Schnittke „die Autorität der Partitur und des Dirigenten in Frage“ stellte, und zwar sichtbar in Frage stellte. Die Symphonie beginnt ohne Partitur und ohne Dirigenten! Ein Trompeter, ein Violinist, ein Kontrabassist schlendern nacheinander auf die Bühne, beginnen in weitem Abstand voneinander vor sich hin zu spielen, dann kommen die anderen, das ganze große Orchester, jede(r) spielt irgendwas, alles geht durcheinander. Nach einer Weile kommt der Dirigent, muss erst auf sich aufmerksam machen, schafft es, das Getöse zu unterbrechen, und von da an macht sich die Partitur geltend. Aber was ist das für eine Partitur! Nach der Aufführung, wenn der Dirigent sich vor dem Publikum verbeugt, hält er sie eigens hoch, als wollte er sich von ihr distanzieren. Denn sie ist reine Anarchie.

Wie soll man diese Musik charakterisieren, die alles zusammenwirft, was man an musikalischen Gesten so kennt? Nur einmal, ziemlich am Anfang, herrscht für ein paar Sekunden Klarheit, da wird nämlich das Thema des vierten Satzes von Beethovens Fünfter wörtlich zitiert – ist es Hohn? Schnittke weiß sicher, das ist Revolutionsmusik. Bei der Uraufführung sollen einige aufgesprungen sein und gejubelt haben, weil sie die Melodie wiedererkannten; sie hatten unter Napoleon gedient. 1974 könnten aber allenfalls solche Soldaten im Publikum gesessen haben, die an der Erstickung des „Prager Frühlings“ 1968, und damit überhaupt der damaligen weltweiten Revolution, teilgenommen hatten. Vor und nach diesem musikalischen Aufblitzen ereignet sich alles Mögliche, immer mehreres zugleich, zum Beispiel hört man wunderschöne Barockmusik à la Händel heraus, dann wieder wird Jazz improvisiert und ein Trauermarsch von Chopin klingt an. Eine Anspielung auf Haydns „Abschiedssymphonie“ liegt darin, dass auf einmal etliche MusikerInnen aufstehen und das Orchester verlassen, sie kommen aber wieder. Und so weiter... Das Verrückte ist, dieses musikalische Chaos, in dem man überhaupt keinen Zusammenhang erkennt, macht Spaß, man hört ihm gern die ganze Stunde über zu, es muss also doch ein Zusammenhang in ihm liegen. Eine lustige „Symphonie“ jedenfalls, die somit eigentlich ganz auf der Linie der offiziellen Sowjetkulturpolitik lag, mit ihrem hemmungslosen Optimismus...

Auf dem Programm stand am Dienstag auch Anton Bruckners sechste Symphonie. Nun aber zum Mittwoch, wo der Konzertabend mit dem eingangs genannten Werk des dänischen Komponisten Hans Abrahamsen begann. Der auch anwesend war und vom Publikum gefeiert wurde. Let me tell you war 2013 von den Berliner Philharmonikern uraufgeführt worden, unter der Leitung von Andris Nelsons und mit der Sängerin Barbara Hannigan, der die Komposition gewidmet ist. Man kann sie sich deshalb in der Digital Concert Hall der Philharmoniker anhören. Es gibt auch eine CD-Einspielung, selbe Solistin, selber Dirigent, aber mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Gestern nun trat Simon Rattle mit dem London Symphony Orchestra auf, dessen Chefdirigent er jetzt ist. Natürlich wurde er vom Publikum mit großer Freude begrüßt, denn seine Qualitäten sind in bester Erinnerung und es wäre müßig, auch hier in diesem Text, sie noch ein weiteres Mal hervorzuheben. Barbara Hannigan war wiederum die Solistin.

Das „Libretto“ zur Komposition hat Paul Griffith verfasst, es ist ein langes Gedicht, hervorgegangen aus seiner gleichnamigen Novelle aus dem Jahr 2008. Wir lesen, dass das Gedicht nur Wörter enthalte, die Ophelia gesprochen hat, des Polonius Tochter in Shakespeares Tragödie Hamlet. Doch sie sind ganz anders angeordnet, einen solchen Text hat Ophelia nie gesprochen und war weit entfernt, ihn auch nur zu denken - jedenfalls wenn wir uns auf der Oberfläche des Shakespeare-Textes bewegen. Da haben sich Hamlet und Ophelia geliebt, bevor jener vom Geist seines Vaters den Befehl erhält, den König zu töten, der ihn, den Vater, ermordet hat. Der König ist der neue Gemahl von Hamlets Mutter, die Konstellation ähnelt insofern einer anderen Shakespeare-Tragödie, Richard III. Aber weil der Sohn ins Spiel kommt, ist alles anders. Dieser Stoff ist wie geschaffen für den psychoanalytischen Deutungsversuch und tatsächlich gibt es sieben Vorlesungen von Lacan darüber, ich bin zwischen gestern und heute noch nicht dazu gekommen, sie zu lesen (sie sind Teil des Seminars „Der Wunsch und seine Interpretation“). Man sieht jedenfalls gleich, dass Söhne ja ohnehin mit den Vätern um die Mütter rivalisieren, was im wirklichen Leben nur zu „Verdrängungen“ führt, deshalb vielleicht spielt Hamlets Zögern in der Tragödie eine so große Rolle. Und wenn im Grunde genommen gar nicht die Tötung des Königs, zu der sich Hamlet am Ende aufrafft, sondern weit mehr noch sein Verhältnis zu Ophelia sie interessant macht, mag auch das den Bedingungen des wirklichen Lebens geschuldet sein. Hamlets Liebe zu Ophelia scheitert an seinem unbewältigten Elternkomplex. Die junge Frau fragt sich, warum er ihr nicht mehr zugetan ist, muss erleben, dass er ihren Vater Polonius praktisch grundlos ersticht – da zögert er gar nicht, überlegt nicht einmal, krankt an keinerlei „Blässe des Gedankens“ -, sie wird wahnsinnig und geht ins Wasser.

In ihrer Perspektive ist es so, dass der junge Mann sie geliebt hat und auf einmal grundlos sitzen lässt. Dies wird nun von Griffith in einer Weise verallgemeinert und vertieft, dass es kein bloß historisch erinnertes Schicksal mehr ist. Die singende Namenlose beginnt den Teil I mit den Worten Let me tell you how it was, II mit ...how it is, III mit ...how it will be. Das „you“ richtet sich an den Jüngling, der sie verlassen hat. Überwiegend ganz ruhig erzählt sie den Ablauf, wobei man davon ausgehen muss, dass sie tot ist, sei’s im wörtlichen oder übertragenen Sinn. „Ich werde zur Tür hinausgehen“, singt sie im dritten Teil, und draußen wird Schnee sein. „Also werde ich im Schnee weiterlaufen.“ „Ich weiß, du bist da. / Ich weiß, ich werde dich finden.“ Aber sie merkt schnell, dass die „Schneeflocken“ ihre Wahrnehmungskraft übersteigen. Sie kann sie nicht „mit meinen Augen verfolgen“. „Ich werde damit aufhören und weitergehen.“ Das erinnert an den Schluss von Becketts Der Namenlose („man muss weitermachen“) wie auch an den von Gershwins Porgy and Bess („I‘m on my way“).

Zur Musik, in die das gesetzt ist, schreibt Wilhelmer im Programmheft, sie stehe „in der Tradition einer paradoxen, da reflektierten Naivität, die der Kritiker Georg Brandes schon im 19. Jahrhundert als Merkmal der dänischen Kultur bezeichnet hat“. May be, ich höre aber vor allem Mahlers Lied von der Erde heraus (uraufgeführt 1911), das heißt dessen 6. Satz, der ja auch schon im Totenreich spielt. Es ist dieselbe seltsame Ruhe, der Tod aus der Perspektive der Toten statt derer, die noch leben. Obwohl Abrahamsens Musik auch wieder ganz anders ist, wüsste ich, so unmittelbar erschütternd sie auch ist, ohne diesen Vergleich keinen Zugang zu ihr zu finden. Anders ist sie insofern, als Mahler infolge seiner dichterischen Vorlage (Hans Bethge nach chinesischen Gedichten, aber auch Rilke dürfte im Hintergrund mitgespielt haben) mehr die Vorstellung einer Toten hatte, die im Tod ein unbekanntes Reich entdeckt und sich langsam in ihm zurechtfindet. Damit verglichen muss Abrahamsen natürlich einen ganz anderen „Ton“ treffen. Griffiths Gedicht gibt es vor: Ophelia erinnert sich noch sehr gut an ihr Leben als an eine Zeit der Unruhe, „in der Jetzt und Damals ineinander stürzten“, und an den Hamlet jener verflossenen Gegenwart, als „du bei mir bist“. „Du bist derjenige, der diese Musik ausgelöst hat“, singt sie, und durch sein „Leuchten“ hat er „ein Strahlen“ verursacht, „das nie verlischt“.

Ihre ganze Ansprache ist trotzdem ein Vorwurf – „Lass mich erzählen, wie es war“, „Ich habe das Recht dazu“ -, aber die meistens leise Musik ist eben sehr auf Klarheit und Durchsichtigkeit gegründet, wirklich als fiele Licht durch „Glas“, und berührt gerade durch den Versuch, emotionslos zu sein, einen Versuch, der an wenigen Stellen krass scheitert. Man muß das „Leuchten“ auch gar nicht als Lob auffassen, oder nicht nur als Lob, sondern kann an Baudelaires „Passantin“ denken, eine „Frau, die vorübergeht“, in diesem Fall liegt die Perspektive eines Mannes zugrunde; der kann sie nicht festhalten, sie anzusprechen wagt er nicht, doch fasst er das kurze Erlebnis in den Worten „ein Blitz ... und dann die Nacht!“ zusammen. Ein Blitz „leuchtet“ da, wo er zerstört, ja ganz besonders stark.

Es gibt auch einen erhellenden Text des „Librettisten“ zu dieser Musik. So schreibt Griffith, die Sängerin wende zeitweilig „eine bei Monteverdi typische Technik an“, „das Repetieren auf einer Note“. Das stimmt, das ist hörbar, aber nur wenn man auf die Idee des Vergleichs kommt, denn natürlich kommt auch dieses Element in der Vorlage bei Monteverdi ganz anders beim Hörer an als das, was Abrahamsen darauf macht. „Was einmal die Funktion des Ornaments erfüllte, wird für sie“, Ophelia, „das Werkzeug, mit dem sie zur gleichen Zeit zögerlich und nachdrücklich auftreten kann“, meint Griffith. Man kann vielleicht ergänzen, dass sie auch so etwas wie eine Eurydike ist, die in ihrer Schneewanderung den Orpheus zu finden hofft, der sie ins Leben zurückholen soll. Von Abrahamsen erfahren wir übrigens, dass er einen großen Zyklus Schnee geschrieben hat und noch in diesem Jahr seine erste Oper Die Schneekönigin, nach Hans Christian Andersen, uraufgeführt werden wird. Die Berliner Philharmoniker werden im nächsten Jahr sein Konzert für Horn und Orchester spielen und wenn ich richtig verstehe, ist auch das eine Uraufführung (am 31.1.2020).

Nur kurz noch zur zweiten Komposition dieses Abends, Éclairs sur l‘Au-delà (Streiflichter über das Jenseits, 1987-91) von Olivier Messiaen. Ein wundervolles Werk; vor allem vom Klang ist man bei diesem Komponisten regelmäßig berauscht. Von seiner Harmonik schreibt Wilhelmer, es seien „tonale Akkorde (meist aus Dur-Tonarten mit Kreuz-Vorzeichnung) mit vielen Zusatztönen angereichert“, jedenfalls kommt eine Dissonanz besonderer Art heraus - und ich dachte, man müsste einmal die Dissonanz verschiedenster Avantgardekomponisten unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen Spezifik, dann aber auch in der Perspektive des Hörers, dem sich jedesmal ein anderer immer auch emotionsgeladener Klang mitteilt, vergleichen. Ist das schon mal unternommen worden? Abgesehen davon sei noch erwähnt, dass auch in den Éclairs das Vogelkonzert eine zentrale Rolle spielt, sich durch die ganze Komposition zieht. In meiner Besprechung von Messiaens Catalogue d’Oiseaux für Klavier, die online noch nicht erschienen ist, hatte ich den Teichrohrsänger hervorgehoben, im gestern aufgeführten orchestralen Spätwerk werden wir mit dem Prachtleierschwanz bekannt gemacht, den Messiaen selbst gerade erst auf einer Australien-Reise kennengelernt hatte. Er war damals schon 80 Jahre alt.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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