Die beiden auf den Seiten 136 und 137 nebeneinander abgebildeten Fotos gehören zu denen, die mehr sagen als tausend Worte. Rechts Johannes Paul II., wie er am Flughafen der Hauptstadt von Nicaragua den Pater Ernesto Cardenal, Minister der sandinistischen Regierung und wichtiger Vertreter der Befreiungstheologie, mit erhobenem Zeigefinger ermahnt. Es ist eine widerliche Szene: Cardenal, ein Greis mit weißem Bart und Haupthaar, kniet vor dem Papst und schaut demütig zu ihm auf, sein Mund ist zum Lächeln verzerrt, indes der harte Herrenmensch über ihm seine Macht ausspielt und auskostet. Das Foto links zeigt denselben Papst, wie er neben dem chilenischen Mörderdiktator Pinochet auf dem Balkon stehend irgendwelchen Massen zuwinkt, die man nicht sieht. Beide lächeln hoheitsvoll und sind ein Herz und eine Seele. Johannes Paul verbot Cardenal die Ausübung des Priesteramts. Die Suspendierung wurde erst 2014 aufgehoben: durch Papst Franziskus.
Während Johannes Paul keine Skrupel hatte, 1998 den kroatischen Erzbischof Alojzije Stepinac seligzusprechen, der die Kollaboration mit Nazi-Deutschland befürwortete, war Óscar Romero, der 1980 ermordete Erzbischof von San Salvador, unter ihm chancenlos. Romero hatte sich auf die Seite der Armen gestellt. Sein Seligsprechungsprozess war 1994 begonnen worden, doch wiederum erst 2014 wurde er durch Franziskus „deblockiert“ und konnte 2015 zum Abschluss gebracht werden.
Franziskus fällt vom Himmel
Franziskus sagte einer Zeitung, Romero sei auch deshalb ein Märtyrer, weil er noch nach dem Mord „von seinen Brüdern in der Priesterschaft und im Episkopat diffamiert und verleumdet“ worden sei. Im Titel des Buchs von Diego Siragusa wird gefragt, ob der amtierende Papst ein Marxist sei. Nein, das ist er nicht. Aber aus seiner Haltung zu den Vorbildern, denn das sind „Selige“ für katholische Christen, wird deutlich, dass er für eine kirchengeschichtliche Wende steht. Sehr richtig stellt Siragusa fest, dass der Klassenkampf auch um die Kirche keinen Bogen macht. Buchstäblich jahrtausendelang stand sie auf der Seite der Herrschenden – damit ist es jetzt erst einmal vorbei.
Eine Wende vollzieht sich nicht von einer Sekunde zur anderen. Wir sehen daher schon Franziskus’ Vorgänger im Begriff, sie zu vollziehen. Selbst Johannes Paul II., der als polnischer Bischof noch in der Tradition stand, vor allem den Marxismus und Sozialismus für Teufelszeug zu halten, ist gelegentlich durch scharf antikapitalistische Töne aufgefallen. Doch als Nachfolger Pauls VI., der seine Amtszeit noch während des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 – 65) begann, erscheint er als Rückfall und Hemmschuh in einem Prozess, der sich schon nicht mehr aufhalten ließ. Hatte doch Paul VI. in seiner Enzyklika Populorum progressio (1967) geschrieben, es könne notwendig werden, die Befreiung großer im Elend lebender Gruppen durch eine politische Revolution zu erreichen. Die eigentliche Wende war zweifellos jenes Konzil, das Johannes XXIII. zum Zweck eines „aggiornamento“, einer Erneuerung der Kirche, einberufen hatte. Hannah Arendt berichtet, sie habe sich zur Zeit seiner Wahl in Rom aufgehalten und da habe ihr Hotelzimmermädchen sehr erstaunt geäußert, die Kardinäle hätten ja einen Christen zum Papst gemacht!
Dieser Prozess der Kirchenwende wird von Siragusa nicht dargestellt, bei ihm fällt Franziskus eher vom Himmel; wir erfahren nicht, dass Jorge Bergoglio schon in der vorletzten Papstwahl, die der deutsche Kardinal Josef Ratzinger gewann, zu den Kandidaten gehört hatte. Umso besser wird aber die andere, rein biografische Dimension der Wende beleuchtet. Denn Bergoglio ist ja nicht, wie die Bibel es von Jesus behauptet, als Heilsbringer schon geboren worden. Er hat sich selber wenden müssen in einer argentinischen Kirche, die mit Jorge Videlas Militärdiktatur kollaboriert, ja sie überhaupt erst ermöglicht hatte.
Kein Widerstandskämpfer
Am Vorabend des Militärputsches hatte sich Videla mit Kirchenvertretern abgesprochen. Bergoglio war in dieser Zeit kein Kollaborateur. Ein argentinischer Journalist behauptet zwar hartnäckig, er habe zwei Priester, die in den Slums gearbeitet hatten, denunziert und dem Regime ausgeliefert; aber schon weil niemand bestreitet, dass er anderen Priestern zur Flucht verhalf, kann das kaum zutreffen. Ein Widerstandskämpfer wie jener Romero, den er später seligsprechen ließ, war Bergoglio allerdings ebenso wenig. Biblisch gesprochen ähnelt er nicht Stephanus, dem ersten aller Märtyrer, der gesteinigt wurde, sondern dem heiligen Petrus, der Jesus verleugnete, es bereute und gerade deshalb zum „Fels“ und Fundament der Kirche wurde, von dem sich alle Päpste herleiten.
Siragusa denkt nicht so, was er aber recht gut beleuchtet, ist Bergoglios rein politische Entwicklung, die damit begann, dass er in seiner Jugend dem Peronismus anhing. Wir erfahren nebenbei, auch Fidel Castro ist in seiner Studentenzeit Peronist gewesen. Wie sich Juan Peron selber während seiner beiden Präsidentschaften politisch entwickelte, stellt Siragusa nahezu lückenlos dar: anfangs eine Art Linksfaschist, der nach dem „dritten Weg“ zwischen dem Imperialismus der USA und dem ebenso abgelehnten sowjetischen Lager sucht, ist er am Ende ein ganz gewöhnlicher rechter Regierungschef. Bergoglio aber findet zu seinen linken Wurzeln zurück und sagt heute, er halte zwar die „marxistische Ideologie“ für falsch, „aber in meinem Leben habe ich so viele Marxisten kennengelernt, die gute Menschen waren, dass ich mich“, wenn Gegner ihn als Marxisten etikettierten, „nicht beleidigt fühle“.
Info
Papst Franziskus, ein Marxist? Innovation und Kontinuität in der Soziallehre der Kirche Diego Siragusa Zambom 2019, 268 S., 18 €
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