Die Metamorphosen für 23 Solostreicher (1945) von Richard Strauss (1864-1949) habe ich oft, sehr oft gehört - eine unglaublich schöne, eindeutig tonale und dabei so originelle Musik, dass man meint, eine der Botschaften, die der Komponist damit verbunden haben mochte, könnte die sein, dass es gar nicht nötig gewesen wäre, der tonalen eine atonale Musik zur Seite zu stellen oder gar jene durch diese abzulösen. Es war das ja jedenfalls die Doktrin des eben untergegangenen NS-Staates, in der jegliche atonale Musik verboten war. Strauss hatte sich da zum Präsidenten der Reichsmusikkammer machen lassen (1933-35) und hatte zu den Olympischen Sommerspielen 1936 die Hymne beigesteuert. Man weiß auch, dass er nach dem verlorenen Krieg fürchtete, die deutsche Musiktradition werde dem Vergessen anheimfallen.
Im Konzertsaal, glaube ich fast, war mir das halbstündige Werk noch nie zu Ohren gekommen. Der gestrige Abend, als das Rundfunk-Sinfonieorchester unter Leitung seines Chefdirigenten Vladimir Jurowski spielte, wurde mit ihm eingeleitet. Es war ein Erlebnis, wozu Jurowskis plastisches Talent sicher viel beitrug. Aber schon seine Entscheidung, die Streicher und Streicherinnen stehend spielen zu lassen, gab der Darbietung eine quasi existenzielle Dimension. Ich werde den Abend so schnell nicht vergessen. Auch das Programmheft mit den sehr guten Beiträgen Steffen Georgis trug zum Erfolg bei. Ich war zum Beispiel noch nicht auf die Idee gekommen, die Metamorphosen in eine Linie mit dem Sextett für Solostreicher, das die Strauss-Oper Capriccio (1942) einleitet, zu stellen; Georgi weist darauf hin, dass auch für die Metamorphosen ein ursprünglich geplantes Sextett die Keimzelle war und dass es eine Frühfassung als Septett gibt, die erst vor wenigen Jahren rekonstruiert werden konnte. Auf die Nähe beider Werke kann der Hörer wahrlich auch ohne solche Hinweise aufmerksam werden, denn es zeichnet sie eine kristallene Reinheit aus, bei äußerst verschlungener Polyphonie, man möchte sagen: wie Glas kurz vor dem Zerspringen, für die man schwerlich noch ein weiteres Beispiel finden wird. Wenn man bedenkt, welche Realitäten hinter der Musik stehen, wird man sagen, sie sei Ideologie. Sie ist aber wohl auch ein Versuch, die „Idee“ der (tonalen) Musik von allem Geschichtlichen zu sondern und gegen es festzuhalten. Mir war die Nähe nie aufgefallen, obwohl ich auch das Capriccio-Sextett sehr gut kenne, wahrscheinlich weil ich die Kontexte der beiden Kompositionen nicht zusammenbrachte; unter Jurowskis Dirigat war sie zu hören.
Ganz am Ende der Metamorphosen wird der Anfang des Trauermarsches aus Beethovens dritter Symphonie, der Eroica (1805), wörtlich zitiert und damit legt Strauss den Charakter der gesamten Komposition offen. Dass sie Züge eines Trauermarsches hat, hört man auch ohne das, ja man hört es in vielen CD-Aufnahmen nur allzu gut, denn sie hinterlassen den Eindruck, das sei schon alles, was sie emotional mitteilt. Während Jurowski zeigt, dass eigentlich nur der Anfang und das Ende trauermarschmäßig komponiert sind. Es ist der Rahmen, der angibt, was das Thema ist: ein Leben als abgeschlossenes. Eingerahmt wird aber eben das Leben. Die Metamorphosen sind überwiegend lebendig und lebensfroh, vor nie fehlendem tragischen Hintergrund freilich, so eben, wie man es von dem Nietzscheaner, der Strauss war, erwartet. Was aber den Rahmen angeht, so hat er den Eroica-Trauermarsch auch schon am Anfang zitiert, ein Stück aus der Mitte des dortigen Themas, eine abwärts laufende punktierte Linie, nur dass man sie wegen des komponierten Umfelds nicht wiedererkennt.
Wo ein Trauermarsch ist, muss auch ein Held sein, der betrauert wird. In der angelsächsischen Forschung wurde oft unterstellt, dieser Held sei für Strauss Hitler gewesen. Die deutsche Forschung hat das zurückgewiesen, und wie ich glaube mit Recht – trotz allem, was ich selbst zum möglichen Stützung der These noch anführen muss. Ich halte es aber doch für wahrscheinlicher, dass der zum Zeitpunkt der Komposition 81-jährige Strauss sich selbst feierte. Es gab ja schon ein Werk von ihm, das Ein Heldenleben betitelt war und ihn selbst zum Thema hatte. Komponiert 1898, da war er 34 Jahre alt! Er ironisiert sich zwar in dieser Komposition und hat natürlich auch den Titel ironisch gemeint, aber trotzdem... Und auch bei der Tondichtung Tod und Verklärung, die er als 25-Jähriger schrieb, wird er an sich selbst gedacht haben: Es soll, wie er schreibt, von einem Todkranken handeln, dem noch einmal „das Ideal“ erscheint, „das er zu verwirklichen, künstlerisch darzustellen versucht hat, das er aber nicht vollenden konnte, weil es von einem Menschen nicht zu vollenden war“. Ja, an Selbstbewusstsein hat es ihm nicht gefehlt. Im Sommer 1942 war er allein vor die Tore des KZs Theresienstadt getreten, wo jüdische Verwandte seiner Schwiegertochter interniert waren; er dachte, wenn er, der berühmte Herr Strauss, da ein Donnerwetter losließ, würde man sie wohl freigeben. Natürlich musste er kleinlaut wieder abziehen.
Die Episode zeigt, dass er alles andere als ein Nazi war. Vermutlich glaubte er, den NS-Staat für sein musikalisches Programm einspannen zu können. Das Programmheft hebt gebührend hervor, dass er nicht nur kein Antisemit war, sondern dies auch öffentlich zur Schau stellte. So ließ er sich zwar von Goebbels zum Präsidenten der Reichsmusikkammer machen, weigerte sich aber, deren Statut zu unterschreiben, das einen Arier-Paragraphen enthielt. Man muss dennoch beklagen, dass sich Steffen Georgi der geläufigen Unsitte anschließt, nur Strauss‘ positive Seiten hervorzuheben. Wir lesen, dass er „die Streicher-Goebbelssche Judenhetze für eine Schmach für die deutsche Ehre“ gehalten hat, ja, so steht es in seinen Privataufzeichnungen. Lesen aber nicht, dass er Hitler dennoch verehrte. Sein Brief an seinen jüdischen Librettisten, den Schriftsteller Stefan Zweig, wird zitiert: „Dass ich den Präsidenten der Reichsmusikkammer mime? Um Gutes zu tun und größeres Unglück zu verhüten. Einfach aus künstlerischem Pflichtbewusstsein! Unter jeder Regierung hätte ich dieses ärgerreiche Ehrenamt angenommen.“ Der Brief wurde abgefangen und kostete Strauss das Amt. Wir lesen nicht, dass er Zweig für dessen Nichtbeteiligung an der „Lügenpropaganda gegen Hitler“ lobte (Brief vom 24.5.1934). Auch nicht, dass er sich gegen den Rausschmiss aus der Musikkammer mit einem Brief an Hitler wehrte (vom 13.7.1935), wo er flehentlich um eine persönliche Unterredung zwecks Rechtfertigung bat. Walter Panofsky schreibt dazu: „Es ist ein beklagenswerter Brief; er gipfelt in einem Kotau vor dem ‚großen Gestalter des deutschen Gesamtlebens‘.“ (Richard Strauss. Partitur eines Lebens, München 1965, S. 295) Also, jenes Amt hatte er bestimmt auch angenommen, um „Unglück zu verhüten“ - aber dass er es nur „ärgerreich“ fand, darf man bezweifeln.
Sicher war er auch nicht traurig darüber, dass Hitler persönlich anwesend war, als sein 75. Geburtstag mit der Darbietung seiner ein Jahr zuvor komponierten Oper Friedenstag gefeiert wurde. Dieser Einakter hat, nebenbei, etwas damit zu tun, dass ich Journalist wurde. Die NS-Presse hatte geurteilt, in ihr habe Strauss erstmals „nationalsozialistisches Ethos“ gestaltet, was sich mir in einer Analyse, die ich dazu schrieb, bestätigte; Strauss hatte sich da in eine Kampagne zur psychologischen Vorbereitung auf den Weltkrieg einspannen lassen („Verbrenne die Mauern, schließe uns ein“. Ein Opernskandal, der totgeschwiegen wird, in: Kommune 1/1990, S. 68-74; das Zitat im Titel stammt aus dem Libretto). Ich war anwesend, als Friedenstag am 3.9.1989, nunmehr um 125. Strauss‘ Geburtstag und 40. Todestag zu ehren, in Westberlin gegeben wurde - wenige Wochen vor der Öffnung der Berliner Mauer am 9.11.1989, diesmal in Anwesenheit des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Was mich besonders erschütterte, waren die dreisten Lügen, die damals im Programmheft standen. Da las man zum Beispiel, Strauss sei 1935 vom Amt des Präsidenten der Reichsmusikkammer zurückgetreten, um damit politisch gegen die Nazis zu demonstrieren. Als Musikliebhaber konnte ich mit Strauss‘ durchwachsener Persönlichkeit leben, nicht aber mit der politischen Szenerie, die ab 1990 heraufzudämmern schien.
Gestern Abend standen noch White für Doppeltrichtertrompete solo (2015, rev. 2016) von Rebecca Saunders und die Fünfte von Beethoven, eingeleitet durch Beethovens Drei Equale für vier Posaunen WoO 30 (1812), auf dem Programm. Diese Equale sind keine besonders anspruchsvolle Musik, haben aber dadurch Bedeutung, dass sie auch zu Beethovens Beerdigung gespielt wurden. Mit der Idee, Beethovens Fünfte durch andere Musik einzuleiten – in beiden Fällen so, dass die eine in die andere direkt überging – hatte sich Jurowski auf dem Musikfest 2017 als neuer Chefdirigent des RSO eingeführt; damals ging Luigi Nonos „Fučik“ (entstanden 1951, uraufgeführt 2006) voraus. Julius Fučik war ein tschechischer Journalist und Schriftsteller, der sich als Mitglied der Kommunistischen Partei in Prag vor den Nazis zu verstecken versuchte, aber doch gefasst und im September 1943 im Gestapo-Gefängnis Berlin Plötzensee hingerichtet wurde. Jurowski versteht es jedenfalls, sein Publikum emotional mitzureißen.
Zu Saunders schreibe ich anlässlich der Film & Live-Musik am Montag, wo sie ebenfalls mit einer Komposition für Trompete Solo beteiligt ist.
Kommentare 11
Lieber Michael, herzlichen Dank für deinen Text! Leider ist dir da ein Fehler passiert: Der Mauerfall war 1989.
Lieber Kurt, vielen Dank. Auch die Aufführung, in der anwesend war, war natürlich 1989. Und ich habe eben noch andere Zahlen korrigieren müssen. Ich hatte den Text am Samstag in zu großer Eile geschrieben. Jetzt stimmt aber alles.
... in der ich anwesend war ...
Die Metamorphosen sind auch in meinen Ohren eines der stärkeren Werke dieses Komponisten wie auch das sehr ähnliche Sextett aus Capriccio. Es ist in Coronazeiten besonders naheliegend, die Metamorphosen als Septett aufzuführen, mE würde das Werk in dieser solistischen Verdünnung sogar gewinnen, ähnlich wie ich die Streichorchestervariante der Verklärten Nacht zwar interessant, aber der Sextettvariante deutlich unterlegen finde. Warum also nicht das Interessante mit dem Nützlichen verbinden?
Ein paar abweichende Meinungen: Ich höre trotz des Beethovenzitats aus dem Trauermarsch in den M eher die Elegie (schon das ist evt zu negativ), also wehmütige Unbestimmtheit, Passivität, als aktiven, explizierbaren Schmerz, und statt eines schleppenden Marsches eher den drängenden drive des Beethovens V. entlehnten Kopfmotivs ta-ta-ta-taa (in der Verklärten Nacht übrigens das schleppende ta-ta-ta-taa, das näher am Trauermarsch, weiter von Beethoven entfernt ist).
Aber ich denke, daß die von Strauss gewählte Großform noch stärker als absolute Musik verstanden werden muß, wenn ich mir den hochspekulativen Gedanken erlauben darf: die Musik als säkulare Transfiguration. Hier wird ein Aspekt der musikalischen Entwicklung zu Ende gebracht, richtiger: zur Unendlichkeit. So wie die (unendliche) Melodie horizontal entgrenzt wird, wird hier die Harmonik, dh die vertikale Dynamik entgrenzt. Der harmonische Verlauf ist weniger variativ, eher assoziativ. Die Stimmen sind konfigurativ, die Musik ein akustisches Mobile, gebildet aus Mikromotiven, die nicht entwickelt werden, sondern ständig neue Verbindungen eingehen. Das wird von dem Titel richtig erfaßt, es sind keine Variationen, sondern Metamorphosen von Klang, eine differenzielle Klangwandlung. Und das markiert die Stärke und Schwäche dieser Kunst. Sie findet nicht heraus aus der Tonalität, sie totalisiert sie. Das ist beeindruckend gemacht, aber auch eine Sackgasse. Gerade der Vergleich mit der Verklärten Nacht kann das gut demonstrieren. Es gibt durchaus eine Ähnlichkeit, etwa die Dominanz der Harmonik und das figurative Spiel differentieller Entwicklung. Aber Schönberg arbeitet weiterhin mit melodiösen und harmonischen Großformen, Strauss ist impressionistischer, Schönberg expressionistischer, und das führt dann ziemlich zwangsläufig zur freien Atonalität.
Die Art, wie Strauss komponiert, finde ich sehr gut beschrieben. Aber „Sackgasse“, das ist wieder dieser Gedanke von der musikalischn Fortschrittslogik, derzufolge Strauss „schlechter“ sein muß als Schönberg. Mir scheint eher, daß „Metamorphose statt Variation“ auch die Entwicklung eines Klangs aus dem anderen in vieler Avantgardemusik, auch wenn die dann nicht mehr tonal ist, treffend beschreibt. Vielleicht kann man sogar an Schönberg selbst denken, wie er die Klangentwicklung aus der Nähe der aufeinander folgenden Tonkonstellationen irgendwo, ich glaube in der Harmonielehre, beschreibt. Oder um es umgekehrt zu sagen, Strauss selber hat da nicht so viel anders gedacht als die Atonalen, nur daß er es im Rahmen des Tonalen verwirklichen wollte. Er ist freilich nicht immer so radikal vorgegangen wie in der ELEKTRA und dann wieder in den METAMORPHOSEN, schon deshalb konnte nie der Eindruck einer Konkurrenz beider Wege auf gleicher Augenhöhe entstehen – so sehe ich das.
Nochmal zum Fortschritt, wir haben uns ja schon oft darüber unterhalten. ME ist die Rede vom Materialstand ganz angemessen. Kunst, in unserem Fall Musik, entwickelt sich als Sprache auf der syntaktischen Ebene, und da kann man in einem objektiven Sinn von Fortschritt reden. Aber die künstlerische Qualität ist gerade darum praktisch inkommensurabel, Bach, Schubert, Ligeti müssen jeweils an der Bewältigung ihres musikalischen Materials gemessen werden, ein nicht rein technisch definierter Begriff von Fortschritt läge nur vor, wenn bspw Ligeti mit dem Bachschen Materialstand sich begnügen und zu überzeugenderen Lösungen kommen würde. Andrerseits muß man eine Musik, die nicht ihr allbekanntes tradiertes Material kreativ ausschöpft und auf die bereits entwickelten Erweiterungen der Musiksprache verzichtet, veraltet nennen. Genies gibt es als Neuerer und als Vollender, wenn man weder das eine noch das andere ist, hat man jedoch wenig zu sagen. Fortschritt ist es, dem Bestehenden ein Referenzmodell hinzuzufügen oder das Bestehende innovativ zu überbieten, es alt aussehen lassen. Kurz: Es gibt Fortschritt, aber die Up-to-date-heit allein ist kein Qualitätskriterium. Und es ist noch dialektischer: in der Kunst der Fuge ist Bach (musiksprachlich) ziemlich veraltet, und es ist doch eines seiner zukunftweisendsten, wirkmächtigsten Werke. Oder Ferruccio Busoni, der der Komponist sowohl der Fantasia contrappuntistica als auch der Berceuse élégiaque ist. Nicht anschließen kann ich mich Adornos harschem Urteil, Skriabin war der fortschrittliche, visionäre, Rachmaninow der zurückgebliebene, und doch hat letzterer mit der Toteninsel ein Meisterwerk verfaßt, das in Ansätzen durchaus auf den späten Skriabin verweist. Strauss ist in seinen besten Werken fortgeschrittendste Spätromantik. Aber er konnte, wie auch Zemlinsky oder Schreker, diesen Horizont nicht überschreiten. Schönberg hat das klar erkannt, er war Spätromantiker wie die vorgenannten, aber er hat das tonale Idiom, das Denken in tonalen Gravitationszentren transzendiert, zunächst in der freien Atonalität, die allerdings immer noch zu leicht tonal gedeutet werden kann als ein Bewegen in Klängen sehr entfernter Verwandtschaften; Schönberg hat darum die Entdeckung der Dodekaphonie für den eigentlichen Bruch gehalten, das ist für mich sehr schade, denn dadurch war die Entfaltung der freien Atonalität für lange Zeit blockiert.
Den Begriff des Fortschritts, die Fortschrittslogik in Kunst und Musik aufzugeben, macht keinen Sinn, man kann unsere Musik nicht verstehen ohne diese Dynamik. Aber auch mit dieser Entwicklungslogik ist es einfältig, das entwicklungslogisch frühere, alte, veraltete „schlecht“ zu nennen, das, lieber Michael, habe ich nicht getan. Ich käme nie auf die Idee, die Musik von Bach oder Beethoven als schlecht zu bezeichnen, nur weil sie in/mit einer veralteten Sprache formuliert ist. Im Gegenteil würde ich würdigen, wenn jemand heute „im alten Stil“, mit den musikalischen Mitteln von Bach oder Beethoven die Meister übertreffen könnte. Ich glaube nicht, daß irgend jemand das macht und schafft, die alten Mittel sind von den Meistern weitgehend ausgeschöpft, da macht der Verzicht auf die heutigen musikalischen Mittel wenig Sinn.
Strauss hat in Elektra, dem Sextett und den Metamorphosen, da bin ich ganz d‘accord, die spätromantische Musik auf eine neue Höhe gehoben, und „Metamorphose statt Variation“ gibt es natürlich auch in der Avantgardemusik,aber Strauss hat sich nicht der bereits zur Verfügung stehenden neuen Musiksprache bedient, in genau diesem Sinne ist er veraltet. Und damit sind ihm Ausdrucksmöglichkeiten verschlossen, das sollte man nicht bloß als technischen Mangel betrachten. Daß die Verklärte Nacht, die ich zum Vergleich herangezogen hatte, weil sie sehr viel strukturelle Ähnlichkeit aufweist, fast ein halbes Jahrhundert früher als die Metamorphosen entstanden sind, ist Strauss nicht vorzuhalten, aber in der Verklärten Nacht steckt schon das Potential des 2. Streichquartetts, das ganz Neue, das sehe ich in den Metamorphosen nicht gegeben.
„Strauss hat sich nicht der bereits zur Verfügung stehenden neuen Musiksprache bedient.“ Darauf und nur darauf habe ich mich bezogen, wenn ich schrieb, wer das kritisiere, glaube sich berechtigt, Strauss‘ Musiksprache für die schlechtere zu erklären. Man kann aber doch auch urteilen, Strauss habe auch selber eine neue Musiksprache zur Vefügung gestellt. Gewiß mit dem Unterschied, daß er den Grundton nicht aufgegeben hat. Aber das war ja nun seine Sache. Kann man sagen, daß seine neue Sprache in „Elektra“ weniger neue Ausdifferenzierung enthalten hat als diejenige Schönbergs? Oder womit argumentierst du? Hat er vielleicht nur ANDERS ausdifferenziert, aber auf demselben Niveau? Er ist nach der „Elektra“ zurückgefallen, das ist aber eine Frage für sich.
Wenn man von ihr mal abstrahiert, muß man, meine ich, davon ausgehen, daß es für „den Fortschritt“ nicht nur eine einzige Linie gibt; es gibt Punkte des Weitergehens, wo sich verschiedene gleich wertvolle bessere Wege abzweigen.
Um genauer zu formulieren, gleich wertvoll und besser SCHEINENDE Wege. Das ist aber bei jeder Frage so, die sich jemandem stellt: Man kann sich nie für die beste Antwort entscheiden, immer nur für die am besten scheinende. Hat Schönberg besser entschieden? „Elektra“ zeigt jedenfalls, daß es der Abschaffung des Grundtons nicht bedurfte, um auf radikalste Weise Nihilismus hörbar zu machen. Auch nicht, wie gesagt, um die Musik genauso sprunghaft auszudifferenzieren. Für den Weg vom Strauss, wenn er dabei geblieben wäre, hätte gesprochen, daß es vielleicht nicht zur Spaltung in ein kleines Avantgardepublikum und die große Mehrheit derer, zu denn die Avantgardemusik nicht sprach, gekommen wäre. (Mit Hitler hätte er sich dann NICHT verbünden können. Die Frage des Bündnisses mit Hitler hing nicht von Tonalität js oder nein ab. Brecht/Eisler war tonal, Webern, falls es stimmt, daß er NS-Neigung hatte, war atonal.)
Ich finde das Wort vom Fortschritt in der Musik auch schwierig, wenngleich rein auf der syntaktischen Ebene, wie es Endemann entfaltet, gut nachvollziehbar. Aber Musik ist eben, wie auch Sprache, nie nur eine technische Übung. Frank Schneider hat in einem Aufsatz das Politische an Strauss treffend mit seinem Komponieren in den 30er und 40er Jahren zusammengebracht. Strauss war, als etablierter Komponist, mit heutigen Worten gesprochen, in einer Filterblase. Sicher hat er sich auch sozial eingesetzt - kannte aber nichts außerhalb der Sphäre der Orchester und Opernhäuser. So fand Strauss nur abfällige Worte etwa für die Sozialpolitik des “Kabinetts Brüning“ und wie dieses Geld an der Oper fehle (das u.a. dokumentiert in Fred K. Priebergs “Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945“). Schneider formuliert, dass Strauss' Komponieren wie auch seine Opernsujets seine Sprachlosigkeit angesichts der Verwerfungen in der Weimarer Republik und des folgenden Nazi-Deutschlands widerspiegele. Zwar spricht Schneider in seinem Aufsatz-Band “Musik und Politik“ erkennbar aus der politischen Doktrin der DDR heraus, doch ist das Argument in Sachen Strauss durchaus nicht überzogen oder von der Hand zu weisen. Und wir wissen auch, dass Strauss nicht der einzige Kulturschaffende war, der gerade die Nazizeit mit einer Mischung aus Einigelung, Appeasement mir dem Machtapparat und auch Selbstüberschätzung durchlebte.
Strauss war kein Fortschrittlicher - so sehr er doch auch Künstler war. Mein Verhältnis zu Strauss ist sehr ambivalent. Seine Musikkunst nach der avantgardistischen Phase mit “Zarathustra“, “Elektra“ und “Salome“ empfinde ich als Festhalten am souverän Gekonnten. Vielleicht ein schwieriger Vergleich: Beethoven etwa ganz anders. Der hat gerungen bis zum Schluss; auch auf die Gefahr hin, zu verunfallen. Strauss ein vollkommen gegensätzlicher Charakter, dem nie eingefallen wäre, wohl auch nicht einfallen musste, dem “Schicksal in den Rachen zu greifen“. Strauss' war immer souverän und stets, um das Wort Eislers über Stefan Zweig zu borgen, “Kulturbourgeoise“. Vielleicht mit Ausnahme der Metamorphosen, glänzt Strauss' Musik immer. Seine Handwerksfertigkeit ist faszinierend wie die Musik aber trotzdem auch nicht geistlos. Aber ich kann Strauss doch nicht mehr hören, ohne dass der Sozialidiot im Hintergrund stört.
„… daß es für „den Fortschritt“ nicht nur eine einzige Linie gibt“ - selbstverständlich kann man in der Regel davon ausgehen, aber nicht davon, daß alle Linien gleichwertig sind. Wir reden hier von der Entwicklung der musikalischen Sprache, und das ist als Thema viel zu breit, um allgemeine Aussagen machen zu können. Grenzen wir es also ein auf die Frage, ob die Substitution der Sprache der Tonalität durch die Sprache der Atonalität als Fortschritt gesehen werden kann/muß. Es geht also nicht darum, wie gut sich jemand in einer dieser Sprachen ausdrücken kann, sondern wie gut das Ausdruckspotential der jeweiligen Sprache insgesamt ist.
Offensichtlich haben die Komponisten um die Jahrhundertwende (um 1900 und später) auffallend stark darum gerungen, eine angemessene Sprache für ihre Zeit und ihre Gefühle zu finden, weder die klassische noch die romantische Sprechweise reichten dazu aus. Die spätromantische Übersteigerung war nur eine Form, und die Kriegsjahre haben die Selbstverständlichkeiten noch deutlicher in Frage gestellt. Der Expressionismus brachte eine Schärfe in die Kunst, die überhaupt erst vieles sagbar machte. Die ganz großen Brüche waren die abstrakte Malerei, die Atonalität, und vielleicht Dada. In diesem Sinn sehe ich nicht, daß das mit Atonalität ausdrückbare auch tonal hätte gesagt werden können – nicht gleichwertig. Die Sprache Mozarts, aber auch die von Brahms, konnten das nicht leisten. Eine andere Frage an dieser Stelle ist, ob nicht mit dem Sprachenwechsel auch gravierende Verluste verbunden waren, diese Frage lasse ich hier offen.
Wenn man die freie Atonalität als eine radikale Erweiterung der Tonalität sieht, so, wie in der Riemannschen Geometrie die Euklidische enthalten ist, aber als Grenzfall, ist dieser Zugewinn an Ausdrucksmöglichkeiten zwangsläufig gegeben, die abstraktere Sprache der Atonalität liefert automatisch ein ungemein größeres Ausdrucksbesteck. Freilich muß diese Sprache erst entwickelt werden. Bei Berg geht im Wozzeck die Musik ganz zwanglos in Tonalität über, ohne daß die Motive wechseln, und entsprechend verliert sich die Tonalität wieder. Der Moll-Dreiklang (d-Moll) im III.Akt, vorletzte Szene, erhält in der umgebenden Atonalität ein Gewicht, das er in der Tonalität nicht haben kann. Und dann der harte, schockhafte Kontrast in der ersten Szene des 3.Akts von märchenhaftem Glaubensnarrativ („und ist kein Betrug ...“) und Realitätssicht („Herrgott“), „der Bub gibt mir einen Stich ins Herz“ wird nicht nur getextet, sondern musikalisiert. „Fort“, und dann das „nein komm, komm her, komm zu mir. Es war einmal...“ in f-Moll. Solcher Kontrast ist innerhalb der Tonalität unerreichbar. Aber zur Ausdrucksgrenze der Spätromantik kommt man schon, wenn man fragt, wie Strauss etwa den Charakter der „Geschichte des Soldaten“ spätromantisch umsetzen könnte (musikhistorisch ist der Neoklassizismus natürlich eher ein Rückschritt, allenfalls kann man ihn als ironische Reflexion deuten).
Für mich zeigen bspw Schönbergs zweites Streichquartett und der Pierrot lunaire, daß man in dieser Musiksprache alles artikulieren kann – vielleicht muß man dafür allerdings Schönberg sein. Dieser Komponist hat die spätromantische Musiksprache beherrscht wie kein anderer. Wir wissen um seinen Kampf mit der Materie, er hat die Musiksprache aus diesem extremen Ausdruckswillen gewechselt. Und kann man da nicht von einem objektiven Fortschritt in der Musiksprache sprechen?
Vielleicht ist ja doch was dran an Adornos Idee, den Fortschritt an die Wahrheitssuche zu knüpfen. Der eine, Strauss, suchte die Schönheit, der andere, Schönberg, suchte die Wahrheit, Strauss blieb bei aller Dramatik im schönen Schein befangen.
Ja, bestimmt könnte man Schönberg und Strauss zunächst so nebeneinander stellen. Zumindest insofern, als Strauss in keiner Weise als progressiv verstanden werden kann.