Als die Agentur Moody’s vorige Woche die deutschen Bonitätsaussichten auf „negativ“ herabstufte, war einer ihrer Gründe ein in der Öffentlichkeit immer noch kaum bekanntes Phänomen: der „Target2-Saldo“ der Deutschen Bundesbank. Target2 ist eigentlich nur ein Verrechnungssystem der Euro-Staaten untereinander (siehe Schaubild). Führende Ökonomen sehen es aber inzwischen als unerkannten Sprengsatz in der Euro-Krise.
Grundsätzlich ist das 2007 eingeführte System sinnvoll und notwendig. Die Abertausend Transaktionen zwischen den Banken im Euroraum sollen nicht wild nebeneinanderherlaufen, sondern zentral gebündelt werden. Das geschieht bei der Europäischen Zentralbank. Alle Zahlungen ins und aus dem Ausland – ob es nun um einen Kredit geht oder um die Abwicklung eines Geschäfts, sei es von einer Geschäftsbank oder einer Privatperson – gehen an die EZB und werden von dort aus weitergeleitet. Die EZB wiederum hat als einzigen Partner in jedem Mitgliedsstaat die nationale Notenbank – in Deutschland also die Bundesbank. Diese bündelt Zahlungen der inländischen Geschäftsbanken und leitet sie an die EZB weiter oder nimmt deren Zahlungen an und schreibt sie für die inländischen Geschäftsbanken gut.
Der Haken an Target2: In dem Verrechnungssystem bleiben bei der EZB auf dem Papier Guthaben beziehungsweise Außenstände. Solange die EZB existiert, sind die jeweiligen Ansprüche bombensicher. Nur: Fiele die Europäische Zentralbank weg – etwa mit dem Ende des Euro –, gäbe es auch die dort geführten Konten der Staaten mit Gutschriften oder Schulden nicht mehr. Die Staaten, die sich bei anderen Staaten verschuldet haben, bräuchten ihnen nichts zurückzahlen – da sie nur der EZB verpflichtet wären. Gläubigerstaaten müssten auf Ansprüche verzichten.
Unübersichtliche Effekte
Lange brauchte das fast niemanden zu interessieren. Doch angesichts der zunehmenden Spekulationen über ein Ende des Euro scheint es plötzlich auch nicht mehr ausgeschlossen, dass die EZB tatsächlich wegfallen könnte. Das riefen am Tag nach der Erklärung von Moody’s 17 führende Ökonomen in Erinnerung, darunter die deutschen „Wirtschaftsweisen“ Peter Bofinger und Lars Feld. Ihr Appell spricht nicht nur von einer bloßen Möglichkeit, dass der Euro zerbricht. Sie warnen, der Zusammenbruch sei unvermeidlich, wenn nicht rasch Gegenmaßnahmen eingeleitet würden, wie zum Beispiel ein Schuldentilgungsfonds.
http://img18.imageshack.us/img18/683/123109grafik.jpgInfografik: der Freitag
Käme es wirklich zum Zusammenbruch der gemeinsamen Währung und ihrer Zentralbank, hätte das vor allem für Deutschland Folgen. Denn das Guthaben der Bundesbank im Target-Verrechnungssystem steigt von Monat zu Monat. Im Juni beliefen sich die deutschen Forderungen bereits auf 729 Milliarden Euro. Im Falle eines Euro-Zusammenbruchs bliebe die Bundesbank wohl zumindest zum Teil darauf sitzen. Zwar blieben Rückzahlungsforderungen deutscher Geschäftsbanken ans Ausland bestehen. Doch wäre die Rückzahlungssumme verschwunden und auch die Instanz, an die man die Forderungen richtet. Es blieben nur Verhandlungen Deutschlands mit Ländern wie Griechenland, Italien oder Spanien, die hohe Außenstände im Target-System haben. Falls diese aber nach einem Euro-Zusammenbruch nicht zahlen können oder wollen – dazu verpflichtet wären sie nicht.
Sinn kämpft um Aufmerksamkeit
Mehrere Fragen verdichten sich hier. Die erste ist, warum selbst Ökonomen die Wirkungsweise dieses Verrechnungssystems in der Wirtschafts- und Finanzkrise nicht mehr begreifen. Sie schätzen die Risiken und Effekte des Target-Systems völlig unterschiedlich ein. Mehr als ein Jahr lang kämpfte Hans-Werner Sinn, Chef des Münchener Ifo-Instituts, um Aufmerksamkeit für seine These von der Gefährlichkeit des Target-Systems, bis er wenigstens erreicht hatte, dass im Frühjahr 2012 über sie diskutiert wurde.
Zu diesem Zeitpunkt konnte der Saldo nicht mehr verdrängt werden. War er bis zum April 2011 von fast null auf 321 Milliarden Euro gestiegen, so betrug er im Januar 2012 schon fast 500 Milliarden. Danach wuchs er wie eine Lawine: 549 Milliarden im Februar, 616 im März, 644 im April. Immer noch behauptete die Bundesregierung, Target2 sei nur „ein technisches Detail“, über das sich nicht zu sprechen lohne. Dass sie selbst nicht daran glaubte, war freilich an einer Äußerung von Wirtschaftsminister Philipp Rösler im März zu sehen: Der „Zinssatz für Target-Kredite“ könne „künftig mit wachsenden Salden ansteigen“. Derweil stritten Ökonomen darüber, ob es sich im Verkehr zwischen EZB und staatlichen Zentralbanken überhaupt um Kredite handelt.
Denk' an Marx
Da fällt es schwer, nicht an die Krisentheorie von Karl Marx zu denken: Im Kapitalismus, schreibt Marx lapidar, müsse der Markt „beständig ausgedehnt werden, sodass seine Zusammenhänge und die sie regelnden Bedingungen immer unkontrollierbarer werden“. Das ist logisch. Eine Sache, die immer mehr wächst, wird immer unüberschaubarer, der schauende Mensch indes wächst nicht ins Unendliche mit, sondern wird ab einer gewissen Stufe des Ausdehnungsprozesses im doppelten Wortsinn fassungslos.
Ein anderer Streit brach darüber aus, was die Ursache des Saldos sei. Sinn glaubte, der chronische deutsche Exportüberschuss sei der Grund: Die in der Bundesbank konzentrierten Guthaben deutscher Geschäftsbanken, in denen er sich niederschlägt, werden in normalen Zeiten an Geschäftsbanken der Staaten mit Importüberschuss verliehen, sodass ein Saldo bei der Bundesbank allenfalls kurzzeitig entsteht und gleich wieder verschwindet. Jetzt in der Krise indes bleiben die deutschen Banken auf ihrem Geld lieber sitzen. Deshalb, so meinte Sinn, wächst der Saldo.
Ade, Wintergespenster
Der Münchener Ökonom Gerhard Illing fand dann aber heraus, dass „die Korrelation zwischen Leistungsbilanzsalden und Änderungen der Target-Salden minimal ist“. Das Hauptproblem liege vielmehr „in einer massiven Kapitalflucht aus den Peripheriestaaten“. Zum selben Schluss kam Bundesbankpräsident Jens Weidmann, der im März einen Brief an die EZB schrieb, in dem er sich über den wachsenden Target-Saldo besorgt zeigte.
Nach dem April verebbte die Diskussion, der Frühling verscheuchte gleichsam die Wintergespenster. Jetzt, mit der Erklärung von Moody’s sind sie wieder da. Aber noch immer sträubt man sich – das ist die zweite vom Target-System aufgeworfene Frage – gegen die Einsicht, dass Deutschland ausgerechnet von seiner eigenen ökonomischen Stärke zu Fall gebracht werden könnte. So paradox das auch ist, haben es die vorausgegangenen Weltwirtschaftskrisen gelehrt. Die von 1929 brach in den USA aus, der stärksten Volkswirtschaft der Welt, die ihre monetären Reichtümer zuvor in Osteuropa, in Deutschland, in Großbritannien angelegt hatte; als diese Volkswirtschaften zahlungsunfähig wurden, brach die stärkste unter der Schuldenlast der anderen zusammen. So könnte es heute der deutschen Volkswirtschaft ergehen.
Selbst verschuldet
Aber zugleich, und das ist die dritte Frage, liegt in der heutigen Problemlage etwas vermeidbar Absurdes. Denn warum sprechen wir von „ausländischen“ und der „deutschen“ Volkswirtschaft, wo doch der Euro die Währung aller Beteiligten ist? Wie kann da ein „Inland“ von der Schuldenlast „des Auslands“ gefährdet sein? Dass zum Beispiel der Erhöhung des Saldos durch Kapitalflucht tatenlos zugeschaut werden muss, ist direkte Folge davon, dass sich die Euro-Zone zu sich selbst eigentlich so verhält, als wäre sie pures Inland: Es gibt hier weder Kapitalverkehrshemmnisse noch Wechselkursschwankungen.
Das ist nicht anders als in den Staaten der USA, die ihren internen Interbankenverkehr ebenfalls über ein Target-System verrechnen. Die USA regeln ihr System freilich so, dass kein großer Saldo über einen längeren Zeitraum entstehen kann. Indessen geht es nicht nur darum, wie Sinn meint, solche Regeln nun auch in Europa einzuführen. Er hat recht, aber der springende Punkt ist ein anderer: Die USA sind nicht von der Gefahr des Auseinanderbrechens bedroht. Sie sind es deshalb nicht, weil die Volkswirtschaften der US-Staaten homogener sind als die europäischen Volkswirtschaften.
Widerspruch auflösen
Man muss daher zu dem Schluss kommen, dass die Europäische Union an einem selbstverschuldeten Widerspruch leidet, der endlich einmal aufgelöst werden sollte. Sie hat sich nämlich einerseits eine finanzielle Verfasstheit gegeben, in der sie sich wie ein einziges Inland verhält, und hat sich andererseits der politischen Institutionen verweigert, die dieses Inland wirklich ausmachen würden.
Was solche Institutionen, würden sie endlich eingerichtet, als erstes täten, ist klar: Sie würden eine in sich stimmige gesamteuropäische Wirtschafts- und Sozialpolitik schaffen. Die ökonomische Arbeitsteilung in Europa würde so verändert, dass alle Räder ineinandergriffen, statt dass, wie heute, einige Beteiligte immer mehr exportieren und andere immer weniger. Dann könnten sich auch die Zahlungsströme ausgleichen. Ist es nicht sogar begrüßenswert, dass das Target2-Problem gerade uns Deutsche bedroht? Hier ist der Ansporn, endlich die europäische politische Einigung herbeizuführen.
Geldkreislauf
Was ist und wozu dient Target2?
Das Bundesfinanzministerium erklärt das ziemlich undurchsichtige System mit einem Beispiel: Ein deutsches Unternehmen liefert eine Windanlage nach Spanien. Zur Bezahlung der Lieferung bittet das spanische Unternehmen seine Geschäftsbank, den fälligen Betrag an das deutsche Unternehmen zu überweisen. Hier greift das Target2-System, das beide Geschäftsbanken über die jeweiligen nationalen Notenbanken verbindet. Das Konto der spanischen Geschäftsbank bei der spanischen Notenbank wird belastet. Die Deutsche Bundesbank veranlasst eine Gutschrift auf dem Bundesbankkonto der deutschen Geschäftsbank des Windanlagenbauers.
Da es sich um „Buchgeld“- Positionen auf den Konten handelt, steht jedem buchgeldmäßigen Zahlungseingang eine Forderung gegenüber: eine Forderung des deutschen Unternehmens gegen seine Geschäftsbank, eine Forderung der deutschen Geschäftsbank gegen die Deutsche Bundesbank. Umgekehrt hat das spanische Unternehmen eine Verbindlichkeit gegenüber seiner Geschäftsbank, die spanische Geschäftsbank eine Verbindlichkeit gegenüber der spanischen Zentralbank. Obwohl die nationalen Zentralbanken der Euro-Staaten weiter rechtlich selbstständig sind, sind die Forderungen der Bundesbank beziehungsweise Verbindlichkeiten der Banco de España nicht direkt zwischenstaatlich; vielmehr ist die Europäische Zentralbank „zwischengeschaltet“. Beim Verkauf der Windkraftanlage hat also die Bundesbank – vereinfacht ausgedrückt – eine Forderung gegenüber der EZB. Die spanische Notenbank hat eine Verbindlichkeit gegenüber der EZB.
Beim „Target2-Saldo“ der nationalen Notenbanken handelt es sich – so erklärt es das Ministerium – um einen „Nettosaldo“, der aus den gesamten Transaktionen des nationalen Bankensystems entsteht. Dabei geht es nicht nur – wie bei der Windkraftanlage – um Überweisungen von Unternehmen, sondern auch um Finanztransaktionen, also zum Beispiel die Kontoeröffnung eines spanischen Kunden bei einer deutschen Bank verbunden mit einem Kapitaltransfer vom bisherigen spanischen Konto auf das deutsche Konto. Mit dem „Target2- Saldo“ ist somit immer der Gesamtsaldo der nationalen Notenbank gegenüber der EZB gemeint.
Im Beispiel führt die Zahlung des spanischen Unternehmers an das deutsche Unternehmen zu einem Anstieg des Target2-Saldos der Bundesbank. Verallgemeinert soll das Beispiel darstellen, dass alle deutschen Banken im grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr derzeit wesentlich mehr Zahlungseingänge verbuchen, als sie selbst Zahlungen veranlassen. Bei der Deutschen Bundesbank entsteht ein „Targetüberschuss“, das heißt eine kumulierte Nettoforderungsposition gegenüber der EZB.
Quelle: Bundesfinanzministerium
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