Ein Weckruf

MaerzMusik 2014 Samir Odeh-Tamimi ist "auf der Suche nach dem Klang in dieser riesigen Stadt" - Istanbul - "voller Geschichten". Außerdem Stücke von Hanna Eiermacher und Clara Ianotta

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Das Konzert am Freitag in der Volksbühne, von dem ich gestern schrieb, bot insgesamt fünf Stücke, zwei habe ich vorgestellt und will noch auf die anderen drei eingehen. Zur Überleitung eignet sich der letzte Gedanke, den ich gestern äußerte: Man nehme auch moderne "konstruierte" Musik, die sich nicht von Grundtönen abhängig macht, als tröstend wahr im Fall, dass sie Trauriges zum Gegenstand hat, weil sich die Einfügung des Traurigen in die musikalische Ordnung beim Hören mitteile; das sei nicht anders als bei der Passionsmusik von Bach, ja man könne sich fragen, ob Bach nicht wegen seiner, im Vergleich zur Avantgarde-Musik, geringeren Ordnungsmittel mehr Zerrissenheit dargestellt habe oder hätte darstellen können als sie. Ich glaube, das ist kein ganz klarer Gedanke, doch kann ich nicht anders, als ihn jetzt so zu denken, hin- und hergerissen, wie ich bin, zwischen einer lange gehegten Annahme und einem Einspruch, den ich vor Kurzem las.

Die lange gehegte Annahme: Der Übergang von der tonalen zur atonalen Musik erkläre sich aus der metaphysischen Unmöglichkeit, sich noch weiter auf einen vorhandenen Weltgrund ("Gott"), damit aber auch auf musikalische Grundtöne zu beziehen. Der Einspruch: Man kann es auch so sehen, dass die musikalische Entwicklung der europäischen Neuzeit einer Zwangslogik der permanenten Rationalisierung unterliege, wo Musik von Jahrhundert zu Jahrhundert immer strenger und lückenloser geordnet sein muss; zur atonalen Musik ist es dann deshalb gekommen, weil ihr Ordnungspotential größer ist.

Dies Letztere habe ich kürzlich in Theodor W. Adornos Kranichsteiner Vorlesungen gelesen, Adorno selbst kann sich dafür mit einigem Recht auf eine musikhistorische Abhandlung von Max Weber berufen. Den Kontrast zweier Aussagen, der sich damit ergeben hat, lasse ich jetzt einfach so stehen. Wie sie sich zueinander verhalten - Aussagen, die sich nicht total widersprechen, doch in sehr verschiedene Richtungen weisen -, überblicke ich noch nicht. Zur Illustration taugt jedoch ein weiteres Stück vom Konzert am Freitag, Cihangir für Ensemble von Samir Odeh-Tamimi (2008). "Cihangir", schreibt der palästinensisch-israelische Komponist, "ist der Name des Viertels, wo ich in Istanbul einen ganzen Monat gewohnt habe. Auf der Suche nach dem Klang in dieser riesigen Stadt voller Geschichten bin ich fast verzweifelt, bis ich gemerkt habe, dass ich an jedem Ort einen anderen Klang höre. Und doch sind die Rufe der Muezzine, die fünfmal am Tag überall in der Stadt zu hören sind, allgegenwärtig." Er will also, darauf deutet der letzte Satz, Einheit in der Verschiedenheit städtischer Klänge darstellen.

Ob und wie er die Rufe der Muezzine zitiert, hat sich mir nicht erschlossen, Einheit und Verschiedenheit in der Musik aber sehr wohl. Die Musik teilt sich als Hörbild einer lebendigen, ja tosenden Stadt mit. Ich glaubte geradezu die Handwerker zu sehen, die in engen Gassen vor ihren Buden sitzen und arbeiten, wo es doch Jahrzehnte her ist, dass ich sie sah, und ich gar nicht annehme, dass es sie immer noch gibt. Auch dass Odeh-Tamimi an Istanbul die Jazzkeller liebt, nimmt man mit Freude zur Kenntnis. Weshalb ich aber darauf zu sprechen komme: Von diese Stadtmusik kann nun wirklich gesagt werden, dass sie sich w e n i g e r c h a o t i s c h anhört als die Stadtmusik eines Charles Ives, was ich auf die hohe konstruktive Kohärenz zurückführe, die in Cihangir als einer aktuellen Komposition zweifellos erreicht ist. Ives hat noch tonal komponiert. Verschiedene Marschzüge und noch Stimmlaute aus anliegenden Häusern baut er ungeachtet des rhythmischen Schlamassels und der Dissonanzen, die dabei entstehen, übereinander und schafft es trotzdem, den Zusammenhalt irgendwie zu wahren. So gut ich das Stück von Odeh-Tamimi fand: Ives ist aufregender.

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Clangs für Cello und Orchester von Clara Iannotta (2012), die in Rom geboren wurde und 2013 Gast des Berliner Künstlerprogramms DAAD war, wurde "durch den Klang der Glocken des Freiburger Münsters" angeregt. Sieben Glocken sollen in der Komposition zu hören sein, als "Hörerfahrung" stellt sich Iannotta "erst das Warten, dann das Glockenspiel und die darauf folgende Stille" vor. Es ist ihr gelungen. Kompositionen, in den Glocken vorkommen oder gar eine zentrale Rolle spielen, ziehen sich durch die Geschichte tonaler Musik mindestens seit Beethoven. Ich habe vor einiger Zeit darüber geschrieben. Und tatsächlich ist es eine Eigentümlichkeit der Komposition von Iannotta, dass der Glockenklang hier nicht einbricht oder sich sonstigen Klängen entgegensetzt, sondern aus solchen gelegentlich auftaucht. Man nimmt dann wahr, dass diese Klangfarbe sich auch dann noch stark absetzt - wo es doch auch sonst immerzu geschieht, dass mal der, mal jener Instrumentenklang aus der Klanggesamtheit auftaucht -, wenn er sich dem Ensemble gegenüber nicht hervortut.

Es ist nun überhaupt so, dass man in diesem Festival vor allem in Klangfarben schwelgt. Ja dass man den Eindruck hat, aktuelle Musik forsche noch immer mehr die Differenzierbarkeit von Klangfarben und deren Einsatzmöglichkeiten aus. In meinen Festival-Berichten war es schon einmal darum gegangen, dass die ungeheure Bedeutung, die das Schlagzeug in Neuer Musik immer mehr erlangt hat, am besten wohl aus der Möglichkeit, mit ihm immer neue Klangfarben zu generieren, erklärt werden kann. In den Stücken des Freitags spielte es keine so große Rolle, hier dominierten die klassischen Instrumente wie Streicher, Trompete und Oboe. Sehr deutlich hörte man aber, dass zum Beispiel Streicherklangfarbe bei jedem Komponisten und jeder Komponistin etwas völlig Verschiedenes ist. Es scheint ja, als sei die Klangfarbe der Ausweis musikalischer Individuation schlechthin - als sei sie es, sagen wir seit Haydn, immer schon gewesen. Früher, als man noch am Radioknopf drehte und die Sender aneinander vorbeischossen, machte ich die Erfahrung, dass ein Sekundenbruchteil genügt, um den Komponisten eines vorüberwehenden Klangs zu erkennen. "Das war Brahms": Es muss die individuierte brahmsische Klangfarbe gewesen sein, die den Eindruck erzeugte. Und das, obwohl die tonalen Komponisten, jedenfalls die deutschen, noch einem ziemlich rigiden Klangfarbenschema gefolgt waren, wo es immer dieselben Orchestergruppen gab und sie sich als Gruppen auch hören ließen. Davon machte in Deutschland nur Richard Wagner, der die Klangfarben ungewöhnlich überlagerte und verschmolz, eine Ausnahme. In Frankreich wurde da mehr getan. In der modernen Musik indes rückt die Klangfarbenpalette ins Zentrum des musikalischen Interesses.

Das fünfte Stück des Freitags - es stand am Anfang des Konzertabends und erhielt die ersten Bravorufe -, war insofern ein Sonderfall, als es mit einer Klangfarbe recht unmittelbar auf erkennbaren Sinn zielte. Schon der Titel war auffällig: Überall ist Wunderland für 23 Musiker von Hanna Eimermacher (2013). Was er sollte, erschloss sich natürlich nicht unmittelbar, sehr eindringlich war es jedoch, wenn die vorn zur rechten und linken Seite platzierten Schlagwerker an einigen Stellen Metallstäbe anschlugen, die auch optisch hervorgehoben waren, indem sie über ihren Köpfen hingen. Der erzeugte Klang war der eines Weckers. "Das Werk der Weckuhr schnappte ein", wie es in Thomas Manns Buddenbrooks heißt, "und rasselte pflichttreu und grausam". Hier aber wohl nicht, um zum Frühaufstehen, sondern heraus aus nihilistischen Zuständen zu rufen, in denen "überall Wunderland ist" und von denen die Komponistin sich umgeben sieht. Sogar auch über dem Dirigenten hing der Stab, er drehte sich am Ende des Stücks zum Publikum um und schlug ihn ebenfalls an. Ein Weckruf - und man kann nicht sagen, er sei Eimermachers hochkomplexer Musik künstlich aufgepropft gewesen. Eine Glocke anderen Typs!

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Ich muss jetzt zum Konzert aufbrechen und verschiebe deshalb nochmals den Bericht vom Konzert am Mittwoch - in dem standen sowohl die Behandlung von Klangfarben als auch die von Schlagwerken ganz im Zentrum des Interesses. Da ich am Montag und Dienstag anderweitig beschäftigt bin, erscheint mein nächster Bericht - hierüber und über Konzerte des Wochenendes - erst am Mittwoch kommender Woche.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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