Manche Fragen drängen sich nicht von selbst auf, sondern erst wenn man ein Ereignis verdaut hat. So steht es mit der Frage, die den Hamburger Parteitag der SPD aufschlüsselt: Warum haben die Delegierten zu Hartz IV geschwiegen? Sie zogen nur stumm die Stimmkarten, um den Antrag des Parteivorsitzenden Beck zu billigen, die Auszahlungsdauer des Arbeitslosengeldes I solle von maximal 18 auf maximal 24 Monate verlängert werden. Mögliche Spannungen zwischen Beck und Müntefering seien so vermieden worden, heißt es. Da die beiden in der Sache nicht einig waren, zum Streit aber nichts sagten, taten andere es ebenso wenig.
Angenommen, das erklärt schon die Motivlage der Delegierten, müsste Unfreundliches ergänzt werden. Waren sie wirklich so anspruchslos, dass ihnen ein winziges Stück vom Kuchen reichte? Haben sie an den Hartz-Reformen nur ebenso viel zu kritisieren wie der letzte Parteitag der CDU? DGB-Chef Michael Sommer erinnerte jetzt noch einmal daran, was Hartz IV bedeutet: den Bruch mit der Sozialstaatstradition in einem reichen Land, das von der Globalisierung profitiert. "Es geht nicht mehr darum, den Lebensstandard zu halten, sondern es geht um pure Armutsbekämpfung." Das ist der Skandal, an dem das Schauspiel des Beckschen Streits mit dem Vizekanzler nichts ändert.
Kurt Beck, der in Willy Brandts Fußstapfen tritt - das scheint die Rechnung gewesen zu sein. Wie der frühere Parteivorsitzende Brandt in friedens- und umweltpolitischen Fragen andere Positionen vertrat als der Kanzler Helmut Schmidt, so scheint heute Beck die Parteilinie gegen Müntefering zu formulieren. Brandt konnte sich gegen Schmidt nicht durchsetzen, aber er integrierte die Partei, die sich von Schmidts Politik später löste. Es fällt freilich gleich auf, dass Beck im Unterschied zu Brandt durchaus nicht auf der Suche nach "neuen Mehrheiten" ist.
Aber vielleicht hat sich der Parteitag gar nicht täuschen lassen. Die Delegierten machten im Ganzen nicht den Eindruck, als seien sie bereit, sich von der Führung gängeln zu lassen. Ihr Widerwille gegen die weitere Privatisierung öffentlichen Eigentums, ausgefochten am Beispiel der Bahn, war unübersehbar. Schon im Vorfeld hatte man den SPD-Minister Tiefensee dazu gebracht, gegen seine Überzeugung die Teilprivatisierung mit einem "Volksaktien"modell - stimmlosen Vorzugsaktien - zu verwässern, das es großen Investoren unmöglich machen sollte, Einfluss auf die Führung der Bahn zu gewinnen. Nur mit Mühe konnte Beck die Delegierten von dem Beschluss abbringen, das Privatisierungsprojekt solle automatisch als gescheitert gelten, falls die Union sich dem Modell nicht anschließe. Diese überlegt jetzt ernsthaft, ob sie auch so schon resignieren müsse.
Da haben es die Delegierten nicht zum Äußersten kommen lassen, und eben das kann auch der Grund ihres Schweigens zum Hartz IV-Skandal sein. Dachten sie, der Zeitpunkt zum Öffnen des Leichenkellers sei noch nicht gekommen? Es ist eine offene Frage. Vorerst stärkten sie die Position der Linken in den Führungsgremien. Sie brachten der Parteitagsregie mehrere Niederlagen bei, etwa im Streit um ein Tempolimit. Das reicht schon, sich des grünen Sonderparteitags zum Afghanistan-Krieg zu erinnern, denn auch da waren Delegierte nicht mehr bereit, einer unter Schröder sozialisierten Parteiführung zu folgen. Sind beide Parteien der rot-grünen Regierung im Begriff, sich von unten her zu erneuern? Wenn die SPD es täte, würde mehr herausspringen als bei den Grünen: nicht nur, weil die SPD größer und mächtiger ist, sondern auch weil ihre innerparteiliche Demokratie besser funktioniert. Dass sich ihre Bundestagsfraktion über den ermittelten Willen eines Parteitags hinwegsetzt, wie es die grünen Kollegen tun, ist schwer vorstellbar. Andererseits sind sozialdemokratische Führer im Einschläfern von Parteitagen geschickter.
Vielleicht braucht die SPD-Basis noch Zeit. Denn Hartz IV wird jetzt mit einem neuen "Argument" vernebelt. "Das Ding ist hoch erfolgreich", sagt Müntefering und verweist auf viele ältere Arbeitnehmer, die dank Schröders Agenda neue Beschäftigung erhalten hätten. Dahinter steht die Behauptung: Wenn man einem Menschen Geld wegnehme, werde es wahrscheinlicher, dass er einen Job bekomme. Er sei nämlich faul und müsse zur Arbeitssuche erpresst werden. So sieht das vom Vizekanzler "hoch erfolgreich" genannte Verfahren aus. In Wahrheit ist etwas anderes geschehen. Dank günstiger Konjunktur, aber auch des Investitionsprogramms der Bundesregierung sind vorübergehend mehr Stellen geschaffen worden. Deshalb konnten die neuen Jobcenter mehr Arbeitslose vermitteln, und das alte Arbeitsamt hätte dasselbe auch gekonnt. Das haben viele Delegierte noch nicht verstanden - auch weil die Einsicht so unaushaltbar peinlich ist.
Wenn sie es verstehen, begehren sie entweder auf oder kommen zu dem Schluss, in dieser politischen Hauptsache müsse weiter geschwiegen werden, damit die Parteiführung nicht demaskiert werde. Wie auch immer: Die Basis hat einen anderen Fahrplan der nächsten Monate als die Führung. Diese wartet die nächsten Landtagswahlen ab, um zu entscheiden, ob sie stark genug sein wird, an der Frage des Mindestlohns die große Koalition vorzeitig scheitern zu lassen. Am ALG I jedenfalls wird die Koalition nicht scheitern. Die Union hat schon Kompromissbereitschaft signalisiert, denn auch sie hat Angst vor Demaskierung. So oder so würde an Hartz IV kaum etwas geändert. Dafür hat der Hamburger Parteitag keine Weichen gestellt, und von selbst bereitet sich eine Änderung der Agenda-Politik nicht vor. Sie müsste gegen die Vernebelungstaktik der Parteiführung taktisch klug durchgefochten werden, das heißt mit klaren Forderungen der Basis, die keine Vereinnahmung gestatten.
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