Das Zusammentreffen war bezeichnend. Am 19. August der Kommentar von Markus Preiß in der ARD, wo er den französischen Präsidenten Emmanuel Macron zustimmend zitiert: Das Misstrauen zwischen Russland und dem Westen müsse überwunden werden, denn „wenn wir es nicht schaffen, werden wir immer im Zustand der Spannung bleiben“. Einen Tag später erlitt Alexei Nawalny, der im Westen als wichtigster russischer Oppositionsführer gilt, während eines innerrussischen Flugs einen Kollaps. Er befindet sich jetzt in Berlin, wo Ärzte Spuren einer Vergiftung bei ihm entdeckt haben wollen. Die Kalten Krieger sind obenauf. Ungehört verhallt der Einspruch eines früheren Chefarztes der Kreml-Klinik: Wenn man Nawalny umbringen wollte, warum hat man es denn nicht getan?
Dringend notwendig wäre eine Neuauflage der Brandt’schen Ostpolitik. Aber die Bedingungen haben sich so verändert, dass der Name nicht mehr passt. Das Wichtigste ist geblieben: Es gibt Spannungen, die immer in Gewalt umschlagen können. Hätte man etwa auf Wladimir Putins Vorschlag einer gesamteuropäischen Freihandelszone gehört – statt dass José Barroso als Vorsitzender der EU-Kommission der Ukraine eröffnete, sie könne nicht gleichzeitig mit der EU ein Assoziationsabkommen haben und in die Zollunion mit Russland eintreten –, es wäre nicht zur Separation im Osten des Landes gekommen. Freilich: Würde Deutschland zur Entspannung zurückkehren, wäre das keine nur nach Osten gerichtete Politik.
Die Bundesrepublik war 1970 ein ohnmächtiges Land. Heute ist sie wegen ihrer geostrategischen Mittellage zwischen West und Ost eine der bedeutendsten Weltmächte, wobei sich, wie im gewöhnlichen Leben, Bedeutsamkeit nicht bloß an der Muskel-, sprich Militärstärke bemisst. Die Mittellage verpflichtet sie dazu, nicht nur Russland zu kritisieren, sondern auch die USA. Jede und jeder in unserem Land weiß, dass Putin kein größeres Ekel ist als Donald Trump, der seine Polizei aufhetzt, aus dem Klimaabkommen aussteigt und den Iran für einen Militärschlag präpariert . Ein Äquivalent zu Brandts Ostpolitik würde darin bestehen, ebendies laut zu sagen. Es würde Vertrauen schaffen.
Deutschland gehört trotz seiner Mittellage eindeutig zum Westen – vor allem auch kulturell. Auf dieser Ebene bedeutet Entspannung heute, die kulturellen Konflikte durchaus weltweit auszutragen, dabei aber immer ganz deutlich zu machen, dass die kulturelle Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Landes keine nationale Einmischung ist und eine solche auch nicht vorbereiten soll. Alexander Lukaschenko glänzt mit Sprüchen wie „Die Bestimmung der Frau ist es, die Welt zu schmücken“. Wenn wir die belarussischen Frauen gegen ihn unterstützen, haben wir ihm gleichzeitig zu versichern, dass die NATO sein Land nicht militärisch angreifen wird, damit Polen seine alten Ostgebiete zurückerhält.
Es ist heute ein Erkennungszeichen von Unredlichkeit geworden, wenn unsere Politiker den Kulturkampf fallweise vergessen. Nawalny hat gefordert, alle Georgier zu deportieren und „das Hauptquartier der Nagetiere“ mit Marschflugkörpern zu zerstören. Mit den Nordkaukasiern könne Russland nicht koexistieren, weil sie „wie Vieh zu leben“ wünschten. Das ist kein Grund, ihn zu töten, was auch Putin nicht getan hat. Aber wer zu seinen Sprüchen schweigt und nur die belarussischen Frauen anfeuert, untergräbt die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens.
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