Eine Stadt mit verschiedenen Straßen

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Wenn wir fragen, was eigentlich Boulez' Bedeutung ausmacht, müssen wir mit Schönberg beginnen. Bekannt ist ja die Annahme über Boulez' "serielle Musik", sie stelle eine Verallgemeinerung von Schönbergs Technik der Zwölftonreihe auf die andern musikalischen Parameter dar (was eine Reihe ist, erkläre ich gleich). Diese Vorstellung ist gewiss zu einfach gedacht. Man kann mindestens ebenso gut sagen, dass Schönberg Boulez nur vorbereitet habe, wie dass Boulez nur Schönbergs Vollstrecker sei. Darauf, dass er "auf Schönbergs Schultern steht", laufen aber beide Ansichten hinaus; deshalb lasse ich ihn, um Klarheit zu bekommen, im ersten Schritt ganz beiseite.

Schönberg behandelt alle zwölf Töne der Halbtonskala als gleichberechtigt - mit "Tönen" sind hier Tonhöhen gemeint -, so dass auf jeden Ton jeder andere folgen und jeder Ton mit jedem anderen zusammenklingen kann; er schreibt vor, dass im Ablauf einer Komposition kein Ton erneut erklingen darf, bevor nicht jeder andere in der fallweise festgelegten Reihenfolge aller Töne (= ihrer "Reihe") erklungen ist. Da eine Komposition sich in mehr oder weniger dichten Akkorden voranzubewegen pflegt, kann die Regel auf vielerlei Weise erfüllt werden, es wäre zum Beispiel denkbar, dass der erste Akkord alle zwölf Töne enthält und gleich danach mit dem ersten Reihenton weitergemacht wird. Schönberg hat die Reihe im übrigen auch vervierfacht, denn sie darf auch von hinten nach vorn gespielt und die Tonhöhen dürfen in Spiegelung um die Achse der mittleren Höhe aller Töne vertauscht werden.

Diese Methode führt keineswegs zur Knebelung der kompositorischen Phantasie, sie eröffnet im Gegenteil viel mehr Möglichkeiten als das "tonale" Komponieren (das sich ja nicht etwa dadurch vom Zwölftonkomponieren unterscheidet, dass es keinen Regeln unterläge). Die Frage, ob man es im Kopf aushält, sich die Dissonanzen anzuhören, die in Kompositionen à la Schönberg erklingen, muss auch nicht mehr diskutiert werden, wir haben uns daran gewöhnt; es gibt inzwischen sogar schon gemäßigten Zwölftonjazz (Alexander von Schlippenbach). Die interessante Frage ist vielmehr, warum es zu dieser Kompositionsweise überhaupt hat kommen müssen.

Eine Antwort wäre, dass schon die spätromantische Musik in einer Weise komplex wurde, dass es zum System gleichberechtigter Tonverbindungen in allen Richtungen nur noch ein kleiner Schritt war, der dann zugleich auch eine wünschenswerte Vereinfachung darstellte. Schönberg hat aber nicht nur der Musikentwicklung den Selbstlauf abgelauscht, sich passiv zu ihm verhalten, ihn willenlos zur Norm gemacht. Sondern er griff ein und traf eine unselbstverständliche Entscheidung: Es sollte keinen Grundton mehr geben. Zwölftontechik ist geeignet, das sicherzustellen. Das Komponierte sollte nicht mehr hierarchisch geordnet sein. Natürlich galt die Verneinung d e n G e f ü h l e n der Hierarchie und des Grundes b e i m Z u h ö r e n . Solche Gefühle sollten nicht automatisch entstehen wie bei aller vorausgegangenen Musik, sondern nur allenfalls dann, wenn der Komponist es wollte.

Man kann darin eine Bezugnahme auf Nietzsches Philosophie sehen. Nietzsches "toller Mensch", der durch die Straßen läuft und, während er ausruft, wir hätten Gott getötet, "am hellen Vormittage eine Laterne anzündet", begründet dies seltsame Verhalten so: "Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? [...] Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden?" (Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch Nr. 125) So "nach allem Seiten" bewegt sich eine Zwölftonkomposition. Sie suggeriert nicht mehr, die Erde hätte einen Grund, sei an eine Sonne angekettet. Sie stellt einen solchen Grund, den es nicht gibt, auch musikalisch nicht mehr dar. Sie konfrontiert sich mit dem "unendlichen Nichts". Das heißt: Sie ist nihilistisch. (Vgl. ausführlicher zu Schönbergs Gedankenwelt Gudrun Kohn-Waechter, Kein schöner Tod mehr, in Ute Jung-Kaiser [Hg.], ..."das poetischste Thema der Welt"? Der Tod einer schönen Frau in Musik, Literatur, Kunst, Religion und Tanz, Bern, Berlin usw. 2000, S. 195-214.)

Damit will ich nicht sagen, Schönberg sei der erste gewesen, der den Nihilismus musikalisch eingeräumt habe. Er war nur der erste, der es mit Problembewusstsein tat. Das hatte dann die gewaltige Konsequenz der Zwölftontechnik. Nihilistisch wider Willen ist auch etwa die spätromantische Musik Max Regers. Man höre sich dessen Violinkonzert an: Es klingt wunderschön, auch tiefsinnig in seiner Art, ist aber auf der melodiösen Oberfläche (des Kopfsatzes) vollkommen richtungslos, so dass es letztlich schwer fällt, auf die Frage, was das alles eigentlich noch soll - warum nun auch noch Reger hat komponieren müssen -, eine Antwort zu finden. So kommt es ja wohl, dass Reger uns heute fast nur noch in seinen Variationswerken begegnet, etwa denen auf Themen von Mozart, von Beethoven: Da hat er die Richtlinienkompetenz an welche abgetreten, die längst tot waren. Er legt das aber nicht offen.

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Boulez tut mehr und anderes, als Schönbergs Methode zu "verallgemeinern". Er kritisiert, dass Schönberg sie nur zur Kontrolle eingesetzt habe, eben um Grundtönigkeit zu vermeiden, während es ihm, Boulez, mehr darum geht, das neue Potential des Komponierens mit Reihen freizusetzen. Schönberg habe die Reihe gar nicht zuende entdeckt, auch gerade nicht auf dem Gebiet der Tonhöhen. Denn es sei ihm nicht gelungen, sich vom melodiösen Denken zu emanzipieren. Er mache sich der Konfusion schuldig, indem eine Tonhöhenreihe bei ihm schon direkt das musikalische Thema einer Komposition ausmache. In den andern musikalischen Parametern, Tondauer, -intensität und -rhythmus, sei er vollends der Tradition tonaler Musik verpflichtet geblieben, und so habe es nicht ausbleiben können, dass deren Gewicht sich mehr und mehr wieder habe zur Geltung bringen und Schönbergs Ausbruchsversuch schließlich, bis hin zu manchen tonalen Kompositionen seiner Spätzeit, habe ersticken müssen. (Vgl. Schönberg ist tot, in Pierre Boulez, Anhaltspunkte, München 1979 [Erstveröff. 1952], S. 288-296)

Das kann man auch so ausdrücken, dass Schönberg doch wieder in Grundtönigkeit zurückgefallen ist. Auch Boulez will sie natürlich vermeiden, und sicher aus denselben "nietzscheanischen" Gründen. Die Gründe haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch bedeutend vermehrt. Es geht weiter darum, Nihilismus einzuräumen und mit ihm umzugehen. Boulez' Bedeutung liegt zuerst darin, dass er, was Schönberg "nur" will - aus einem Gemisch philosophischer, literarischer und musikalischer Gründe -, in voller musikalischer Konsequenz realisiert.

Er und seine Generationsgefährten wollen eine Musik, die keine faschistischen Gefühle aufkommen lässt: weder solche eines schon vorhandenen Faschismus, der sich auf erlogene Gründe stützt, noch solche, die aus nihilistischer Verzweiflung einen neuen Faschismus herbeilügen. Mit dem letztgenannten Aspekt ist Schönbergs Programm tatsächlich radikalisiert und bekommt einen etwas anderen Akzent. Rational gegen faschistische Irrationalität, das ist die Leitvorstellung. Die Musik soll jetzt nicht nur selbst rational komponiert sein - das war sie schon immer in verschiedenen Graden -, sie soll sich auch rational anhören und so zur Rationalität direkt aufstacheln. Das heißt also nicht, dass man beim Hören keine Gefühle mehr haben soll, wohl aber, dass Gefühle keine Entschuldigung für die Abwesenheit von Ratio sind. Daher wird weniger Schönberg, der recht expressiv komponiert hat, als sein Schüler Anton von Webern zum Vorläufer ausgerufen. An Webern hat Boulez aber auch etwas auszusetzen, nämlich dass seine Klangwelt zu dünn sei. Boulez will durchaus sehr viel Gefühl mobilisieren, um gerade so fürs Rationale einzutreten.

Wenn nun alle musikalischen Parameter reihenförmig organisiert sind, führt das zu einer ganz neuen Freiheit. Charakteristisch ist das Phänomen, dass Kompositionen von ihren rhythmischen Zellen her gedacht werden. Zuerst werden Rhythmen komponiert. Dem rhythmischen Ablauf werden nachträglich Tonhöhen zugeordnet. Man kann sich vorstellen, wozu das führt, wenn man nur bedenkt, aus wie unbegrenzt vielen rhythmischen Möglichkeiten eine Rhythmus-Reihe ausgewählt sein kann. Aber selbst wer an eher einfache Rhythmen denkt - "einfach" verglichen mit dem, was Messaien und Boulez aufbieten -, also etwa an das Schlagzeugsolo in In A Gadda Da Vida, und sich nun vorstellt, solchen Rhythmen würde Ton- und Klanggestalt gegeben, kann sich ein Bild von der erweiterten Freiheit primär rhythmischen Denkens machen. In einer ersten Phase seriellen Komponierens dienten die Reihen der Klänge und Intensitäten dazu, eine musikalische Struktur aus Tonhöhen und Rhythmen, wobei diese, wie gesagt, bestimmend waren, nur "einzukleiden". Das heißt zum Beispiel, man setzt Klangblöcke so gegeneinander ab, dass sie unterstreichen, wo Tonhöhen- und Rhythmusblöcke anfangen und aufhören. In einer zweiten Phase dachte Boulez eher primär von den Klängen aus.

Über verschiedene Möglichkeiten, wie man verschiedene Reihen einander zuordnen kann, will ich mich nicht auslassen. Ein gutes Bild kann man aus dem Aufsatz von Pascal Decrouper gewinnen: Renverser la vapeur... Zu Musikdenken und Kompositionen von Boulez in den fünfziger Jahren, in Musik-Konzepte 89/90. Pierre Boulez, München 1995, S. 112-131. Im übrigen werden wir ja noch die Beispiele kennen lernen, die das Programm des Berliner Musikfests bietet. Dann wird auch Gelegenheit sein, nach den Gefühlen zu fragen, die Boulez' Musik tatsächlich auslöst.

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Um aber weiter seiner Bedeutung nachzuspüren, unterstreiche ich die Frage der "Willensfreiheit" beim Komponieren. Von Anfang an stellte sie sich auf zwei Ebenen. Zum einen war klar, dass die Konstruktion der Reihen und ihrer Zuordnung frei gewählt wurde, ausgehend von Regeln nach Art der oben genannten. Aber damit war das eigentliche Komponieren nur vorbereitet, nur ein "Material" wurde verfügbar gemacht. Wenn die Öffentlichkeit oft heute noch glaubt, serielles Komponieren sei zwanghaft gewesen, dann deshalb, weil sie sich Kompositionen vorstellt, die einfach nur verwirklichen, was im Reihen-Material schon angelegt ist.

Mindestens e i n e solche Komposition hat es auch wirklich gegeben, nämlich den ersten Teil des "ersten Buchs" der Structures pour deux pianos von Boulez. Dies aber deshalb, weil der Komponist sich bewusst vorgenommen hatte, seine Wahlfreiheit ein einziges Mal auszuschalten. Er wollte einen Nullpunkt setzen. Deshalb wählte er in diesem singulären Fall sogar die Reihen nicht selbst, sondern übernahm sie aus einer Komposition Messiaens (der, von ersten Reihen-Vorformen seines Schülers beeindruckt, selbst eine weitere Vorform eingebracht hatte). Sodann realisierte er kompositorisch alles, was die Reihen möglich machten.

Doch kaum war das geschehen, zeigt er schon im zweiten Teil derselben Structures, worauf er hinauswollte: aus den Möglichkeiten a u s z u w ä h l e n . Die A u s w a h l des Möglichen war erst die Komposition. In seinem programmatischen Aufsatz über serielle Musik ist es eben das, was er betont: "Wohlgemerkt: das Phänomen der Komposition besteht nicht darin, in jedem Augenblick alle Mittel einzusetzen. [...] Tatsächlich geht jeder Komposition ein zusammenhängendes System voraus; wir wollen nicht sagen, dass dieses System vom ersten Augenblick an bis in seine letzten Konsequenzen entwickelt sein müsse; unserer Meinung nach ist es reich an Möglichkeiten, die sich jedoch erst bei fortschreitender Arbeit am Werk zu erkennen geben. Aber man darf nicht glauben, es genüge schon den Forderungen der Komposition, wenn man einfach das Netz der Möglichkeiten aufstellt, die dieses System bietet." Wer könnte "von sich behaupten", jemals alle Möglichkeiten "im Verlauf eines Werkes angewendet zu haben, das nicht allein schon von der Aufführungsdauer her den Sättigungsgrad überschritte? Das Werk beschränkt sich also auf eine Art von Bruchstück".

Das geschieht aber nicht nur, wie man denken könnte, aus Not: "Wir [...] betrachten das Werk als eine Folge von Verweigerungen inmitten so vieler Wahrscheinlichkeiten; man muss eine Entscheidung treffen [...]. Die Entscheidung ist es, die das Werk stiftet, die Entscheidung, die in jedem Augenblick der Komposition von neuem getroffen werden muss. Nie wird Komposition dem Zusammenstellen von Begegnungen gleichzusetzen sein, die in einer immensen Statistik aufgeführt sind. Bewahren wir uns diese unveräußerliche Freiheit: das Glück, auf das wir ständig hoffen - das Glück einer irrationalen Dimension." Das sind die Worte, mit denen dieser programmatische Text schließt (Nahsicht und Fernsicht, in Pierre Boulez, Werkstatt-Texte, Frankfurt/M. Berlin 1972 [Erstveröff. 1954], S. 58-75, hier S. 74 f.).

Boulez erforscht gern die Fülle der Möglichkeiten, die in einer zuvor erfundenen Reihen-Konstellation liegen. Deshalb findet man in den Texten der Pionierzeit oft die Formulierung, er wolle es "wuchern" lassen. Das hat aber nichts mit dem Wuchern im Anti-Ödipus von Deuleuze/Gattari zu tun, wo man liest, dass etwas durch Zuwuchern zum "organlosen" Klumpen wird. Obwohl Boulez unpassend von "einer irrationalen Dimension" gesprochen hat, ist seine Vorstellung ganz und gar rationalistisch: Die Reihen konstruieren, das ist, als wenn man eine Frage genau stellt, zu welchem Zweck man zur Angabe sämtlicher Antwortmöglichkeiten imstande sein muss - das und nichts anderes ist das Wuchern. (Zum Beispiel "Wie spät ist es? Null Uhr null Minuten eine Sekunde, oder zwei Sekunden, oder drei Sekunden" und so weiter bis "oder 23 Uhr 59 Minuten 59 Sekunden?") Beim eigentlichen Komponieren wählt man dann aus, das heißt fragt nicht nur, sondern antwortet. Wobei natürlich Antworten denkbar sind, die nur dazu dienen, auf die Frage aufmerksam zu machen.

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Formulierungen sind nie unschuldig; sie rächen sich. Das "Glück einer irrationalen Dimension" wurde von John Cage in einer Weise ausgelegt, der Boulez um keinen Preis folgen mochte. Ich schrieb vorigen Mittwoch, Cage habe I Ging und in diesem Zusammenhang den Zufall ins Spiel gebracht. Es muss richtiger umgekehrt heißen, er hat den Zufall und in diesem Zusammenhang I Ging ins Spiel gebracht. Denn I Ging ist nur eine Methode, den Zufall zu generieren. Daran war Cage aber gelegen, weil er gewisse fernöstliche Weisheitslehren als Feier des Zufalls interpretierte. Jedes ausdenkbare Ereignis sei ein Geschenk, es gebe also keinen Grund, eins auszuschließen; um das musikalisch darzustellen, müsse man musikalische Zufallsereignisse einführen und die Strenge der seriellen Komposition dadurch auflocken.

Cage dachte nicht darüber nach, dass die Musik dadurch wieder aufhörte, ein Damm gegen faschistische Irrationalität zu sein. Das war ja gar nicht seine Problematik. Umso besser passt sein Votum für den Zufall zur Malmethode eines Gefährten wie Jackson Pollock. Ich habe es am vorigen Mittwoch dargestellt: Diese US-Bürger distanzierten sich nicht speziell vom Faschismus, sondern, viel diffuser, von "Europa". Wie Pollock sich von der ästhetischen Geometrie eines Malewitsch distanzierte, so Cage von Regeln überhaupt. Es gelang ihm leicht, auch europäische Komponisten zu überzeugen, Stockhausen zum Beispiel. Boulez aber widersprach mit größter Härte. Für ihn waren musikalische Zufälle eine pure Absurdität. Cage verstand das nicht:

"Was er wollte, waren Pracht und Glanz. Alles musste genau stimmen, ästhetisch stimmen. [...] Pierre geht es in der Musik um Ideen. Sein Standpunkt ist ein literarischer. Er redet sogar von Parenthesen. Nichts von alledem hat mit Klang zu tun. Pierre hat die Haltung eines Experten. Aus so einer Einstellung heraus kann man sich nur mit der Vergangenheit befassen."

Ja, zum Beispiel mit der faschistischen Vergangenheit! Und wer weiß, ob sie nur Vergangenheit ist! Weiter Cage:

"Sein Werk ist nur verständlich, wenn man das Vergangene mitberücksichtigt. Nachdem Boulez wiederholt behauptet hatte, das, was ich vorhatte, könne man nicht machen, entdeckte er Mallarmés 'Livre', bis ins kleinste Detail das Werk einer Zufallsoperation. Bei mir lehnte er das Prinzip total ab, bei Mallarmé fand er es auf einmal akzeptabel. Nun wurde er plötzlich zum Fürsprecher des Zufalls, es musste nur s e i n e Art Zufall sein." (zitiert nach Dong-Hoon Won, Strategie des Widerspiels, Freiburger Dissertation 2001/02 [http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=992111633&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=992111633.pdf], S. 59)

Was Cage widersprüchlich scheint, hat bei Boulez Hand und Fuß. Zufallsmusiker vergleicht er mit Haschischrauchern: "Friede diesen engelgleichen Seelen! Man kann sicher sein, dass sie Zeus keinen Blitz rauben werden, was sollten sie damit auch anfangen?" (Alea, in Werkstatt-Texte, a.a.O. [Erstveröff. 1957], S. 100-113, hier S. 101) Es laufe wieder "aufs Zurückschrecken vor der Entscheidung" hinaus, polemisiert er: "Die erste Konzeption", streng serielle Musik in den Augen ihrer Kritiker, "war rein mechanisch, automatisch, fetischistisch; auch die zweite", die den Zufall dagegen setzt, "ist noch fetischistisch, aber man drückt sich vor der Entscheidung nicht durch die Zahl, sondern durch den Interpreten. Man wälzt seine Entscheidung auf den Interpreten ab." Boulez spielt auf "aleatorische" Kompositionen an, bei denen die ausführenden Musiker in gewissen Grenzen spielen können, wie sie wollen. (S. 102)

Dagegen setzt er den "gelenkten Zusammenhang" (S. 108), in dem die Ausführenden nur zwischen verschiedenen Antworten, die alle definiert sind, innerhalb des vorgegebenen musikalischen Frageraums entscheiden können. Das heißt, er lehnt Cage nicht einfach ab, wie Luigi Nono das tat, sondern will ihn richtigstellen. Nono argumentierte geschichtsphilosophisch, nicht auf der Ebene der musikalischen Sprache selber (vgl. Clytus Gottwald, Boulez, Nono und die Idee der Perfektion, in Musik-Konzepte, a.a.O., S. 132-152, hier S. 144). Das tut dafür Boulez:

"Man hätte sich also in einer derartigen Form Knotenpunkte, Drehscheiben, verschiedene Arten beweglicher Elemente vorzustellen, die (mit gewissen, den jeweiligen Umständen entsprechenden, einbeschriebenen Modifikationen ausgestattet) geeignet wären, mit freiem Willen gewählten Strukturen einzufügen; dabei gälte allerdings die Einschränkung, dass auf der 'Fahrbahn' der Entwicklung ein bestimmtes Ereignis nicht öfter als einmal eintreten dürfte." (Alea, a.a.O., S. 108 f.)

Im Gespräch mit Deliège baut er das Bild der "Fahrbahn" noch aus und spricht vom komponierten Werk als einer Stadt mit verschiedenen Straßen: Die Ausführenden können, um sie kennenzulernen, mal die eine, mal die andere Straße durchlaufen. Die Stadt wird dadurch nicht zufällig, und auch die Entscheidung für eine bestimmte Straße muss es nicht sein. (Wille und Zufall, Stuttgart Zürich 1977, S. 93).

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Es sollte nun deutlich geworden sein, dass die serielle Musik, obwohl sie als dominante musikalische Strömung nur ein paar Jahre währte, dennoch von weitreichendster Wichtigkeit war; denn sie arbeitete an Grundfragen und lehrte eine Haltung, die sich in ihr selbst nicht erschöpfte. Vor allem Pierre Boulez ist diese Haltung zu danken.

Meine Konzertberichte setze ich ab Donnerstag fort, dann wieder täglich.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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