Zu den Fragen, die bei dieser Wahl zur Entscheidung anstanden, gehörte diejenige nach dem weiteren Schicksal der "Volksparteien". Nun sehen wir: Die CDU und – auf ihre Weise – die CSU sind welche geblieben, denn die Wählerzustimmung ist immer noch hoch. Die SPD aber verliert dies Prädikat, weil sie sich auf 20 Prozent zubewegt und zur nur noch größten der vier kleineren Bundestagsparteien wird. Wäre die SPD näher an die Stärke der Unionsparteien herangekommen, hätte man stattdessen gesagt, das ganze System der Volksparteien sei noch intakt.
Aber was folgt nun daraus? Sollen wir die Schwächung des Prinzips Volkspartei bedauern oder begrüßen? Zuerst muss man sagen, dass der Begriff "Volkspartei" eigentlich eine Zumutung ist. Denn er ist nicht gerade klar.
Aus Sternbergers Begriffswerkstatt
Seit er aufgebracht wurde, ist immer wieder Unmut über einen Ausdruck laut geworden, der das Ganze mit dem bloßen Teil, das "Volk" mit der Partei verquickt. Dieser Ausdruck konnte doch nur die Quelle endloser Konfusionen sein. Um ein Beispiel zu zitieren: "Soll die SPD zu einer marxistisch orientierten, klassenkämpferischen, das System der sozialen Marktwirtschaft und der repräsentativen Demokratie zu transformieren und damit letztlich zu überwinden trachtenden 'Arbeiterpartei' werden", fragen Alexander und Gesine Schwan 1974, "oder soll sie die demokratische und soziale, d.h. linke Volkspartei bleiben und weiterhin sein, der es um die gesellschaftliche Fundierung und Entwicklung der bestehenden freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie und solchermaßen um Systemverbesserung durch eine langfristige Reformpolitik geht?" Man sieht gleich: Die "Volkspartei" ist das Gute, denn sie ist demokratisch und sozial, eine Arbeiterpartei aber würde den Markt und die Demokratie abschaffen. Das ist auch leicht zu verstehen, denn "Demokratie" heißt "Volksherrschaft", woraus sich eben im Umkehrschluss ergibt, dass nur "Volksparteien" demokratische Parteien sind.
Solche Dünnpfiffigkeit darf uns nicht verleiten, den Begriff Volkspartei einfach für Nonsens zu halten. Er ist als Begriff problematisch, doch es sind Beobachtungen in ihm zusammengefasst, die etwas treffen. Schauen wir uns die Union und die SPD an, sie standen ja für Sternbergers Begriffswerkstatt Modell.
Als erste gilt die Union
Die Union gilt als erste "Volkspartei". Tatsächlich entstand sie aus dem Impuls, die großen christlichen Konfessionen politisch zusammenzuführen. Es war die Öffnung der Weimarer katholischen Zentrumspartei für Protestanten. Damit kreuzte sich noch der Erfolg, den bayerischen Separatismus in einem gesamtwestdeutschen Kontext aufgehoben zu haben. Die Idee einer christlichen Partei war nicht zuletzt der Versuch, mit der NSDAP zu brechen und ihre Wählerschaft zu beerben, damit sie nicht dem Sozialismus in die Arme lief. Damit war freilich auch klar, sie wollte einen Teil des Volkes, nämlich die unchristlichen Sozialisten, nicht mitrepräsentieren. Es gehörte also zu ihrem Begriff, dass sie eine Partei außer sich hatte. Sie war keine Partei des ganzen Volkes. War sie dann eine "Volkspartei"? Immerhin, sie strebte die parlamentarische Mehrheit an.
Dasselbe kann von der SPD nach der Wende von 1959 gesagt werden. Der wesentliche Schritt des Godesberger Parteitags bestand darin, dass die Partei sich ausdrücklich für Christen öffnete. Man kann sich heute schwer vorstellen, dass das wesentlich gewesen sein soll, aber es war so, dieser Tagesordnungspunkt war am meisten kontrovers und löste die heftigsten Emotionen aus. Und er war tatsächlich entscheidend: Die Positionen der Union zu übernehmen – NATO, Wiederaufrüstung, Soziale Marktwirtschaft –, hätte wenig genützt, wenn man nicht auch die Christlichkeit ihrer Wähler anerkannt hätte. Der Nutzen war natürlich das Herüberziehen von Wechselwählern, die erhoffte parlamentarische Mehrheit.
Doch wurde die SPD durch diese Operation eine "Volkspartei"? Wahr ist, dass sie sich öffnete, wie das vorher die Partei getan hatte, die dem Weimarer Zentrum nachgefolgt war. In ihrer eigenen Terminologie war das eine Öffnung zu "bürgerlichen" Schichten hin. Sobald aber die Rede aufkam, sie habe sich in Godesberg "von der Arbeiter- zur Volkspartei" gewandelt, war gleich klar, man musste genauer sagen: "zur linken Volkspartei", denn es gab ja schon eine andere.
Die ganze Konfusion
Hier haben wir die ganze Konfusion. Wenn der Ausdruck "Volkspartei" etwas trifft, dann ist es die Konzeption, mehrere gesellschaftliche Kräfte als zwar verschieden, aber doch einer "Familie" angehörend in einer einzigen Partei zu bündeln. Das ist so weit sinnvoll. Wenn es überzogen ist, die "Familien-" zur "Volkspartei" verbal aufzublasen, sagt man sich auch wieder, dass Klappern zum Geschäft gehört. Der undeutliche Ausdruck war nicht schlimm. Aber das hatte Voraussetzungen, die erst im Nachhinein sichtbar geworden sind. Die SPD, nun als "Volkspartei" bezeichnet, hatte nämlich politische Ziele. Sie wollte den Rechtsstaat liberalisieren und eine Aussöhnung mit Osteuropa herbeiführen. Auch die Union hatte Ziele: die deutsche Vereinigung, die Wahrung der Sitten bis hin zur "freiwilligen Selbstkontrolle" der Filmemacher. "Volkspartei" zu sein, hieß daher für beide Seiten, dass sie ihre Ziele nicht als Ziele weniger, sondern möglichst vieler gesellschaftlicher Gruppen verstanden. Man wird das gewiss loben. Doch es ist lange her. Die Ziele sind teils verwirklicht worden, teils mussten sie aufgegeben werden. Man hätte erwartet, dass die Parteien danach neue Ziele, "nächste Schritte" in einer übergreifenden Strategie formuliert und erstrebt hätten. Doch das taten sie nicht. Sie wurden stattdessen zu Verwaltern politischer "Werte".
Diese Parteien sind nicht mehr strategisch, sondern, wie man sagen könnte, nur noch homöostatisch orientiert. Dem kleinen Apparat im Wohnzimmer vergleichbar, registrieren sie, ob die Werte "Gerechtigkeit" oder auch "Freiheit" über- oder unterschritten sind, und stellen notfalls das Gleichgewicht wieder her. Wer sie wählt, trägt also nicht mehr dazu bei, dass ein noch unvorhandener Zustand herbeigeführt wird, sondern seine Stimme ist lediglich die Bekundung, dass er einen "Wert" bejaht. Der Zustand, der dem "Wert" entspricht, ist ja anteilsmäßig immer schon da.
Kybernetische Überlegung
Die Wende von der Partei, die Ziele verfolgt, zur bloßen "Werte"-Partei dürfte mindestens ebenso wichtig sein wie die Wende zu dem, was Sternberger die "Volkspartei" nennt. Aber es stellt sich die Frage, ob das überhaupt verschiedene Wenden sind. Liegt nicht darin, dass man den offensichtlich unpassenden Ausdruck "Volkspartei" bildet, um den Zusammenschluss mehrerer Kräfte zu einer größeren Familie um politischer Ziele willen zu bezeichnen, bereits eine Tendenz, die aktive Partei der Ziele in eine passive Partei der "Werte" zu verwandeln? Denn wie wir sahen, neigt die "Volkspartei" zur Selbstverdopplung. Wenn es zunächst nur eine gibt, gibt es bald zwei, genau zwei, eine rechte und eine linke. Und dann geht es gar nicht mehr um Ziele, die im "Volk" vorhanden sein mögen, sondern um dessen Spaltung in eine rechte und eine linke Hälfte. Diese Spaltung ist bereits der perfekte Homöostat. Von "Werten" zu sprechen, fügt nur die passende Ideologie hinzu. Sie entspricht nämlich der kybernetischen Überlegung, dass der Ausfall eines Mechanismus, hier der Regierung, am schadlosesten überwunden wird, wenn im gleichen Umfang Ersatzteile zur Verfügung gestanden haben.
So ungefähr haben die Politologen auch wirklich gedacht. In einer wegweisenden Studie (Lipset / Rokkan 1967) konnte man lesen, in einem System aus nur zwei großen Parteien (oder Parteilagern) würden die Bürger "ermutigt, zwischen ihrer Loyalität zum gesamten politischen System und ihrer Haltung zu den Richtungen der konkurrierenden Parteien zu unterscheiden". Der damals sehr bekannte Demokratietheoretiker Seymour M. Lipset hatte auch geschrieben, Parteien hätten die Aufgabe, die sozialen Antagonismen auszugleichen, und dies gelinge mit Anhängern in allen sozialen Schichten am besten (Lipset 1962). Das war es genau, was man in Deutschland von den "Volksparteien" erwartete. Und die Stabilität eines solchen Systems kann weiter gesteigert werden. Man kann Anhänger nicht nur aller Schichten, sondern auch aller politischen Positionen sammeln, aus dem Mix der Positionen eine rechte Durchschnittspolitik machen, dieser rechten eine etwas verschiedene linke Durchschnittspolitik entgegensetzen. Dann ist alle Politik im Gleichgewicht des rechten und linken Lagers neutralisiert. Es wäre gewiss übertrieben zu sagen, Union und SPD hätten einen solchen Zustand der Entropie jemals wirklich erreicht. Aber er ist der Fluchtpunkt des Systems der "Volksparteien".
Die Antwort: eine Zurückweisung
Die Eingangsfrage, ob die Schwächung des Prinzips "Volkspartei" begrüßenswert oder bedauerlich ist, kann nun beantwortet werden. Wir beantworten sie, indem wir sie zurückweisen. Denn das sind eigentlich zwei Fragen, die ganz verschieden sind, aber so tun, als seien sie nur eine. Erstens: Ist es begrüßenswert, dass die Homöostase des Parteiensystems weiter geschwächt wurde? Die Antwort ist ja, denn in einem Parteiensystem soll man sich auf vernünftige Ziele einigen, statt dass bloß der Status quo bewahrt wird. Zweitens: Wäre es begrüßenswert, wenn sich alle Parteien in "Werte"-Parteien verwandelten, so dass es keine mehr gibt, die mehrere Kräfte um bestimmter Ziele willen zu einer "Familie" bündelt? Die Antwort ist nein, denn mit dem Status quo können wir uns nicht zufrieden geben.
Ein Wort zur Linkspartei kann hier füglich am Ende stehen. Sie hat wieder einen großen Wahlerfolg zu verzeichnen. Aber in ihr selbst hält eine Debatte an, die merkwürdig an jenen Satz Alexander und Gesine Schwans erinnert, den ich zitiert habe. Es gibt eine Strömung in ihr, die praktisch genauso fragt wie die Schwans. Als Gegner schwebt ihr Oskar Lafontaine vor, dem unterstellt wird, er sehe in der Partei nur eine Arbeiterpartei. Dabei steht den Lafontaine-Kritikern vor Augen, dass die vormalige PDS in Ostdeutschland doch schon "Volkspartei" gewesen ist. Aber man kann Lafontaine auch ganz anders wahrnehmen: als einen Politiker, der darauf beharrt, dass Politik machen gesellschaftliche Ziele verfolgen heißt. Deshalb muss er noch nicht einer sein, der zur Klassenpolitik zurück will. Und welche gesellschaftlichen Ziele werden eigentlich von den Kritikern verfolgt? Kurzum, das ist eine verworrene Debatte.
Kommentare 14
"Kurzum, das ist eine verworrene Debatte."
... in die sie dankenswerterweise für meine Verhältnisse eine enorme Menge Struktur bringen.
Die Frage Linkspartei (eigentlich eher PDS) und Volkspartei gut am Ende platziert. Dass sie in ihrer anfänglichen Aufzählung so ganz fehlte, machte mich nämlich stutzig. Ich hatte mit dem Gedanken, die Linke bzw. PDS sei eine Art ostdeutsche Volkspartei, mal einen bayerischen Bekannten schockieren wollen. Daraus wurde aber nichts, meinen Vergleich der PDS mit der CSU hatte er einfach klaglos hingenommen.
Ich nehme an, bei der zitierten Frau Schwan handelt es sich tatsächlich um die Kandidatin Schwan. Danke für das schöne Zitat, war hoffentlich nicht zuviel Wühlarbeit.
Wenn man den Vergleich mit anderen (Parteien-)Demokratien sucht, wie würden sie denn Parteien wie die britischen Torys, die Liberalen und Labour (Prä-New...) beurteilen? Ist es bei denen einfacher, sie als Volksparteien zu klassifizieren? Und was würde das über deutsche Verhältnisse aussagen?
Mit ergebenen Grüßen,
LH.
Ja, das ist die spätere Kandidatin Gesine Schwan, damals frisch verheiratete Gattin des Professors Alexander Schwan, vorher Studentin in dessen Seminar am Berliner Otto-Suhr-Institut. Das ist eine interessante Geschichte für sich: Alexander Schwan war als Befürworter des katholisch-kommunistischen Dialogs nach Berlin gekommen, wurde hier aber von den 68ern "fertiggemacht" und wandelte sich zum wütenden Antikommunisten. 1974 kam von ihm und seiner Frau das Buch "Sozialdemokratie und Marxismus" heraus, in dem sie angesichts der Entwicklung, die die Jusos damals nahmen, für die Unvereinbarkeit von SPD und Marxismus plädierten. Aus diesem Buch habe ich das Zitat genommen.
Was Tories und Labour angeht: In Großbritannien ist jedenfalls schon allein durch das Mehrheitswahlrecht gewährleistet, daß die großen Parteien große Parteien bleiben (weil kleine bei keiner Wahl eine Chance haben). Diese Parteien haben aber auch viel geschichtliche Tradition, es war bestimmt "Volksverbundenheit", was sie groß gemacht hatte. Mehrheitswahlrecht gibt es auch in den USA und in Frankreich, dort ist die Lage schon anders. Besonders in Frankreich zwingt das Wahlrecht Lager zusammen, die sonst wohl keine wären. Das Eigentümliche in Deutschland ist aber, daß es hier zeitweise gelungen ist, sehr große Parteien mit "Volksverbundenheit" auch ohne den Druck eines Wahlrechts zustandezubringen (das deutsche Wahlrecht ist ja eine Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, wobei letzteres aber deutlich dominiert, trotz der gegenwärtigen Debatte über Überhangmandate).
Danke für den anregenden Artikel!
Nur so nebenbei: Die SED, zumindest der 70er und 80er Jahre, war in diesem Sinne auch eine Volkspartei, auch wenn das heute nicht mal mehr alle ihre ehemaligen Mitglieder würden unterschreiben wollen.
Einen schönen ersten Tag der neuen Legislaturperiode!!
(dabei weiß ich gar nicht, ob die pro forma wirklich heute schon beginnt...)
Danke für den Tagesgruß! Ich glaube ja, es besteht überhaupt kein Grund zum Verzweifeln. Jetzt wird die SPD endlich gezwungen, sich zu regenerieren. Und das rechte Lager hat eine Mehrheit wegen der FDP, also der unbelehrbaren Ewiggestrigen, eigentlich sonst die Union wählenden Neoliberalen, die mit ihrer Donquichotterie bald genug vom Pferd fallen werden.
Rückfragen.
Kann man überhaupt die Frage
"Hat die „Volkspartei“ noch eine Zukunft?"
stellen (im Bezug auf den christlich Werte konservativen bzw. liberalen Anteil) schaut man sich unser Wahlsystem an?
Wo die Zweitstimme die Liberalen stärkt und die Erststimme für den Unionsüberhang sorgt, der sich dann in wesentlichen wirtschaftlich/sozialen Richtungsfragen als homogene, aber in Fragen von Bildung und Bürgerrechten doch durchaus differenzierten Gemeinschaft wiederfindet hat eben in Summe, Herkunft, Differenziertheit und Überlagerung doch Volksparteicharakter.
Die Antwort gibt also die Gegenwart. Die Volkspartei ist Gegenwart. Die Fragen, die sich vielmehr stellt ist, wie sich organisiert und ob es derzeit schick unter Journalisten ist, den Begriff in Frage zu stellen? Bei der Organisationsfrage muss man aufs Wahlrecht, auf die Vielfalt der Angebote in der Parteienlandschaft und deren Bereitschaft auf gemeinsamer Organisertheit schauen. Im bürgerlich liberalen Lager sind die Berührungsängste gering, weil man gemeinsam für "sich" etwas erreichen will; im bürgerlich links alternativ liberalen Lager sind die Abgrenzungswünsche höher, weil man innerhalb der Lagers lieber erscheinen als wirken will. Dies mag damit zu tun haben, dass die Vertreter der Parteien in den Parlamenten beruflich, wie wirtschaftlich wenig bis gar nicht in ihrer Wählerschaft verwurzelt sind. Das alles macht es grundsätzlich schwieriger als Einheit mit Volksparteicharakter zu wirken. Abstarkte soziale Gerechtigkeit ist deutlich schlechter vermittelbarer als 3 Euro 50 mehr Kindergeld und dies erst recht in verbalem Wettbewerb auf Papier zum inhaltlich politischen Nachbarn der im realen Leben ein politischer Gegner ist. Wettbewerb hier schwächt - Wettbewerb dort stärkt.
So wäre ausschließlich die Frage an die (eine) linke Volkspartei zu stellen, ob diese eine Zukunft hat und ob es als solche an nach aussen hin (nur) als homogene Struktur angeboten werden dürfte. Das "verworrene" an der Debatte liegt also möglicherweise im unterschiedlichen Verhalten der Lager und ihrer damit verbundenen Denkschemata.
"Wo aber Gefahr droht, wächst das Rettende auch." ;)
Eine "Volkspartei" ist eine Partei, die als Partei ein ganzes sei's rechtes oder linkes Parteien-Lager ersetzen will - das ist eine Hauptkomponente in dem insgesamt verworrenen Begriff. Eine andere ist der tatsächliche integrierende Bezug zu mehreren Teilen des "Volkes". Sie sagen nun, wenn ich es richtig verstehe, daß es Schwarzgelb gelinge, so etwas wie ein "Volks-Lager" zu sein, während es Rotrotgrün nicht gelinge. Teilweise kann ich Ihrer Analyse zustimmen. Ich meine aber , FDP und Union bilden eine solche Einheit nicht, sondern sind bloß ein künstliches und von vornherein bedrohtes Zweckbündnis. Was soll daraus werden, wenn die FDP als stolze Vertreterin der abspenstigen Unionswähler, die die Welt und deshalb die Union nicht mehr verstehen, nun mit eben dieser Union koaliert?
Keine politische Einheit (Partei) ist ein monolithischer Block. Von daher ist jedes Bündnis ein Zweckbündnis auf Zeit. Wobei wahrscheinlich eher 8 Jahre von heute an kein besonders bedrohtes Zweckbündnis zu sein scheint. Westerwelle, als Bildungsprofiteur der Bildungspolitik der Sozial-Liberalen Koalition hat, wie man einem Interview nach lesen konnte, diese Herkunft tatsächlich nicht vergessen. Gleichwohl sieht man bei der FDP von heute unter Westerwelle die großen Schnittmengen inhaltlicher, persönlicher und wahrscheinlich auch mentaler Art mit der Union. Das ist genau jene Frage wie sich die Parteienlandschaft fast Selbstorganisatorisch zusammen findet. Unser Wahlsystem mit 1. und 2. Stimme ist fast genial, damit das dahinter stehende Volk sich sowohl inhaltisch als auch taktisch verhalten kann. Das nutzt das Volk wie man auf der Wert konservativen, liberalen Seite sieht ziemlich optimal aus. Die sich verbinden wollenden überlagernden Teilmengen entsprechen wahrscheinlich auch dem Harmoniewunsch besser als die auf Abgrenzungen (als Disharmonie empfunden) bestehenden Schnittmengen auf der anderen Seite des Tisches.
Diese andere Denkstruktur dort (gemeine Unterstellung ich sehe es ein) sorgt wahrscheinlich auch für Deine letzte Fragestellung.
Oder in einer gewissen Umkehrung gedacht: würde die ?PD sich auf den Weg machen, um mit der Schwester "Die Linke" die gemeinsamen Teilmengen in einem vorübergehnden Zweckbündis als eine Einheit umsetzen zu wollen und umgekehrt, so könnte es auch wieder für linke Volksparteimehrheiten mit GRÜNE reichen. Das setzt aber jene Denkstruktur voraus für jemanden (und/oder sich selbst) etwas gemeinsam in Harmonie zu wollen und das Trennende, das bleibt, hinten an zu stellen.
Der Vorwurf an die FDP Klientelpartei zu sein, drückt an sich aus, dass jene (selbsternannten) Volksparteien ihre Klientel nicht hinreichend gut bedienen (wollen). Einen Vorwurf, der extrem gut zur ?PD der letzten Jahre paßt und dafür mitverantwortlich ist, warum man der ?PD den Status (Wert ?) "Volkspartei" berechtigt(?) aberkennt. Volksparteien bedienen ebenfals ihre Klientel. Der ist im Arbeitnehmerlager bei SPD und Union durchaus überlappend. Es hat schließlich nie wirklich gestimmt, dass der Bergwerker im Revier von Haus aus ein linker Arbeiter ist. Ganz im Gegenteil. Das sich als Heimklientel der Partei der kleinen Leute zur SPD bekenndender war stets auch Klein- oder Kleinstbürgerlich - aber nicht per se links.
Der Unterschied der FDP zur zB CDU ist, sie habe eine weniger homogene Klientel. Gleichwohl will sich jeder als existenzberechtigten Anteil wieder finden, wenn es die Verteilung der Früchte der Arbeit der eigenen Partei für die eigenen Interessen geht. Das gilt auch für das Volk und "ihren" Volksparteien. Die ?PD mit ihrer Agendapolitik und Hartzgesetzten unter Schröder hat diesen Grundsatz verlassen und damit einen Teil ihres Volkes ans Lager der Nichtwähler verloren.
An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass in meiner Umgebung die Wahlergebnisse zwischen 2005 und 2009 kaum veränderlich waren (Erststimme) und dies bei über 80 Prozent Wahlbeteiligung in 2005 und in 2009. Bei der Zweitstimme sieht das besonders für die ?PD deutlich anders aus. Es gibt wohl Zusammenhänge zwischen einmal der Wahlbeteilgung allgemein und zum anderen recht festen Lebenswelten (persönlichen Bezügen / Dorf vs. Stadt).
Ich sehe es tatsächlich etwas anders als Du. Keine Einheit ist ein monolithischer Block, aber deshalb ist nicht umgekehrt eine Überlagerung von Schnittmengen schon eine Einheit. Die Volkspartei, soweit sie Einheit ist, ist eine solche, die sich hinter Zielen versammelt, die tatsächlich ein und dieselben Ziele sind, und nicht eine Schnittmnge verschiedener Ziele, wobei es sich aber um, von diesen Zielen abgesehen, ganz verschiedene Kräfte handeln kann, z.B. Katholiken und Protestanten, Christen und Atheisten, Arbeiter und "Kleinbürger" usw. Das heißt natürlich, diese Kräfte haben auch verschiedene Ziele, die aber im Vollzug ihrer Einheit zu Sub-Zielen werden. Im Grunde siehst Du das doch so weit auch so: FDP und Union, als "Volks-Lager" betrachtet, beantworten gewisse wirtschaftliche, soziale "Richtungsfragen" identisch (nicht homogen sondern identisch) und können genau deshalb eine homogene (nicht identische aber homogene) Gemeinschaft bilden. Und was ich nun behaupte, ist, daß diese Homogenität gerade am Auseinanderbrechen ist: weil ein Teil der Unionswähler auf dem widerlegten Neoliberalismus beharrt, während der größere andere Teil sich im Zurückrudern übt. D.h. die Grundbeantwortung der Richtungsfragen selber wird rissig.
Daß dies die Gestalt eines Bündnisses von FDP und Union annimmt, ist im Grunde zweitrangig. Wenn man nur die Parteiorganisationen betrachtet, kann man von der "Überlagerung von Schnittmengen" reden, das ist ja die Sprache der Koalitionsverhandlungen. Aber da unser Thema die "Volkspartei" bzw. das "Volks-Lager" ist, wäre doch nach der Verankerung dieser Dinge im "Volk" zu fragen. Da schätze ich ein, daß der Spalt zwischen denen, die die Steuern senken wollen und zugleich "harte Zeiten" wegen der Milliarden für die Banken ankündigen, und denen in der Unionswählerschaft, die erkennen, daß mit "sozialer Marktwirtschaft" doch etwas anderes gemeint sein müßte, kurzfristig immer größer, immer gegnerischer werden wird.
Meine Einschätzung hat mit der von Dir unterstellten "Denkstruktur" nichts zu tun, glaube ich. Ich würde mich selbst nicht einmal als "links" bezeichnen, obwohl ich dem, was Linke vertreten, in der großen Mehrzahl der Fälle (immer noch) näher stehe als dem, was Rechte vertreten. Niemand ist gezwungen, grundsätzlich, vorab, außerhalb des jeweils zur Lösung anstehenden Problems entweder links oder rechts zu sein; ich jedenfalls lasse mich nicht zwingen. Links - rechts ist die Spaltung des "Volkes", von dem wir hier reden, in zwei ungefähr gleich große Hälften, so daß man es nach dem Motto divide et impera besser beherrschen kann. Ich habe unzählige Artikel darüber im "Freitag" geschrieben, es nützt nur nichts, ich hätte es mir sparen können, denn das ist eine (in der Realität hinreichend verankerte) Ideologie, der man mit Argumenten nicht beikommt.
@ Michael Jäger
In einer Zeit, wo das sog. 'Linke' von irgendwelchen Esoterikern bis zu bio-bürgerlichen 'gated-community'-Einwohnern reicht, dazwischen Anti-deutsche, und Querfrontler vielleicht auch noch, ist es auch geradezu masochistisch, sich als links zu definieren.
Und die 'unzähligen Artikel', sie stehen geschrieben und können gelesen werden. Immerhin, besser als nichts.
Hat die Volkspartei noch eine Chance? Diese Frage berührt die politische Rechte weniger als die politische Linke; heißt: das "C" steht, für Oma/Opa/autoritäte Charaktere.
Die Ideologie des Bürgertums, der Individualismus, hat viel mehr auf der linken, der wirklich emanzipatorischen Seite unproduktiv zugeschlagen. Hier wird bald jeder seine individualistisch eigene Partei gründen und damit ohne Bedacht den eigenen sozialen Zusammenhalt schwächen.
Man zähle mal SPD, Grüne, Linke, Piraten, DKP und MLPD zusammen, und man hat die Zersplitterung einer einzigen Partei der Klassengesellschaft. Die Rechte hält das noch gut zusammen in nur zwei Parteien, und hat NPD und DVU und Co. noch als Drohung.
Wenn man den Begriff "Volkspartei" aus dem Begriff "Klassengesellschaft" definiert, ist seit gestern nichts anders als vor der dringend notwendigen Revolution, die ja schon lange notwendig ist; genauer, der Abschaffung kapitalistischen Wirtschaftens.
Nach den Katastrophen und Weltuntergängen des 20. Jh. werden Volksparteien nun den Untergang des Globus als Heimstatt der Menschheit schönreden, und zwar für ihre Kapitalistenklientel, die noch kurz in Saus und Braus leben will.
Jedenfalls ist eins klar: Weder eine "Linke" und noch viel weniger natürlich eine "Rechte" wird aus der Klassengesellschaft, dem kapitalistischen Wirtschaften usw. jemals herausführen, so wenig wie meine linke Körperhälfte, in diesem Fall glücklicherweise, mich aus meinem Gesamtkörper herausheben wird, obwohl man ja sagen könnte, sie hätte Grund, sich das mindestens immerzu zu wünschen, ist sie doch in allen Belangen etwas schwächer als die rechte Hälfte, und das ist gerade das Frustrierende: daß sie nur e t w a s schwächer ist...
Ich meine aber, Individualismus ist nicht Ideologie des (kapitalistischen) Bürgertums. Es sei denn, Sie definieren ihn von vornherein so, nämlich als Egoismus. Marx schreibt, daß der Kapitalismus die Entfaltung des Individuellen verhindert, obwohl er auch eine unverzichtbare geschichtliche Rolle bei seiner Herbeiführung gespielt hat. Das ist ja das Thema meines Blogs. Die Konsequenzen dieser Wahrheit, wenn es eine ist, sind ungeheuer, und ich meine, man kann die Krise der "emanzipatorischen Seite" nicht zuletzt auch darin sehen, daß sie bis zum heutigen Tag das Verhältnis zwischen dem Sozialen und der Individuation nicht radikal hat klären können, wo doch gerade dieser heutige Tag sie zwingt, es bei Strafe des Untergangs zu tun.
Danke, den Zuspruch brauche ich.
Es muss auch keine Einheit werden, wenn man im Grunde mit Vorsatz dafür sorgt, dass der Wunschpartner mit Leihstimmen stark genug wird, um ans Ziel zu kommen. Wohl wissend, das ein 5 Parteiensystem absolute Mehrheiten fast unmöglich macht. Das ist mit Verlaub nichts anderes als intelligente Taktik im Rahmen unseres Wahlsystems - nothing else.
Die CDU solo hat wohl 40 Prozent Erstimmen bekommen. Nach Marinanne Milchmädchen hat also die FDP 6 bis 7 Prozent der Zweitstimmen von der CDU Solo bekommen. Das reduziert die FDP halbwegs auf Normalmaß. Betrachtet man die Wahlbeteligung ist das Normalmaß. Das bedeutet im Ergebnis schon, die bürgerlich, wertkonservative Volkspartei ist nach wie vor Gegenwart.
Auf der Seite "was ist Links? Wir sind zwar tendentiell eher dort zu hause, aber wir bezeichnen uns nicht so, weil wir nicht so genau wissen wer wir sind. (leichte (Selbst-) Ironie)" hast Du das gegenteilige Bild bei ähnlichen Voraussetzungen. Und wenn wir nicht in den Bund schauen und nicht nach NRW, sondern ins Saarland, dann siehst Du, dass mit (wie berechtigt auch immer) als Links autentischen Personen linke Mehrheiten möglich sind, die auch unter einem Dach einer Partei möglich wären, hätte Oskar die SPD nicht verlassen (müssen?). Das Saarland hat bewiesen, dass eine linke Volkspartei Gegenwart sein kann.
Mein kurzer Hinweis auf das Ergebis "meines" Wahllokales in einem schwarzen Stammland in NRW sollte an sich aufzeigen, das die ?PD bei hoher Wahlbeteiligung im Bereich Zweitstimmen satt verloren hat, bei den Ersttimmen aber an sich konstant blieb. Das Volk wählt sehr wohl taktisch, nachtragend und mit Absicht. Das eien Volkspartei darunter zu leiden hat liegt nicht am Status Volkspartei oder derem vermeitlichen Ende, es liegt an der falschen Klientelpolitik dieser Partei im Bund.
Warum also immer diese mEn künstliche Debatte um das vermeintliche Ende vom Kalb "Volkspartei"? Ich für meinen Teil halte es für reine Ablenkung.