Der Vorschlag André Bries, die neue Linkspartei WASG solle nicht zur Bundestagswahl antreten, sondern in Form einzelner Personen auf der Offenen Liste der PDS mitkandidieren, ist in dieser Zeitung von Elmar Altvater begrüßt worden (Freitag 14/2005). Brie selbst konnte sich dann auf den Hinweis beschränken, "dass eben 10 bis 15 Prozent der Menschen in der Bundesrepublik nicht mehr parlamentarisch und politisch vertreten sind"; davon, dass er dieses Problem durch einen Kandidaturverzicht der WASG gelöst wissen will, sprach er nicht einmal mehr, sondern plädierte nur dafür, den neoliberalen "Systemwechsel" mit dem "Beginn des Kampfes für einen grundlegenden politischen Richtungswechsel" zu kontern (Freitag 15/2005). In meinen Augen geht hier einiges durcheinander. Außerdem schweigen sich Altvater wie Brie über die zentrale Schwierigkeit aus.
Dass ein grundlegender Wechsel, also ein Ausstieg aus der kapitalistischen Entwicklungslogik zur Tagesaufgabe wurde, ist seit Jahren auch meine Überzeugung. Doch Brie widerspricht sich selbst, wenn er daraus einerseits richtig ableitet, es gehe jetzt "nicht mehr primär um fünf Prozent", andererseits aber die Frage, ob 10 bis 15 Prozent der Wähler parlamentarisch vertreten sind, zum "Maßstab" erhebt. Die Frage der parlamentarischen Vertretung und die Politik des grundlegenden Wechsels haben doch leider gar nichts miteinander zu tun: Jene 10 bis 15 Prozent Wähler sind seit 2002 nicht mehr im Bundestag repräsentiert, aber hätte die PDS nicht trotzdem eine Politik des Wechsels einleiten und eine entsprechende Bewegung entfachen können? Umgekehrt könnten zwar ab 2006 Fraktionen - sei es der PDS, der WASG oder von beiden - im Bundestag sitzen, aber ob eine dieser Parteien dann wirklich eine Politik des Wechsels einleitet, wissen wir nicht.
Es liegt sogar etwas Kontraproduktives in der Art, wie Brie den grundlegenden Wechsel beschwört. Denn gerade weil er ihn nicht konkretisiert und andere in seiner Partei es auch nicht tun, mögen manche sich erinnern, dass der Buchstabe "S" im PDS-Namen für "Sozialismus" steht, während die WASG dergleichen weder namentlich noch programmatisch bietet; sie bricht "nur mit der neoliberalen Wende der SPD" - einen Weg aus der kapitalistischen Gesellschaft zeigt sie nicht. Nun bedeutet freilich diese Beschränktheit genau das, wozu sich auch Brie und die ganze Reformer-Gruppe der PDS immer wieder bekannt haben: den Platz der alten SPD einzunehmen, nachdem diese ihn geräumt hat. Aber weil die WASG den Sozialismus nicht einmal im Parteinamen vorgaukelt, denken manche vielleicht, der grundlegende Wechsel sei dann doch besser bei der PDS aufgehoben.
Die Frage des grundlegenden Wechsels führt in der WASG-PDS-Frage überhaupt nicht weiter. Wer diese Fragen vermengt, wird blind für den Sinn der WASG-Kandidatur: Er besteht darin, einer neoliberalen SPD so viele Stimmen zu entziehen, dass sie die Kanzlermacht verliert. Die Vorstellung Elmar Altvaters, es könne letztlich "zwei mal fünf gleich null" herauskommen, ist wegen dieses Nahziels vollkommen abwegig. Wenn das Nahziel erreicht wird, dürften systemkritische Töne, wie Müntefering sie jetzt vielleicht nur hören lässt, um dem Ärger der Genossen ein harmloses Ventil zu öffnen, in der SPD stärker und ernster werden. Dann wäre das gesellschaftliche Kräfteverhältnis ein wenig zuungunsten des Neoliberalismus verschoben. Einer Politik des grundlegenden Wechsels würde das bestimmt nicht schaden, eher nutzen.
Entscheidend ist aber in der WASG-PDS-Frage etwas ganz anderes. "Ca. 90 Prozent des linken Wählerpotenzials in Westdeutschland", schreibt Brie ganz richtig - nicht im Freitag, aber in der Zeitschrift Sozialismus (4/2005) -, werden von der PDS "weiterhin nicht erreicht", weil sich die "kulturellen, geschichtlichen, medialen und politischen Hürden" zwischen West und Ost "als zu hoch und stabil erweisen". Ja, das ist die zentrale Schwierigkeit. Warum sollte sich bis 2006 daran etwas geändert haben? Man muss eine Schlussfolgerung daraus ziehen: Nicht zwei mal fünf, sondern einmal fünf wäre gleich Null. Will sagen: Auch wenn die WASG nicht kandidiert, kann die PDS 2006 wieder an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Es hat ja schon 2002 keine WASG kandidiert. Eine Offene Liste jedenfalls, auf der auch Einzelpersonen der WASG stünden, würde die Wahlchancen der PDS um keinen Deut erhöhen, da sich Wähler mit Feinheiten von der Art, ob eine Liste "offen" oder "geschlossen" ist, gar nicht aufhalten, sondern dem Wahlzettel nur entnehmen, dass es sich eben um eine PDS-Liste handelt. Die PDS ist schon bisher mit Offenen Listen angetreten, aber hat man jemals Wähler sich fragen hören, ob zum Beispiel Ulla Jelpke der PDS angehört oder nicht?
Die PDS ist eine Partei aus dem Osten und hat als solche im Westen fast gar keine Chance. Man kann das bedauern, es ist aber eine Tatsache. Ich zweifle sogar, ob Brie sich der Tragweite dieser Tatsache wirklich bewusst ist. Die "geschichtlichen Hürden" reichen ja nicht nur bis zur DDR-Zeit zurück. Es hat überhaupt niemals einen Zeitpunkt gegeben, in dem West- und Ostelbien nicht durch Hürden getrennt waren. Als zum Beispiel Preußen Deutschland beherrschte, trug man es im Westen mit Missmut, fast wie eine Fremdherrschaft. Als Deutschland entstand, entstand es zunächst nur im Westen, der Osten kam durch Kolonialisierung dazu. Dazwischen liegt die Reformation, die vom Osten ausging. In ihrem Gefolge gab es 150 Jahre lang innerdeutsche Konfessionskriege. Die neueste deutsche Vereinigung ist nun auch schon wieder 15 Jahre her. Warum kann sich die PDS nicht damit abfinden, dass Westwähler sich nun einmal nicht von einer Ostpartei repräsentieren lassen wollen? Ein Oskar Lafontaine wird vielleicht die WASG, niemals aber eine Offene Liste der PDS zieren.
Die Gründung der WASG ist ein strategischer Fortschritt, weil sie eine Westpartei ist. Eben deshalb hat sie die Chance, jene 90 Prozent des linken Wählerpotenzials in Westdeutschland auszuschöpfen, die der PDS unerreichbar sind. Deshalb müssen WASG und PDS unabhängig voneinander möglichst viele Stimmen auf sich vereinigen, im günstigsten Fall jede mehr als fünf Prozent.
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