Stücke wie Gold, Knochen, Wespe, Holz, Öl und so weiter hat Enno Poppe nun schon so viele vorgelegt, dass allein aus solchen Titeln sein Bemühen um Klänge spricht, die sich bei aller auch mathematischen Formung unmittelbar an die Sinne wenden. So wird auch das neue Album des 1969 geborenen Komponisten mit einem dreizehneinhalb Minuten langen Stück namens Fleisch eingeleitet, und man glaubt kaum, hier eine Darbietung modernster atonaler Musik anzuhören, wähnt sich eher in einem Beat- und Jazzkeller gleichzeitig. Das liegt nicht zuletzt an der Gruppe, für die er komponiert hat, das mit Schlagzeug, Keyboard, Saxofon und E-Gitarre besetzte Ensemble Nikel. Poppe hat sich immer auch von den Instrumenten der Menschen, die seine Musik uraufführten, insp
ten der Menschen, die seine Musik uraufführten, inspirieren lassen. So sagte ihm, wie er berichtet, der E-Gitarrist Yaron Deutsch, „er hätte noch nie so (Jimi)-Hendrix-mäßig spielen dürfen wie in Fleisch“.Man wird süchtig, wenn man das hört, auch wenn es nur „Trümmer von Rockmusik“ sind, so Poppe, durch die man „die ganze Zeit an irgendetwas erinnert werden soll, ohne dass die Assoziationen zu konkret werden“. Das Stück erfüllt zugleich auch Erwartungen an Kammermusik für den Konzertsaal, denn es ist dreiteilig und hat einen langsamen Mittelsatz. Die ersten beiden Sätze führen mehr die kompositorischen Elemente vor, der dritte lässt an der Session teilnehmen.Irrwitzige MärscheAuf Fleisch folgt – fast einstündig – Prozession für großes Ensemble (2015/20), gespielt vom Ensemble Musikfabrik. Dieses Stück führt uns in eine ganz andere Welt, abgesehen davon, dass es auch hier um Erinnerung geht, oder soll man sagen, um Gegenwart? Erinnerung ist ja Vergegenwärtigung und umgekehrt ist Gegenwart – statt ein Jetztpunkt zu sein, den man gar nicht erleben könnte – so viel sinnerfüllte Zeit, wie die Sinne zurück- und vorausfühlen können. Von Prozession sagt Poppe, er habe im ersten pandemiebedingten Lockdown-Jahr entschieden, eine fünf Jahre früher gefasste Idee so ausführlich zu gestalten, weil „das Gefühl, unbegrenzt viel Zeit zu haben“, ihm seine „Angst zu langweilen“ genommen habe.Wie der Titel andeutet, war hier katholische Passionsmusik die Inspirationsquelle: „etwa die irrwitzigen Märsche der Semana Santa in Sevilla“. Tatsächlich lohnt es sich, zuerst solche Märsche bei Youtube anzuhören, um dann zu fragen, was Poppe daraus gemacht hat. Es sind große Umzüge von Trommeln und Blechbläsern, die über lange Zeit Klagetöne vortragen, immer ungefähr die gleichen, zusammenhängend zwar, aber auch chaotisch. Langsam, würdig, massiv.Die Erinnerung an die Umzüge steht ziemlich am Anfang, dann wird sie analysiert, dann kommt immer mehr die Ausweglosigkeit der Trauer zum Ausdruck. Die bei aller Differenziertheit kunstvoll monoton gestaltete Musik wendet sich nach allen Seiten, um einen Ausweg zu finden, und findet ihn nicht. Auch der anschließende Versuch, ein Ziel zu finden, scheitert. Dann aber, vielleicht weil sie aufgibt, wird die Musik ruhig und findet am Ende zu Klangflächen, die dem „Farben“ genannten Mittelsatz von Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücke op. 16 (1909) sehr ähnlich sind. „Es wird ein Zustand erreicht“, sagt Poppe, „über den ich wenig weiß und auch wenig sagen möchte, ein Zustand, der über die Musik hinausweist, die Zeit anhält“.Placeholder infobox-1