Entgleisung der Gedanken

Heisser Herbst? Mehr als die Maßnahmen der "Agenda 2010" müsste deren Diskurs angegriffen werden

Die Wahrscheinlichkeit, dass es einen heißen Herbst des Protests gegen die Agenda 2010 und andere sogenannte Reformen geben könnte, ist in den vergangenen Monaten nicht gerade gestiegen. Im Frühjahr noch deutete manches darauf hin, doch Gerhard Schröder ist fast spielend mit allen Bedrohungen fertig geworden. Die Unterschriftensammlung in seiner Partei scheiterte, noch ehe sie begonnen hatte, auf dem von den Kritikern selbst geforderten Sonderparteitag: Schröder verstand es, ihn zur Abstimmung über eine neuerliche "Vertrauensfrage" zu nutzen. Im Sommer ging es darum, den DGB gefügig zu machen. Als die Ostmetaller um die Einlösung eines seiner Wahlversprechen streikten - die Lohnverhältnisse in Ost- und Westdeutschland sollten bis 2007 übereinstimmen -, nahmen er und sein Wirtschaftsminister öffentlich für den Unternehmerverband Partei. Die IG Metall, von der man erwartet hatte, sie würde den heißen Herbst anführen, verlor den Arbeitskampf und steckte danach monatelang in einer Führungskrise. Die Wahl des neuen IG Metall-Vorsitzenden Peters konnte zwar nicht verhindert werden, doch sie war schwierig, und davon profitierte Schröder. Er beherrschte das Gespräch mit den Gewerkschaftsführern eine Woche nach Peters´ Wahl: Obwohl die Gewerkschaftsführer wieder die Agenda kritisierten, blieb als Haupteindruck das freudige Lob, das DGB-Chef Sommer dem Kanzler spendete, weil der wieder einmal etwas versprach: Er werde Unternehmen, die Lehrlinge nicht freiwillig ausbilden, per Gesetz dazu zwingen. Er hatte schon fast fünf Jahre Gelegenheit, das zu tun.

Den heißen Herbst nicht weiter anzustreben, besteht kein Grund. Aber woran liegt es, dass die Schwierigkeiten so groß sind? Das muss man herauszufinden versuchen. Die Politik des Kanzlers ist extrem ungerecht gegen ostdeutsche Arbeitnehmer wie gegen sozial Schwache überhaupt, und doch steht das Kräfteverhältnis für ihn günstig. Darin besteht das Rätsel. Wir kommen vielleicht voran, wenn wir eine grundsätzliche Überlegung nicht scheuen. Gerechtigkeit ist eine ideelle Sache. Wie kann sie sich in einer materiellen Sache, dem "Kräfteverhältnis", überhaupt niederschlagen? Politik ist nicht mit Physik zu verwechseln. Es reicht jedenfalls nicht, sich vorzunehmen, möglichst viele Gewichte auf die Waagschale, sprich Menschenkörper im Herbst auf die Straße zu bringen. Denn diese Körper lassen sich durch Hebel und Flaschenzüge nicht bewegen. Wenn überhaupt, bewegen sie sich nur selbst, das aber tun sie nur in Begleitung von Gedanken. Wahrscheinlich liegt darin der Mangel: Auf die Gedanken wird nicht zureichend eingewirkt. Die Kommunikation läuft falsch. Wollte man sich bequemen, den Kommunikationsverlauf zu studieren, man würde bald sehen, wie der Mangel behoben werden könnte.

Was ist die Lage - nämlich die Kommunikationslage? Regierung und Opposition definieren ein Problem, oder sagen wir einfach: Sie stellen eine Frage. Ihre Antworten sind fast identisch geworden, darüber ärgern wir uns. Aber wir fragen nicht unsererseits, ob das etwa deshalb so ist, weil die Art, wie sie fragen, etwas anderes als diese einzige Antwort nicht zulässt. Denn Fragen solcher Art gibt es. Wenn zum Beispiel jemand auf dem Elektrischen Stuhl sitzt, dort um sechs Uhr morgens hingerichtet werden soll und ich zu diesem Zeitpunkt den Elektriker nur frage, wie spät es ist, sollte ich mir die Antwort und deren Folgen leicht ausmalen können. Mit einer derartigen Frage greife ich in das Geschehen nicht ein, sondern überlasse es seinem Selbstlauf.

Regierung und Opposition fragen, wie man die Massenarbeitslosigkeit beseitigen, und zugleich, wie man den Staatshaushalt sanieren kann. Ihre Antwort läuft darauf hinaus, dass man der Massenarbeitslosigkeit desto besser begegne, je besser man den Staatshaushalt saniere. Ob letzteres wirklich geschieht, wenn man die Arbeitslosenhilfe abschafft und den Apparat des Arbeitsamts drastisch verschlankt, oder ob solche Maßnahmen nur Tropfen auf den heißen Stein sind, darüber könnte man schon streiten. Aber viel interessanter wäre der andere Streit, ob es wirklich einleuchtet, dass es den Arbeitslosen hilft, wenn erst einmal dem Staat geholfen ist. Dieser Streit wird gar nicht geführt. Dabei ist die Fragestellung paradox genug: Es soll dem Arbeitslosen letztlich nützen, dass man ihn erst einmal tiefer ins Elend stürzt. Die Leute lassen sich ein solches Argument gefallen, weil sie es gewohnt sind. Man sagt ja auch, dass ein Unternehmen sich sanieren müsse, und notfalls durch Entlassungen, damit es konkurrenzfähig werden und dann Arbeitskräfte einstellen könne. Aber man lässt sich das Argument nur gefallen, weil die Übertragung des gewohnten Gedankens auf den Staat unbewusst geschieht. Bei bewusster Übertragung würde die Absurdität auffallen. Der Staat ist doch nicht dazu da, auf dem Feld der Konkurrenz mitzuspielen. Er ist kein Profitunternehmen. Diese seltsame Debattenlage zu erzeugen, war von Anfang an - seit Politiker wie Franz-Josef Strauß die "Staatsverschuldung" angriffen - ein Anliegen der neoliberalen Strategie.

Es ist zwar wahr, dass ein Staat, der keine oder weniger Zinsen für Schulden zahlen würde, mehr Freiraum hätte, seinen sozialen Aufgaben nachzukommen. Aber wenn wir das wissen, wissen wir noch nicht, ob er seine Schulden aus diesem Grund abbaut oder aus einem anderen. Man hat es in den USA gesehen: Dem Sozialdemokraten Clinton gelang zwar der Schuldenabbau, aber seine Absicht, sich danach den sozialen Aufgaben zuzuwenden, wurde konterkariert. Staatsschuldenabbau ist nämlich auch für diejenigen ein Ziel, die weiter nichts wollen, als dass der Staat keine roten Zahlen schreibt, weil er niemandem, das heißt keinem Unternehmen und keiner Bank zur Last fallen soll. So denken die Unternehmer und Banker selber, sind sie doch ihrerseits gehalten, jede Schuld auszugleichen. Das ist es, was sie unter Gerechtigkeit verstehen. Wenn sie entsprechend mächtig sind, setzen sie ihre Gerechtigkeit durch. Deshalb wollen sie demselben Staat, den sie sich schuldenfrei wünschen, auch zugleich die Steuerquellen abschneiden, soweit sie bei Unternehmern sprudeln. So wurde Clintons Schuldenabbau zuletzt nur für Steuererleichterungen genutzt und im übrigen seit dem "11. September" für massive Rüstungsprogramme, die auch nicht gerade eine soziale Funktion realisieren.

In dieser Strategie wird der Sozialstaat zum Verschwinden gebracht, nicht aber der Staat. Der Staat wird durchaus weiter gebraucht. Er soll zum Beispiel Kriegszüge bezahlen können, in deren Tross die Profitwirtschaft mitzieht. Dafür braucht er Steuern, die man hauptsächlich den Arbeitnehmern abverlangt. Die Frage ist nur, ob das, was da unter dem Namen "Staat" gebraucht wird, diesen Namen noch verdient.

Es verdient eher seinerseits den Namen eines Unternehmens, mehr sogar als die, die man so nennt. Im alten Rom hieß die Organisation "Unternehmen", die dem sklavenhaltenden Landbesitzer Geschäfte außerhalb des Landes gegen Entgelt erledigte. Der ursprüngliche Begriff des Unternehmens gleicht also dem heutigen Begriff des Zulieferers. Heute wird der Staat zum bloßen Zulieferer - nicht von Rohstoffen, sondern von Sicherheit - für das Kapital. Das heißt, er hört auf, Staat zu sein. Damit verträgt es sich nicht, dass er Arbeitslosenhilfe zahlt; es ist für ihn eine sinnvolle Kostensenkungsmaßnahme, die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen.

Wir gingen aus von der Frage, die Regierung und Opposition gemeinsam stellen: wie man die Massenarbeitslosigkeit beseitigen und zugleich den Staatshaushalt sanieren kann. An der Art, wie sie unisono antworten, sieht man, dass in Wahrheit nur der zweite Teil der Frage gilt. Der erste Teil ist gelogen.

Die Massenarbeitslosigkeit soll gar nicht beseitigt werden. Kein führender Politiker von SPD und Union rührt dafür auch nur den kleinsten Finger. Ist es nun ein Wunder, dass gegen sie kein heißer Herbst auf die Beine kommen will? Es ist deshalb kein Wunder, weil der Angriff auf ihre falschen Fragen ausbleibt. Von ihnen wird die Kommunikation beherrscht. Noch ihre Gegner nehmen an dem Versuch teil, die falschen Fragen zu beantworten und somit zu befestigen. Das zeigt sich übrigens auch an der Gehemmtheit vieler Gewerkschafter, die Kritik an der kapitalistischen Globalisierung vorbehaltlos zu unterstützen. Spätestens nämlich, wenn "der Staat" den Welthandel im Kapitalinteresse manipulieren hilft, glauben sie, das geschehe auch zum Schutz heimatlicher Sozialbindungen. Sie glauben eben, sie hätten es noch mit einem Staat zu tun. Das ist der Grundirrtum. Dagegen kann es keine Demonstration geben, wenn diese nur der Versuch ist, Körper auf die Straße zu rollen. Man muss vor allem die Entgleisung der Gedanken korrigieren.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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