Entrückung in die Musik

Ultraschall 2017 Musik kann nicht anders, als sich am versöhnten Ganzen zu messen. Wenn die Instrumente allein es nicht hergeben, erhebt der Mensch seine Stimme

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Notgedrungen hat dieser letzte Beitrag zum Festival Ultraschall 2017 den Charakter eines Nachtrags, denn es ist am vorigen Sonntag zuende gegangen und worüber ich noch berichten kann, liegt noch länger zurück. Ich bin nicht früher zum Schreiben gekommen und kann jetzt nicht mehr aus der Frische des Erlebnisses heraus schreiben. Es liegt mir aber daran, die interessante Themenstellung des Festivals – „die menschliche Stimme“ – noch einmal zu unterstreichen.

Über zwei Konzerte vom Freitag voriger Woche hatte ich noch berichten wollen. Das eine brachte Streichquartettmusik, die in zwei Fällen von einer Sopranistin begleitet wurde oder sie begleitete oder sich um sie ergänzte, wie sich Quartette auch sonst zum Quintett oder Sextett ergänzen, indem sie weitere Instrumentalisten hinzuziehen. Es gibt all diese Möglichkeiten und schon beim berühmten Premierenfall der Kombination Streichquartett plus Sopran, dem Zweiten Quartett fis-moll op. 10 (1907/08) von Arnold Schönberg, muss man sagen, dass da eigentlich keine ausgelassen wird. Denn erstens kommt die Stimme erst im dritten Satz hinzu – nachdem aber schon im zweiten ein Lied zitiert worden war -, zweitens tritt sie gewissermaßen an die Stelle des Kontrabasses, der häufig bei der Quintettbesetzung das Hinzutretende ist – indem gleichsam nicht das Tiefste ergänzt, sondern noch die Violone übertroffen wird -, drittens aber zieht der Sopran die Aufmerksamkeit auf sich, wenn er ein Gedicht von Stefan George singt; er lässt dem Quartett dann nur die Rolle der Begleitung.

Es ist schon zum Staunen, wie eine neue Fragestellung, hier die des Festivals, den Blick auf eine Sache verändert: Wenn ich jetzt die Worte lese, mit denen der Sopran bei Schönberg einsetzt – „Tief ist die trauer / die mich umdüstert / Ein tret ich wieder / Herr! in dein Haus“ (Beginn des Gedichts „Litanei“) -, wird mir klar, dass hier ganz einfach von der Stimme die Rede ist, die wieder „eintreten“ darf in die Instrumentalmusik. Unterwürfig zwar, „Herr!“ rufend, tritt sie ein, doch kann es ja mit dem Herrn nicht weit her sein, wenn das Lied, das er wie gesagt unmittelbar vorher zitiert hat, auf die Worte „O du lieber Augustin, alles ist hin“ gegangen ist. Im vierten Satz hat der Sopran dann auch schon begriffen, dass er in seinem eigenen Haus angekommen ist. Dem Haus der Musik als einem der wenigen verbliebenen Institute, die uns noch erlauben, Trauer auszustellen und zu ihr zu stehen, wo wir also mal das ständige Lächeln und Grinsen für zwei Stunden an der Garderobe abgeben dürfen (Beginn des Gedichts „Entrueckung“):

Ich fühle luft von anderem planeten.
Mir blassen durch das dunkel die gesichter
Die freundlich eben noch sich zu mir drehten.

Und bäum und wege die ich liebte fahlen
Dass ich sie kaum mehr kenne und Du lichter
Geliebter schatten – rufer meiner qualen –

Bist nun erloschen ganz in tiefern gluten
Um nach dem taumel streitenden getobes
Mit einem frommen schauer anzumuten.

Ich löse mich in tönen · kreisend · webend ·
Ungründigen danks und unbenamten lobes
Dem grossen atem wunschlos mich ergebend.

Am vorvorigen Freitag waren einige Werke von Harrison Birtwistle zu hören, und ich zitiere hier einfach aus meinem Beitrag für die Printzeitung, der am Donnerstag schon erschienen ist: „Sind Werke für Instrumentalmusik und Gesang so angelegt, dass die Instrumentalisten dem Gesang dienen, oder ist es umgekehrt? Jana Kuss spielt im Kuss-Quartett die erste Violine. Wie sie sagte, gibt es Sänger, deren Stimme mit ihrem Ensemble einfach nicht zusammenpasst. Man konnte aber hören, wie gut es mit Mojca Erdmann harmoniert. Sie sang unter anderm die 9 settings of Lorine Niedecker (1998/2000) von Harrison Birtwistle für Sopran und Violoncello, ein abwechslungsreiches Stück, in dem das Cello antwortet oder fragt, mal dagegenhält, mal kontrapunktisch begleitet, sich Einwürfe erlaubt und anderes mehr.“

*

Das andere Konzert vom vorvorigen Freitag galt einem Thema, dessen Präsentation man auf einem Musikfestival nicht unbedingt erwartet: der Flüchtlingskrise. Hier wurde eingelöst, was in der Festival-Ankündigung so rätselhaft geklungen hatte: die Reise in „nahezu völlig unbekannte musikgeschichtliche Territorien“. An diesem Abend wurde man in den Balkan entrückt, durch den die Flüchtlingsrouten verlaufen. Der Zugriff war nicht einseitig, denn nicht nur die Flüchtlinge, auch die Routen haben etwas zu erzählen. Der Balkan ist seit dem 19. Jahrhundert von vielen Kriegen zerfurcht. Von den Balkan-Komponisten, die vorgestellt wurden, sind die meisten emigriert, manche kennen das Flüchtlingsschicksal aus eigener Erfahrung.

Man hat zwar die Texte nicht verstehen können, die von dem 2012 gegründeten Chor gesungen wurden, der sich Solistenensemble PHÖNIX16 nennt, doch was zum Ausdruck gebracht wurde, war unmissverstehlich. Schon der Name des Chors ist sprechend: Wie „Phönix aus der Asche“ werden schon vergessene Kompositionen wieder ans Licht gezogen; vergessen sind sie auch deshalb, weil es Chöre, die sie singen können, gar nicht mehr gegeben hat; dieser Chor jedoch erhebt seine Stimme wieder für sie und bringt deshalb auch die Zahl seiner Sänger und Sängerinnen, es sind 16, in seinem Namen unter. Ich selbst kann nichts tun, als die Namen der Komponisten zu nennen: Ilhan Mimaroglu, Iannis Xenakis – der einzige, den man hierzulande kennt -, Vladan Radovanovic, Ivo Malec, Branimir Sakac, Vinko Globokar. Die aufgeführten Stücke entstammten der Zeit zwischen 1965 und 1978.

Auch hier gab es musikalische Vorbilder, auch hier könnte wieder auf Schönberg verwiesen werden. Schon dessen Chor, der am Beginn der Oper Moses und Aron (1923-37) als Stimme Gottes auftritt, bedient sich ganz verschiedener Modi des zu Wort Kommens, vor allem des Singens und Sprechens zugleich, und kennt Grade der Ruhe und der Aufgeregtheit. Ist es nicht schon bei der Darstellung eines Gottes bemerkenswert, dass der nicht bloß in ewiger Ruhe verharrt, sondern auch sein Engagement und mithin seine Erregung zeigt? Aber das ist nun eben der Charakter des geschichtlichen Gottes, den die jüdische Religion postuliert und die christliche übernommen hat. Zum Vorbild, meine ich, ist nicht nur die Mischung von Singen und Sprechen geworden, die von den Balkan-Komponisten noch deutlich weiter ausdifferenziert wird, sondern durchaus auch der Gottesbezug, in dem man letztlich ja nur die Hoffnung sehen kann, dass es mit der Menschen-Geschichte ein gutes Ende nehmen möge. Dieser Bezug, ob er sich der Gottesvokabel nun bedient oder nicht – es ist immerhin auffällig, wie sehr auch sie in der Musik, neben der erwähnten Trauer-Erlaubnis, überdurchschnittlich oft begegnet -, wird von aller Konzertmusik aufrechterhalten.

Musik kann gar nicht anders, als sich am versöhnten Ganzen zu messen, es liegt in ihrer Form wie in ihren Mitteln. Und so steht selbst noch die äußerste Zerrissenheit dieser Balkan-Kompositionen für den Frieden, von dem sie gern zeugen würden, aber nicht können. Sie erheben aber ihre menschliche Stimme für ihn. Sie klagen, erheben Klage im doppelten Wortsinn; das geht so weit, dass sie sich gleichsam das Gesicht zerkratzen. Es ist aber keine bloße Dokumentation des Leids, und darauf kommt es an. Deshalb kann ich den Ärger des Kollegen von der FAZ verstehen, der sich von den beiden rein elektronischen Stücken des Abends beleidigt fühlte. Das erste tat weiter nichts, als Kriegsgeräusche zusammenzustellen, das zweite überführte sie am Ende in Jazzgesten, suchte sich also in die Seele von Soldatenmördern hineinzuversetzen. Ich habs mir auch nicht gern angehört. Ich verstehe aber auch die Verzweiflung der Komponisten.

Danke noch einmal für dieses Festival. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie spannend das Thema „menschliche Stimme“ ist, hätte ich wohl wirklich alle 14 Konzerte besucht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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