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Selbstkritik Papst Franziskus besucht in den kommenden Tagen Israel und Palästina. Es könnte eine sehr bedeutsame Reise werden
Ausgabe 21/2014

Dass schon die zweite Auslandsreise des neuen Papstes nach Israel führt, ist nicht selbstverständlich. Benedikt hatte sich bis zur zwölften Reise Zeit gelassen, Johannes Paul II. bis zur 91. Paul VI. allerdings begann im Heiligen Land, und vor allem daran will Franziskus nun erinnern. Pauls Besuch beim Jerusalemer Patriarchen der orthodoxen Ostkirche vor 50 Jahren war überhaupt die erste päpstliche Reise nach jahrhundertelanger Unterbrechung gewesen. Aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil heraus, das noch andauerte, sollte der Faden der Ökumene wieder aufgenommen werden.

Auch Franziskus besucht nun vor allem wieder den Patriarchen, der heute Bartholomäus heißt. Er weiß aber natürlich auch, dass er an jenen Ort kommt, an dem sich drei Weltreligionen berühren, deren Gemengelage mit schwersten politischen Verwerfungen einhergeht, und dass man eine Stellungnahme von ihm erwartet. So wird er, wie die Päpste vor ihm, die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besuchen, die von der Katastrophe der christlich-jüdischen Geschichte zeugt; und er wird mit dem aktuellen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern konfrontiert sein.

Dem säkularisierten Europäer mag so eine Reise bedeutungslos erscheinen. Die aktuellen Probleme, wird er sagen, sind politischer Natur und können auch nur politisch gelöst werden. Ein allgemeiner Friedensappell, der nichts bewegt, mehr erwartet er nicht von Franziskus. Das ist doch nur ein Mensch der Religion, was kann er zur Klärung der harten Wirklichkeit schon beitragen? Viele denken, dass Religion jedenfalls nichts Materielles ist, „Opium für das Volk“ halt, wie Karl Marx in einer bekannten Jugendschrift urteilte. Gemüt, Selbstgefühl, Theorie der Welt, geistiges Aroma, illusorisches Glück sind weitere Ausdrücke, die dort zur Charakterisierung von Religion gebraucht werden. Wer wollte damit seine Zeit verschwenden! Das ist aber ein Irrtum. Die Reise des Papstes könnte sehr bedeutsam werden.

Vor 2.000 Jahren

Wir haben Jahrtausende hinter uns, in denen die materielle Gewalt der Religion sehr stark gewesen ist und leben im Niederschlag dieser Gewalt. Dabei geht es nicht nur um bewaffnete Islamisten, radikale jüdische Siedler und den aggressiven bible belt der USA. Das Phänomen ist viel grundsätzlicher. Warum unterscheidet sich Europa von den Vereinigten Staaten? Weil sie von Puritanern gegründet wurden, die England verlassen mussten. Warum glaubt jedermann, Russland als „der Osten“ sei völlig verschieden von West- und Mitteleuropa? Weil es beim orthodoxen Christentum geblieben ist. Warum im 20. Jahrhundert der Krieg zwischen Serbien und Kroatien, im 21. die ukrainische Bürgerkriegsgefahr? Wir sehen in beiden Fällen Katholiken auf der einen, Orthodoxe auf der anderen Seite der Front. Es ist nicht der momentane Hauptgrund der Konflikte, doch das Aktuelle war immer auch Aktualisierung: einer in Jahrtausenden gereiften, immer wieder „bewährten“ Struktur, die sich heute von Neuem „bewährt“ und dadurch noch weiter verfestigt. Man braucht nur an die Ostukrainerin zu denken, die mit ihrem Satz durch die Medien ging, zu einem Europa, in dem Conchita Wurst den ESC-Sieg erringt, wolle sie nicht gehören.

Warum gibt es den Unterschied von (post-)christlicher und islamischer Welt? Weil die antiken Christen sich über die Bedeutung der „Gottessohnschaft“ Christi nicht einig wurden. Es waren genau die Ost- und Südgebiete des Römischen Reiches, deren Bewohner im fünften Jahrhundert daran festhielten, dass Christus ein bedeutender Mensch, aber nicht „halb Mensch, halb Gott“ gewesen sei, die sich im siebten als islamische abgespalten haben, weil Mohammed dasselbe lehrte. Und warum gibt es das unlösbar scheinende Problem des israelisch-palästinensischen Zusammenlebens? Der letzte Grund ist, dass vor 2000 Jahren eine kleine jüdische Gruppe die neue christliche Religion schuf, die von der überwältigenden Mehrheit der Juden nicht angenommen wurde. Damit sind wir bei der Papstreise. Wenn Franziskus auf Christen, Muslime und Juden trifft, führt er sich kein „geistiges Aroma“ zu „Gemüt“, sondern bearbeitet eine eisenhart materielle Matrix.

Jedenfalls kann man nur hoffen, dass er es tut. Und gerade wer marxistisch denkt, muss ihm viel Glück wünschen. Denn warum kam Karl Marx auf Religion überhaupt zu sprechen? Weil, wie er sagt, „die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik ist“. Nun sehen wir, Religion erschöpft sich nicht darin, „Theorie der Welt“ zu sein, sondern hat deren materielle Struktur hervorgebracht und ist in diese immer noch eingeschrieben. Daraus folgt, dass die Kritik der Religion keine bloße „Theorie“ zum Gegenstand hat. Wenn sie nicht Kritik an einer „historisch-materialistischen“ Verfestigung ist – heute am israelisch-palästinensischen Konflikt, vor dem Hintergrund all der anderen Krisen in der Region, Syrien, Irak und Iran, und am Ukraine-Konflikt –, ist sie gar nichts.

Weil Franziskus einen Ostpatriarchen besucht, geht es auch um die Ukraine. Bartholomäus sitzt zwar in Jerusalem, doch auch das Moskauer Patriarchat interessiert sich für seine Amtsführung. Es hat im Vorfeld der Begegnung mit einem neuen Dokument seine Ablehnung des päpstlichen Primats über alle Kirchen bekräftigt. Die katholische Presse schreibt dazu, Moskau trete auf die Bremse. Wahr ist, dass die Patriarchen der Ostkirche den Papst zwar respektieren, aber auch nur als einen Patriarchen. Den Ehren- und „Liebesvorsitz“ räumen sie ihm ein, Lehrautorität dürfte er in einer geeinten Kirche nicht haben. Wie Franziskus darüber denkt, ist unklar.

Nur ein „Bischof von Rom“

Es ist durchaus denkbar, dass seine Gedanken in dieselbe Richtung gehen, denn er hat sich schon mehrmals als bloßen „Bischof von Rom“ bezeichnet. Würde er den von der Ostkirche gewünschten Schritt wirklich tun, wäre das auch im Verhältnis zu den lutherischen Kirchen eine entscheidende Klärung. Denn auch diese würden den Ehrenvorsitz des römischen Bischofs anerkennen. Es hätte ja den Vorteil, den der Papst schon heute hat, dass nämlich alle Welt wahrnimmt, was er sagt und und tut.

Politisch wäre die Folge, dass gewisse kulturelle Unterschiede nicht nur wahrgenommen, sondern auch etwas geduldiger ausgehalten würden. Die Welten, die durch Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus tief geprägt sind, reiben sich nicht nur wegen Conchita Wurst, sondern haben auch ein verschiedenes Verständnis von Politik und verschiedene ökonomische Mentalitäten. Darauf mit Kreuzzugseifer zu reagieren, weil man nicht erträgt, dass die eigene Welt nicht die einzige ist, ist der dümmste Weg. Wenn man glaubt, dass die andere Kultur sich ändern sollte, muss man ihr auch Zeit lassen, es tun zu können, und also anerkennen, dass sie sich „zeitweise“ noch unterscheidet. Das heißt, es müsste bei allem, womit sich die Kulturen provozieren und worüber sie streiten, eine beidseitig anerkannte Klammer geben. Als OSZE gibt es sie schon, aber ein zusätzlicher „Liebesvorsitz“ als Verklammerung durch den Papst wäre höchst wünschenswert. Wenn wir ihn schon hätten, könnte man sich Franziskus als Vermittler in der Ukraine vorstellen.

Gewalt gegen Vernunft?

Zwar wird sein Treffen mit Bartholomäus als Hauptsinn der Israelreise angegeben, doch sie beginnt schon in Jordanien. Das dortige Königshaus hat sich als Schaltstelle des christlich-islamischen Dialogs positioniert. Deshalb denkt man an Benedikts „Regensburger Rede“ aus dem Jahr 2006 zurück, in der er dem Islam eine besondere Nähe zur Gewalt unterstellte. Franziskus hatte sie seinerzeit offen kritisiert. Wird er etwas tun, um die Dinge zurechtzurücken? An Benedikts Rede war fatal gewesen, dass er gegen die Gewalt die Vernunft ausspielte, und zwar die griechische statt der christlichen, die laut Paulus im „Wort des Kreuzes“ verborgen ist. Wenn es aber eine christliche Vernunft gibt, dann nicht jenseits der Kreuzigung – nicht so, als wäre sie nicht selbst von Anbeginn in Gewalt verwickelt, durch Erleiden und auch durch Rache. Man kann sich einen Dialog vorstellen, der mit dem Geständnis der Christen beginnt, dass sie „angefangen haben“, und mit dem Protest beider Religionen gegen jegliche westliche wie islamistische Gewalt endet. Das wäre kein bloßer Friedensappell, sondern Ross und Reiter würden benannt. Es wäre Religionskritik als Selbstkritik der Religionen, der christlichen mehr noch als der islamischen.

Was das christlich-jüdische Verhältnis angeht, wird der Papst auf den Extremismus der Siedler stoßen. Der israelische Geheimdienst befürchtet, dass sein Besuch neue antichristliche Gewalt bei ihnen hervorrufen könnte. Tausende Polizisten sollen ihn deshalb schützen, der seinerseits im offenen Wagen fahren will. „Tod den Arabern, Christen und allen, die Israel hassen“, war kürzlich an der Wand des Gebäudes zu lesen, in dem Franziskus mit dem Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zusammentreffen wird. Die Christen haben die Juden gehasst, umgekehrt geht es auch. Das ist der tiefste Punkt und hier müsste eine Wende beginnen, die man nicht einmal Franziskus zutraut. Auch hier nämlich stellt sich die Frage, „wer angefangen hat“. Nach dem Heilsplan des Neuen Testaments werden sich die Juden irgendwann zum Christentum bekehren, dann erst kommt das Reich Gottes. Dass sie sich so hartnäckig weigern, hat den christlichen Hass immer wieder bestärkt.

Nach Auschwitz wird kein offener Hass mehr gewagt, aber dass der Holocaust den Heilsplan sprengt und widerlegt, weil er einer zweiten Kreuzigung Christi gleichkommt, die nicht vorgesehen war – des Juden, den das Neue Testament als „Gottesknecht“ und somit, wie man im Buch Jesaja nachlesen kann, als Israels Verkörperung versteht –, damit hat sich die Kirche bis heute nicht auseinander gesetzt. Vielleicht zeigt es an, dass die Juden nicht so Unrecht hatten, ihre Religion exklusiv für sich zu behalten, während das Christentum der Versuch war, sie der ganzen Welt zu übergeben? Kann es sein, dass die Welt überfordert war und sich dafür rächte? An den Juden, die es nicht zu verantworten haben? Wer in solchen Fragen vorankäme, hätte sich um den Weltfrieden wirklich verdient gemacht.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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