Sahra Wagenknecht provoziert immer wieder Aufregung, und die jüngste lief ab wie alle vorausgegangenen: Sie sagt Sätze zur Flüchtlingskrise, die ihr den Beifall der AfD und Kritik aus der eigenen Partei einbringen, und erklärt anschließend, was sie gemeint habe. Nehmen wir das Anfang Januar veröffentlichte Interview mit dem Stern: „Sie haben Merkels Satz ‚Wir schaffen das‘ als ‚leichtfertig‘ bezeichnet und der Kanzlerin vorgeworfen, viele Flüchtlinge erst ins Land gelockt zu haben. Das ist populistisch“, wird sie angesprochen. „Nein, das ist die Wahrheit“, erwidert Wagenknecht. „Natürlich waren die unkontrolliert offenen Grenzen damals ein Anreiz.“ Weiter sagt sie nichts. Der Stern-Journalis
Erwartungen an Sahra
Linkspartei Wie war das mit der Internationalen? Sahra Wagenknecht zeigt wenig Wissen über die Geschichte der Arbeiterbewegung
list beharrt: „Nein, das ist infam.“ Nun scheint sie das Thema zu wechseln: Die Flüchtlinge seien frustriert, weil sie nicht wirklich integriert würden. „Merkel hatte keinen Plan und kein Konzept, das war letztlich schlimmer als nur leichtfertig.“An anderem Ort sagt sie, die einmalige Grenzöffnung der Kanzlerin am 4. September 2015 sei richtig gewesen, aber danach sei alles zu chaotisch geworden. An einem dritten, in ihrer Kritik an Angela Merkel gebe es eine Hauptsache – die liege darin, dass die Kanzlerin die Ursachen der Flüchtlingskrise nicht bekämpfe – und das sei ihr Unterschied zur AfD. Man könnte den Eindruck bekommen, dass Wagenknecht ein wenig konfus ist. Sie hat ganz viele Gesichtspunkte und kann nicht alles auf einmal sagen. Sie ist vielleicht eher eine gute Autorin von Büchern als eine gute Politikerin, die ihre Sache, mag sie noch so komplex sein, immer und jederzeit auf den Punkt bringt. Ihr Ehemann Oskar Lafontaine hat es gekonnt, sie nicht. Aber das Problem liegt tiefer und ist genauso Lafontaines wie Wagenknechts Problem. Es rührt daher, dass beide etwas richtig Gutes wollen. Sie wollen solidarisch sein mit der arbeitenden Bevölkerung.Konkurrenz um JobsIn seiner ganzen Tiefe erfasst, liegt das Problem darin, dass Arbeiter in der Konkurrenz stehen. Man kann kapitalistisch oder antikapitalistisch auf diese Tatsache reagieren. Die radikalste kapitalistische Reaktion würde darin bestehen, dass man sagt: Wenn wir die „Marktwirtschaft“ und „freie Konkurrenz“ der Unternehmer feiern, warum sollen denn dann nicht auch die Arbeiter konkurrieren dürfen? Nun wollen die Arbeiter derselben Nation gar nicht um Arbeitsplätze konkurrieren, deshalb gibt es ja Gewerkschaften. Faktisch bleibt ihnen aber nichts übrig, als es dennoch zu tun. Ihre Konkurrenz ist wenigstens eingeschränkt. Das ist schon viel. Die Gewerkschaften ersparen ihnen Schlimmeres. Was nun aber, wenn „ausländische“ Konkurrenten dazukommen? Die Haltung des DGB und überhaupt der europäischen Gewerkschaften ist zwar eindeutig: Sie erklären ihre uneingeschränkte Solidarität mit den Flüchtlingen. Aber das überzeugt nicht alle Arbeiter.Die Gewerkschaften sind nur ihre Interessenvertretung. Wenn mich meine Interessenvertretung zu einer Solidarität auffordert, die meinem Interesse hier und jetzt in die Quere kommt – und das tut sie, und Wagenknecht wird nicht müde, es nachzuweisen –, dann ist das hier und jetzt ein Widerspruch, den die Arbeiter natürlich bemerken. Wenn keine richtige Politik hinzukommt, die ihn überwölbt und sogar auflöst, bleibt er ganz einfach bestehen. Wird die SPD mit ihm fertig? Nein, die macht auch nur Interessenvertretung. Ist „Kümmererpartei“, imaginiert sich als „Betriebsrat der Gesellschaft“. Das Äußerste, was sie erreichen will, sind Sachen wie der Mindestlohn. Aber ist das denn genug? Ist es nicht eher empörend? Ich werde darauf reduziert, ein Arbeiter zu sein. Es ist nicht anders, als wenn eine Frau argumentiert und ich dann sage: „Na ja, Sie als Frau …“Bei Marx findet man den Satz: „Die Setzung des Individuums als eines Arbeiters, in dieser Nacktheit, ist selbst historisches Produkt.“ Marx hat das Problem erfasst. Menschen, die das Kapital braucht, werden auf den Nutzen heruntergebrochen, den sie für das Kapital haben. Dass sie ihn verkörpern, ist übrigens ärgerlich genug, weil es doch eigentlich nur um ihre Arbeitskraft geht, die eine Spielart von Energie ist und also, wo immer möglich, in Maschinenkraft überführt werden sollte. Die ist billiger zu haben. Solange wir es aber mit menschlichen Körpern zu tun haben, müssen wir dem Menschentier gewisse Zugeständnisse machen. Nein, nicht nur Marx hat das Problem erfasst. Die ganze Arbeiterbewegung wusste es, auch ihre Parteien und darunter die SPD haben es gewusst: dass sie, die Arbeiterbewegung, „das Menschenrecht erkämpft“. Und nicht bloß ein Arbeiterrecht. Nicht bloß Mindestlöhne. So stand es in Die Internationale, ihrem zentralen Kampflied.Aber halt! Die Internationale? Warum war sie es, die das Menschenrecht erkämpfen sollte? Warum waren es sozialdemokratische Arbeiter, die in Deutschland die Tradition begründeten, zu Silvester Beethovens neunte Symphonie aufzuführen? Da bildeten Arbeiter den Schlusschor und sangen: „Alle Menschen werden Brüder!“ Nicht „alle Deutschen“. Sie führten vor, dass die Bürger in ihrer eigenen Tradition, für die Beethoven stand, eigentlich auch eine Internationale hatten. Das war die Tradition von 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Der Frankfurter Gesellschaftsphilosoph Axel Honneth hat es kürzlich nachgezeichnet: Die Bewusstwerdung der Arbeiter als einer eigenen Klasse, wie sie sich in den Schriften und Projekten der Frühsozialisten spiegelt, hatte damit begonnen, dass ihnen die unerfüllten Versprechen der Französischen Revolution wieder einfielen. Er benennt freilich auch die andere Seite: Das Versprechen zu erfüllen, schien einfach zu heißen, sie, die Arbeiter, nun auch noch in die Brüderlichkeit der Bürger mit aufzunehmen.Aber waren die Bürger denn brüderlich mit sich selber? Nein, sie konkurrierten. Ihre Brüderlichkeit war ihr Nationalismus. Zum ersten Mal als Klasse meldeten sich die Arbeiter 1831 beim Aufstand der Seidenweber nahe Lyon in Frankreich zu Wort. Ihre erste Forderung war: Raus mit den Fremdarbeitern! Und es war sehr verständlich. Wenn es heute unter Arbeitern eine Fremdenabwehr gibt, ist das keine späte Verseuchung, die nur auf das Konto von Rechtspopulisten geht, sondern gerade so wird immer und überall ihr spontanes Bewusstsein aussehen, wenn keine Politik hinzukommt. Die Arbeiter waren als Rad im Getriebe des Kapitalismus zur Welt gekommen und verhielten sich entsprechend. Sie sahen, wenn Unternehmer etwas gemeinsam taten, dann versuchten sie, die ausländische Konkurrenz möglichst draußen zu halten. Warum sollten sie nicht dasselbe versuchen?Wiederaufbau des SozialstaatsSie blieben aber nicht bei dieser Haltung, sondern erzogen sich dazu, internationalistisch zu denken und zu handeln. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“: Das hieß nicht nur, Solidaritätsadressen in ferne Länder zu schicken, wenn dort mal wieder ein Streik niedergeknüppelt wurde. Es hatte auch Konsequenzen für den eigenen Arbeitsplatz. Wenn in ein und derselben Fabrik Engländer und Iren arbeiteten, sagte ihnen ihr Internationalismus, dass sie zusammengehörten.Das ist heute alles wie vom Erdboden verschluckt. Aber dann braucht sich auch niemand zu wundern, wenn manche Arbeiter in ihr spontanes Bewusstsein zurückfallen. Wenn etwas verwunderlich ist, dann, dass jemand wie Sahra Wagenknecht sich an die Geschichte der Arbeiterbewegung überhaupt nicht zu erinnern scheint. Diese Politikerin, die der Kommunistischen Plattform in der Linkspartei nahesteht, schreibt kluge Bücher über den Kapitalismus und wird für radikal gehalten, weil man da lesen kann, dass sie ihn überwinden will. Ihre Arbeiterpolitik ist aber vollkommen bürgerlich. Ja, man findet geradezu schulbuchmäßig die beiden politischen Diskurse der Bürger, den rechten und den linken, in ihren Reden zur Flüchtlingskrise wieder. „Ja, aber auch das“ war schon immer die Rede des linken Kompensationsdiskurses: „So viel Markt wie möglich, (aber auch) so viel Staat wie nötig“ ist ein Beispiel von vielen; man gab dem Gegner recht und erlaubte sich noch eine Ergänzung. Die rechten Bürger hielten es umgekehrt genauso, nur dass sie ihrer Bejahung des Gegners ein „... aber nicht so“ hinzufügten. „So nicht!“ ließ Rainer Barzel, CDU, 1972 als Oppositionsführer des Bundestags gegen Willy Brandts Ostpolitik plakatieren.Und nun hören wir dasselbe von Sahra Wagenknecht: Flüchtlingsintegration ja, aber auch Integration deutscher Arbeiter; Flüchtlingseinreise ja, aber nicht ohne Grenzkontrolle. Soll das ihre Erhabenheit über die bürgerlichen Diskurse zeigen, dass sie links und rechts gleichzeitig spricht? Aber das kann nur schiefgehen: Gerade weil sie beide Diskurse spricht, kommt einem das alles so vertraut vor. Man könnte manchmal glauben, ihre Parteikollegen redeten ja genauso, aber das täuscht. Wenn die Linkspartei davon spricht, der Fremdenangst solle mit dem Wiederaufbau des Sozialstaats für Deutsche begegnet werden, liegt es nicht nahe, bloß eine Kompensationsforderung darin zu sehen. Was sie sagen will, ist vielmehr, dass alle Menschen Brüder und Schwestern sind und entsprechend miteinander umgehen sollten. Sie hat also nicht eine Politik des Gegners – Flüchtlinge hereingelassen zu haben – widerwillig bejaht unter der Bedingung, dass noch eine Gegenleistung erfolgt.Wagenknecht unterstellt man einen solchen Standpunkt. Sicher zu Unrecht. Aber sie hat es sich selbst zuzuschreiben. Eine neue internationalistische Arbeiterpolitik anzustoßen, wäre ihre Aufgabe. Niemand will zwar zur „führenden Rolle des Proletariats“ zurück. Aber eine Rolle müssen Arbeiter schon haben. Als Menschen, nicht bloß als Arbeiter. Heute haben sie keine. Wie können sie wieder „das Menschenrecht erkämpfen“? Von Wagenknecht erwartet man, dass sie diese Frage, und keine andere, zu beantworten versucht.
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