Es geht nicht nur um Koalitionen

Crossover-Debatte Auch wenn es derzeit nicht oft danach aussieht: Grüne, Linkspartei und SPD haben einen gemeinsamen Nenner. Überlegungen zur Erneuerung der „Crossover-Debatte“

"Crossover“ war ein Projekt der neunziger Jahre: Die linken Flügel der SPD und der Grünen und die PDS trafen sich zu Kongressen, gaben Bücher heraus und debattierten in Zeitschriften miteinander. Das Ziel war eine gemeinsame Mehrheit im Bundestag, um die lange Ära Kohl zu beenden. Spricht heute etwas dafür, das Projekt zu erneuern?

Zunächst scheint es nicht so, denn die Bedingungen haben sich radikal gewandelt. Inzwischen hat das Kabinett Schröder regiert, sich am Kosovokrieg beteiligt, Hartz IV beschlossen. Die SPD wird bis heute von den wichtigsten Schröder-Getreuen geführt. Eine politische Folge von Hartz IV war es, dass die WASG gegründet wurde, die PDS sich mit ihr vereinigen konnte und derart die gesamtdeutsche Partei Die Linke entstand. Die Grünen haben sich zwar von Joschka Fischer, ihrer Leitfigur der Schröder-Zeit, gelöst, sind auf sehr vorsichtige Distanz zu Hartz IV gegangen und stehen Bundeswehreinsätzen wieder etwas kritischer gegenüber. Doch es ist etwas mit ihnen geschehen: Sie sind die Partei der „grünen Marktwirtschaft“ geworden. Und die alte Kritik an Bundeswehreinsätzen überhaupt ist passé. Man kann kurz sagen, das ist eine „bürgerliche“ Partei geworden.

Dennoch: Wenn man ein neues Cross­over gar nicht anders begründen könnte, würde schon allein der Vorstoß des grünen Finanzpolitikers Gerhard Schick ins Gewicht fallen. In dem Papier, das er vor drei Monaten an die Öffentlichkeit gab, positionierte er sich nicht einmal „als Linker“ und plädierte doch, einfach aus der Logik seines Fachgebiets heraus, für eine rot-rot-grüne Koalition. Das Papier handelt von der Wirtschaftskrise: Schick kann nicht umhin zu fragen, wie es mit der von Merkel und Steinbrück angezettelten Krisenbewältigungspolitik eigentlich weitergehen soll. Der Staat verschuldet sich gigantisch, er hat sogar die Zahlung von Kurzarbeitergeld übernommen – wer soll das denn bezahlen? Wird „die Zeche“ von den Unternehmern, den Bankern gezahlt oder müssen es die kleinen Leute tun, indem man ihnen höhere Mehrwertsteuern abknöpft und den Sozialstaat weiter abbaut? Wer so fragt, kann natürlich nicht an eine Koalition mit der FDP denken.

Vorschlag in der Versenkung

Schicks Papier verschwand erst einmal in der Versenkung, denn der grünen Führung ist die Debatte unangenehm. Es ist auch tatsächlich nicht absehbar, wie Schicks Vorschlag in die Realität umgesetzt werden sollte, da die SPD über den Wahltag hinaus von Menschen wie Steinbrück repräsentiert wird, die sich seiner Fragestellung kaum anschließen werden.

Die eigentlich überzeugenden Gründe für ein neues Crossover liegen aber ohnehin tiefer. Es sollte doch in allen drei Parteien Menschen geben, die begreifen, dass sie an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten. Man kann das an jetzt schon vorhandenen Programmzielen festmachen: Eine SPD à la Ypsilanti ist kein Traum, sie hat sich schon abgezeichnet, wenn sie auch erst einmal in der Minderheit blieb; diese SPD ist auf Grüne und Linke als Koalitionspartner angewiesen. Noch mehr kann man es daran festmachen, dass eine gemeinsame Problematik die drei Parteien verbindet. Sie lässt sich kurz dadurch kennzeichnen, dass Grüne, Linke und SPD dem „Marktradikalismus“ entschieden ablehnend gegenüberstehen. „Zur Politik zurück“ ist ihr gemeinsamer Nenner, hochaktuell in der Krise und übrigens genau dasselbe, was schon die Crossover-Partner der neunziger Jahre miteinander verbunden hatte.

Es ist spannend, wie sich die Einsätze des Streits seitdem verschoben haben. Einerseits bekennen sich die Grünen inzwischen zum Markt. Andererseits haben die Linken Erfahrungen mit dem „gemeinnützigen öffentlichen Sektor“ gemacht, dem Crossover-Projekt der neunziger Jahre. Kürzlich gab es eine Debatte zwischen Ralf Fücks, dem Vorstand der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung, und Elmar Altvater, der sich heute zur Linken rechnet. Fücks beschwor die Vorteile der Marktlogik, Altvater erinnerte daran, dass wir einen Markt haben, auf dem nicht nur Geld und Waren getauscht werden, sondern es gibt da auch noch das Kapital.

Daran muss in der Tat erinnert werden. Aber man hat noch nicht gehört, dass die Linke den Markt abschaffen würde, wenn sie könnte, wie sie wollte. Für die Gegenwart gibt es keinerlei Vorschläge von ihr, die nicht den Markt voraussetzen. Also, was ist ihre Haltung? Das war im Gespräch Fücks - Altvater nicht zu erfahren, und auch die Bücher der linkennahen Rosa-Luxemburg-Stiftung, so sehr in ihnen immer wieder betont wird, dass Utopie mit Augenmaß und Realismus verbunden sein müsse, sind in dieser Hinsicht vollkommen unergiebig. Nun mag es ja sein, dass der Markt des Nachdenkens gar nicht wert ist. Aber eine Partei, die unter Umständen zu Rot-Rot-Grün bereit ist, müsste hier schon deshalb zum Denken bereit sein, weil sie es eben mit den Grünen zu tun hat, die sie bei diesem Thema nicht entkommen lassen werden.

Auch der „gemeinnützige öffentliche Sektor“ setzt den Markt voraus. Als die PDS ihn in der Schweriner Koalition umzusetzen versuchte, machte sie diese Erfahrung: Aus Gründen der Marktlogik konnte nur ein Sektor für Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen eingerichtet werden, die zudem noch unter Finanzierungsvorbehalt standen. Das widerlegte den Crossover-Ansatz nicht, zeigte aber vielleicht, dass es bei der politischen Umsetzung haperte. In den alten Crossover-Papieren war die Rede von einem „weiteren regulären Beschäftigungssektor, der sich durch eine neuartige Kombination öffentlicher Förderung und Planung mit privaten Wettbewerbsstrukturen auszeichnet“. Darüber nachzudenken, würde sich auch heute noch lohnen.

Frage des Grundeinkommens

Und immer noch stimmt der Satz aus der Einladung zu einem der Crossover-Kongresse: Die Beteiligten eine das Ziel, „unsere Produktions-, Arbeits- und Lebensweise in Richtung ökologischer Nachhaltigkeit umzustellen, entsprechende Innovations- und Investitionsfelder zu fördern, dabei neue Arbeit zu schaffen und den Sozialstaat auf erneuerter Grundlage zu sichern“. Jener öffentliche und auch marktfähige (oder sogar marktförmige?) Sektor hatte nicht Plätze abstrakter Arbeit schaffen, sondern der Ökologie dienen sollen.

Weiter: In der damaligen Crossover-Debatte tauchte die Frage des Grundeinkommens nur eher am Rande auf. Heute zieht sich der Streit darum quer durch die drei Parteien. Die einen fordern es, weil sie das Individuum von der Aufsicht der Bürokratie befreien wollen. Die anderen lehnen es ab, weil sie fürchten, es führe zur Reduzierung des Sozialstaats und entwerte obendrein die Arbeit. Aber vielleicht entwertet es nur die abstrakte Arbeit, die bloß um des Lohns willen getan ist, und Lohn bekommt man für alles: Ob man im Kindergarten arbeitet oder Streubomben produziert (da ist der Lohn sogar höher). Was den Sozialstaat angeht, so gibt es inzwischen ein ausführliches Papier der Gruppe links-netz (links-netz.de), die im Detail zeigt, wie Grundeinkommen, öffentliche, privatunternehmerische und in der Familie selbsttätig entschiedene Sozialpolitik zusammenwirken könnten.

Während dieser Streit, wie gesagt, durch alle drei Parteien geht, hat er sich in der Linken noch gleichsam verdoppelt, aber auch zugespitzt; denn dort wird ganz generell diskutiert, ob linke Politik eher auf Rechte des Individuums oder eher auf soziale Rechte zielen solle. Dabei werden soziale als kollektive Rechte verstanden, während man bei individuellen Rechten zum Beispiel an den Schutz der Privatsphäre denkt.

Alle genannten Streitfragen kreisen um den Sachverhalt „Individualisierung“. Kann sich Individualisierung anders als marktförmig realisieren? Kommt sie in konkreter Arbeit besser zur Geltung als in abstrakter Arbeit? Verträgt sie sich mit Sozialbürokratie? Verträgt sie sich überhaupt mit irgendeiner Form des Kollektiven? Es ist gut und bringt voran, dass die hier genannten Parteien sich darüber den Kopf zerbrechen. Sie sollten es gemeinsam tun, dann würde noch mehr dabei herauskommen. Und damit ist nicht gemeint: womöglich sogar eine parlamentarische Koalition. Denn um die geht es heute nicht.

Der Green New Deal und die Crossover-Debatte

Politische Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die immer drängender werdenden Probleme des Klimawandels werden heute gern mit dem Etikett Green New Deal versehen. Es geht dabei um eine ökologische Wende im Kapitalismus: für eine nachhaltige Ökonomie, globale Regelwerke und mehr soziale Teilhabe.

Als historischer Bezugspunkt gilt das Bündel von Wirtschafts- und Sozialreformen in den USA: Franklin D. Roosevelts New Deal der dreißiger Jahre kurbelte mit staatlichen Investitionen die Binnennachfrage an, es wurden Mindestlöhne und eine progressive Besteuerung eingeführt. Vorübergehend konnten so ein paar Karten neu verteilt werden, die Massenarbeitslosigkeit sank. Insgesamt aber blieb der Kapitalismus der alte.

Nachdem schon 1998 ein sozialpolitisches Programm der Labour-Regierung in Großbritannien den Titel New Deal erneut aufgegriffen hatte, lebte die Debatte mit dem Zusatz Green seit 2007 wieder richtig auf. Selbst das Umweltprogramm der UNO kündigte eine Initiative unter diesem Namen an. In Deutschland machten Ende 2008 die Grünen die Idee zum Programm. Es gelte, einen effektiven Ordnungsrahmen für die globale Wirtschaft zu schaffen, der die Märkte in den Dienst sozialer und ökologischer Entwicklung stellt.

Bei allem Ergrünen politischer Konzepte ist eines weitgehend unbeachtet geblieben: In Deutschland fand schon seit Anfang der neunziger Jahre eine rege Diskussion über einen solidarisch-ökologischen New Deal statt, sie bildete einen konzeptionellen Unterbau der sogenannten Crossover-Debatte zwischen Sozialdemokraten, Grünen und Vertretern der PDS, später der Linkspartei ging aber inhaltlich weiter als die heutigen Vorschläge für einen Green New Deal.

Schon 1991 hatten der frühere Freitag-Mitverleger Willi Brüggen und Klaus Dräger vom linken Flügel der Grünen für eine Verknüpfung der Ziele der Ökologiebewegung mit den verteilungspolitischen Interessen der alten Arbeiterbewegung plädiert. 1997 erschien der Crossover-Sammelband Zur Politik zurück. Für eine ökologisch-solidarische Alternative wurden dabei unter anderem diskutiert: ein dritter, öffentlicher Wirtschaftssektor für kulturelle, ökologische und soziale Güter, eine radikale Arbeitszeitverkürzung und der Umbau des fordistischen Fürsorgestaates.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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