Es muss auch anders gehen

Kommentar Wer wird Bundespräsident?

An der Debatte um die bald anstehende Bundespräsidentenwahl ist vor allem interessant, dass sie vollkommen uninteressant ist. Dabei strotzt sie nur so vor Perspektiven. Steht Rau für eine zweite Kandidatur schon nicht mehr zur Verfügung? Einigen sich Merkel und Westerwelle diesmal auf einen FDP-Mann, etwa Gerhardt, in welchem Fall Westerwelle endlich Vorsitzender der Bundestagsfraktion seiner Partei werden könnte? Oder einigen sich SPD und CDU auf Henning Scherf, den Bremer Bürgermeister, der einer schwarz-roten Koalition vorsteht? Kann die Landstagswahl in Bayern das Kräfteverhältnis in der Bundesversammlung noch bedeutend verändern? Warum stehen die Chancen wieder so schlecht, dass "man" den Job erstmals einer Frau überlässt? Es ist so langweilig.

Die Bundespräsidentenwahl wäre interessant, wenn sie dem Sturz oder der Befestigung der Regierungspolitik dienen könnte. Wer erinnert sich nicht noch, sei es aus dem Geschichtsbuch oder aus eigener Erfahrung, an die spannende Nachricht von 1969, dass SPD- und FDP-Abgeordnete den SPD-Politiker Gustav Heinemann gewählt hatten, während die SPD noch unter Kiesinger (CDU) in der Bonner Großen Koalition mitregierte. Die Kanzlerschaft Willy Brandts, zu der es ein paar Monate später kam, war damit vorentschieden. Heute ist gar keine mögliche Regierungskoalition in Sicht, die eine andere Politik verfolgen würde als die, die vorhanden ist. Ob Rau bleibt oder gehen muss, es ist gehupft wie gesprungen. Er ist ein integrer Mann, doch unter Bedingungen der "Agenda 2010" hört selbst die Integrität eines hierhin und dorthin gut zuredenden Bundespräsidenten auf, erträglich zu sein. Sie wird zur Ideologie. Ein Mann von der Art Al Capones wäre erträglicher.

Einzig der Frage, ob der Bundespräsident nicht doch direkt gewählt werden sollte, können wir unter solchen Umständen etwas abgewinnen. Die Diskussion darüber flammt ja vor jeder Präsidentenwahl neu auf. Die Befürworter, zu denen auch Rau gehört, wissen gar nicht, wie gut der Erfolg ihres Projekts wäre: Wenn eine Gesellschaft so sehr im Konformismus erstickt, wie es die bundesrepublikanische im Augenblick tut, dann können einzelne Persönlichkeiten, die bekannt, aber frei von den Stricken etablierter Parteiorganisationen sind, diese vielleicht noch das Fürchten lehren. Aber es wird nicht dazu kommen. Es muss auch anders gehen. Wenn es solche freien Persönlichkeiten geben sollte, dann sollen sie ihre Kraft in die Gründung einer Oppositionspartei stecken. Bei der Wahl, die jetzt bevorsteht, wird sich wieder zeigen, dass es zur Zeit eine Oppositionspartei nicht gibt, denn alle Mitglieder der Bundesversammlung werden entweder für den SPD- oder den CDU-Kandidaten, vorausgesetzt, solche treten überhaupt gegeneinander an, die Hand heben und damit für das Gleiche.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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