Es rettet sie kein höheres Wesen

Berlin Erneuerung tut not für die Sozialdemokratie. Daher muss sie aufhören, weiterhin blind der Logik des Kapitals zu folgen
Ausgabe 40/2017
Es rettet sie kein höheres Wesen

Illustration: der Freitag

Einfach wird es nicht sein, die SPD zu „erneuern“. Was nützt es, wenn eine Laterne sich sagt, mögen mir Blätter sprießen! Selbst wenn sie handeln könnte – sie ist dennoch in ihrer Struktur gefangen, und das ist eben nicht die eines Freiheitsbaums. Mit der SPD verhält es sich so, dass ihre gegenwärtige Politikunfähigkeit eine Entwicklung fortschreibt, in der sie seit mehr als einem Vierteljahrhundert festgefahren ist. Damit ist nicht gesagt, dass ihr Problem unlösbar wäre, wohl aber, dass eine Lösung auf dem Niveau des Problems gefunden werden müsste.

Eine Bedingung ist seit 1990 nicht mehr vorhanden, die es sozialdemokratischen Parteien im Westen bis dahin ermöglicht hat, eigene Standpunkte zu vertreten und aufrechtzuerhalten, statt in den Sog der Anpassung an die Konservativen zu geraten. Damals war der Unterschied beider Lager klar und sie bekämpften einander. Die Bedingung war, dass das innenpolitische Zwei-Lager-System durch ein internationales, den Ost-West-Gegensatz, gestützt wurde. Seit dieser Gegensatz weggefallen ist, beobachten wir die Implosion des Unterschieds der Parteien. Der Zusammenhang ist paradox, da sich Sozialdemokraten natürlich nie auf den „realen Sozialismus“ à la Breschnew oder Honecker berufen haben. Im Gegenteil! Dennoch war die Existenz der im Warschauer Pakt vereinigten Staaten für ihr Selbst- und Autonomiebewusstsein konstitutiv.

Der Grund ist, dass sie, verglichen mit den Kommunisten, für die Konservativen das kleinere Übel und eine Art letzte Bastion darstellten. Das verschaffte ihnen einen Spielraum, in dem sie sich leicht kräftig fühlen konnten. Um zu ermessen, wie bedeutsam der „reale Sozialismus“ als Resonanzboden westlicher Politik wirkte, braucht man sich nur zu erinnern, dass selbst ein Ludwig Erhard seine „soziale Marktwirtschaft“ als den besseren Sozialismus glaubte anpreisen zu müssen. Seit 1990 veränderte sich das Verhältnis von Sozialdemokraten und Konservativen. Es geschah drastisch und schnell. Die Veränderung bestand darin, dass die Sozialdemokratie, weil sie es nun einmal gewohnt war, sich auf etwas zu stützen, nunmehr die Politik der Konservativen zu ihrem Stützpunkt machte.

Verkümmererpartei

Nehmen wir den deutschen Fall. Gleich nach 1990 standen zwei neue Themen auf der politischen Agenda, die Frage des Asylrechts und die Selbstermächtigung der NATO zur westlichen „Weltpolizei“ jenseits der UN-Charta. Beide Themen resultierten unmittelbar aus dem Zusammenbruch des Ostblocks – die Asylfrage insofern, als sie sich in den Jahren des jugoslawischen Bürgerkriegs zuspitzte. Die SPD unter ihren ersten Vorsitzenden nach 1990, Björn Engholm und Rudolf Scharping, übernahm in beiden Fragen die Position der CDU/CSU, jeweils nach einer Anstandszeit des Zögerns. Es ehrt die Partei, dass sie sich in der Mitte der 1990er Jahre noch einmal aufbäumte. Als Scharping auf einem Parteitag Oskar Lafontaine unterlag, ging es um die Militarisierung der deutschen Politik. Lafontaine war es, der noch einmal einen Wahlsieg der SPD organisierte. Als der aber erreicht war, erntete Gerhard Schröder die Früchte und Lafontaine musste gehen. Schröder prägte auch die Formel dafür: Es gebe nicht rechte und linke, sondern nur gute und schlechte Wirtschaftspolitik. Seine „gute“ Wirtschaftspolitik war die der Union: Steuersenkung für Unternehmer und Hartz IV.

Abstrakt lässt es sich so beschreiben, dass aus dem Gegensatz der Parteien nunmehr deren Gleichung wurde. Man beachte, dass auch eine Gleichung zwei Seiten hat, die „in Opposition“ zueinander stehen. Die eine Seite ist immer noch links, die andere immer noch rechts – nur bedeutet das nicht mehr, dass die Seiten einander bekämpfen; es ist eher so, dass die rechte Seite das Ziel zeigt („12“), während die linke noch auf dem Weg ist (sie zählt „7 + 5“ zusammen und plakatiert dann, wie es 1998 geschah: „Wir haben verstanden“).

Noch eine zweite Schröder’sche Formel ist hervorhebenswert: Die SPD dürfe sich nicht mit der Rolle begnügen, der „Betriebsrat der Nation“ zu sein, sondern müsse auch und vor allem ihre „Wirtschaftskompetenz“ beweisen. Sie wurde mehrfach wiederholt, zum Beispiel 2008 von Frank-Walter Steinmeier, der unter Schröder das Bundeskanzleramt leitete, und 2014 von Sigmar Gabriel. Die Formel funktioniert so, dass sie die Dinge auf den Kopf stellt. Ihr Sinn: Nur darin noch will die SPD von der Union verschieden sein, dass sie ihr gegenüber Betriebsratsinteressen wahrnimmt. Deshalb nennt sie sich auch gern eine „Kümmererpartei“. Schröder hat es ja vorgemacht: Mit „Wirtschaftskompetenz“ ist die Ausführung der Wirtschaftspolitik der Union gemeint.

Tatsächlich tauchte die Formel Anfang der 1990er Jahre auf, da noch in der offenen Gestalt, dass die SPD „der Gesamtbetriebsrat der Gesellschaft“ sei. Der Ausdruck „Betriebsrat“ ist auch darin treffend, dass die SPD sich nur um die Beschäftigten „kümmert“, während sie keineswegs Hartz IV zurücknehmen will. Was ihre „Erneuerung“ hieße, ist damit klar. Die Alternative zum bloßen Betriebsrat liegt nicht darin, dass man die Wirtschaftspolitik der Union besser als diese ausführt, sondern darin, dass man mit ihr bricht. Außerdem würde die Partei aufhören, nur für den Betrieb Politik zu machen statt auch für alle, die unverschuldet aus ihm herausfallen. Hohe Besteuerung des Reichtums, der nicht durch eigene Arbeit verdient ist, und die Rückgängigmachung von Hartz IV sind für diese doppelte Wende die Kriterien.

Um strategische Kompetenz wiederzugewinnen, müsste die SPD außerdem aufhören, mit den je vorhandenen Arbeitsplätzen immer auch die bestimmte Arbeit schützen zu wollen, die dort getan wird. Indem sie das nämlich tut, gibt sie dem Kapital freie Hand und macht sich eben dadurch zur Kapitalpartei. Wenn sie Mühe hat, sich gegen den Kohleabbau oder die Produktion von Dieselmotoren zu stellen, dann immer aus diesem Grund. Oder wenn sie jede technische Zukunftsvision des Kapitals nur durchwinkt. Nehmen wir die Digitalisierung der Produktion und auch der Produkte: Ist da nur eine Richtung denkbar oder gibt es mehrere, zwischen den gewählt werden könnte – in einem demokratischen Diskurs?

Die Betriebsratsperspektive scheitert hier vollkommen. Denn wenn eins sicher ist, dann dass die Digitalisierung der Produktion zum Abbau von Arbeitsplätzen führt, während sie andererseits den Reichtum der Unternehmer steigert. Dieser Zusatzreichtum muss dafür verwendet werden, dass allen, die an der Arbeit nicht beteiligt werden können, ein Einkommen weit über der Höhe von Hartz IV ausgezahlt wird.

Zu all dem wird sich die SPD aber nur aufraffen, wenn sie mit ihrer eigenen Entwicklung seit 1990 bricht. Sie muss erkennen, dass ihre Lage derjenigen der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts ähnelt. Die wusste nämlich noch, dass „kein höh’res Wesen“ sie retten würde. „Es rettet uns kein äuß’rer Stützpunkt“, wäre in einer „Internationale“ des 21. Jahrhunderts zu singen. Politik machen aus dem Nichts heraus, dazu gehört freilich ein bestimmter Menschenschlag und man fragt sich, ob die SPD über ihn noch verfügt. Die Labour Party hat Jeremy Corbyn, die SPD keinen Lafontaine mehr. Wenn nicht, wird die Lösung ihres Problems darin bestehen, dass sie untergeht, wie ihre Schwesterparteien in Frankreich und Griechenland.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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