Sind wir für Europa nur unter der Bedingung, dass es nicht neoliberal ist? Das ist die Position des französischen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon, für den Pariser Linke noch nach seiner Niederlage demonstriert haben. Nein zu Marine Le Pen, Nein auch zu Emmanuel Macron, dem Neoliberalen! Das Dilemma verdient unsere Sympathie. „Häng dich oder häng dich nicht, du wirst beides bereuen“, hat Kierkegaard gesagt. Aber gewählt werden muss am 7. Mai so oder so. Das unterscheidet die Politik von der Philosophie.
Mélenchon wirft Deutschland vor, es beute Europa ökonomisch aus. Er wollte mit der deutschen Regierung verhandeln und im Fall, dass sie sich nicht rührt, ein Referendum mit dem Ziel des französischen EU-Aust
en EU-Austritts auf den Weg bringen. Der Unterschied zu Le Pen war nur, dass diese das Referendum auf jeden Fall anstrebt. In Deutschland äußert sich Sahra Wagenknecht, Spitzenkandidatin der Linkspartei, wie die Pariser Demonstranten. Mélenchon selbst kann sich nicht durchringen, eine Wahlempfehlung für Macron auszusprechen.Aber die EU ist das Projekt, das Europa den Frieden gebracht hat. Seitdem europäische Staaten zur Union vereinigt sind, führen sie nicht mehr Krieg gegeneinander, wie es jahrhundertelang üblich war, zuletzt mit dem schrecklichen Höhepunkt zweier Weltkriege. Mehr noch, Europa hat sich auf eine Art vereint, die neu und zukunftsweisend war und immer noch ist. Denn eine „Zeit der streitenden Reiche“ mit anschließender Ruhe im Imperium, dessen siegreiche Krieger alle anderen beherrschen, gab es auch im alten China. Die EU-Verfassung sieht kein Herrenvolk vor. Alle Mitgliedsstaaten sind gleichberechtigt: Das ist gut und hat auch funktioniert. Nach dem Ende des Kalten Krieges war es Konsens unter Politikern der damaligen europäischen Gemeinschaft, dass Europas Entwicklung zum Modell einer neuen Weltordnung tauge. Zu Beitritten osteuropäischer Staaten ist es auch tatsächlich gekommen, geträumt wurde sogar von einem Angebot an Israel und Palästina, die Zweistaatenlösung innerhalb der EU zu realisieren. Vielleicht wäre sie dann gekommen!Doch nach 2000 hat sich etwas verändert. Deutschland wurde in den 1950er Jahren zum Wirtschaftswunderland, kam dann als stärkste Wirtschaftsmacht zur EU, deren Verfassung 1992 in Maastricht beschlossen wurde. Der 2002 eingeführte Euro sollte das Mittel sein, Deutschland ökonomisch einzubinden. Es ist anders gekommen, Deutschland benutzt den Euro dazu, andere EU-Staaten niederzukonkurrieren.Eine Währungsunion beschließt man, um die Inflation niedrig zu halten. Tatsächlich legte man eine maximale Inflationsrate von nominal zwei Prozent fest, an die sich Deutschland aber nicht hält, anders als Frankreich. Es unterbietet sie. Die Preise deutscher Waren sind niedrig, weil die Warenstückkosten es sind; das heißt, die Löhne werden nicht hinreichend erhöht.Im Verhältnis Deutschlands zu Frankreich heißt es, das eine Land sticht mit Dumpingpreisen seiner Waren das andere aus, das nach der gemeinsam beschlossenen Inflationsrate verfährt. Ist das einer Union würdig? Nein, Mélenchon hat recht: Deutschland beutet Europa ökonomisch aus. Es ist seit der Euro-Einführung ökonomisch, deshalb aber auch politisch immer stärker geworden.Das liegt nicht an seiner hohen Arbeitsproduktivität, wie manche behaupten. Die deutsche Arbeitsproduktivität ist nicht höher als die französische. Es liegt daran, dass eine Währung mehrerer Staaten, die im strengen Sinn eine „staatenlose Währung“ ist – nach der Zuspitzung des französischen Ökonoms Thomas Piketty –, ein Unding ist. Eine solche Währung muss dahin tendieren, sich den Staat, der sie nicht im Griff hat, dann eben informell zuzuordnen. Dieser Staat ist Deutschland; es beherrscht den Euroraum, indem seine Regierung dem deutschen Exportkapital die Niederkonkurrierung der europäischen Nachbarn erleichtert.Das ist aber kein Grund, Europa in Zweifel zu ziehen. Vorschläge, wie es ökonomisch reformiert werden müsste, liegen auf dem Tisch. Thomas Piketty schlägt ein Haushaltsparlament der Euro-Staaten vor: Es würde über einen europäischen Tilgungsfonds verfügen, in dem alle Staatsschulden vergemeinschaftet wären, die 60 Prozent des Bruttoinlandprodukts übersteigen. Und wie stellt sich die Frage politisch? Politisch steht man immer in einer konkreten Situation. Die heutige lässt auch den Linken keine Wahl, sich hinter Macron zu stellen – schon um Zeit zu gewinnen. Wer weiß, ob Macrons Politik den Sieg Le Pens bei den nächsten Wahlen vorbereitet? Aber ist es besser, wenn Le Pen schon jetzt gewinnt?Der Kampf gegen die deutsche Ausbeutungspolitik kann nur in Deutschland selbst gewonnen werden. Die Linke darf Europa nicht aufs Spiel setzen. Sie muss es gegen Schäuble und Co. verteidigen. Der Gedanke, auf ein Europareferendum in Deutschland hinzuarbeiten, ist nicht nur der AfD gekommen, sondern auch Politikern der Linkspartei. Sie machen sich von der AfD ununterscheidbar, wenn sie „Europa: Ja oder Nein?“ fragen oder auch nur in die Nähe einer solchen Alternative geraten. Die Frage muss vielmehr lauten, ob das EU-Deutschland fortfahren darf, andere EU-Länder ökonomisch zu bekämpfen.Placeholder link-1