Europas Schande

Flüchtlingskrise Die 28 Mitgliedsstaaten lernen beim Umgang mit Flüchtlingen entschieden zu langsam
Ausgabe 32/2015
Nicht zuständig oder überfordert: So reagiert die Politik
Nicht zuständig oder überfordert: So reagiert die Politik

Foto: Louisa Gouliamaki/AFP/Getty Images

Wie es eine europäische Schuldenkrise gibt, so jetzt auch eine europäische Flüchtlingskrise. Bei beiden macht die EU nicht den Eindruck, sie könne mit Krisen gut fertigwerden. Der Unterschied ist, dass die Mechanismen der Schuldenkrise für viele Menschen schwer durchschaubar sind, während bei der Flüchtlingskrise die Lösungsansätze und Blockaden offen auf der Hand liegen. Jeder Staat sucht sich selbst zu helfen, obwohl die Krise überstaatlichen Charakter hat. Die EU scheint das nicht ändern zu können.

Dass die Flüchtlingswellen irgendwo zuerst ankommen, hat rein geografische Ursachen. Die einen versuchen es übers Mittelmeer, die anderen über Griechenland. Die meisten wollen dort gar nicht bleiben, sondern schlagen sich weiter über Ungarn durch, um etwa nach Deutschland zu gelangen. Oder sie warten in Calais vor dem Eurotunnel auf die Gelegenheit, sich nach England zu schmuggeln. Sind das nun Probleme speziell der Italiener und Griechen, Ungarn und Franzosen?

Nein. Aber so werden sie behandelt. Wie lange hat es gedauert, bis eine europäische Aktion zur Unterstützung Italiens beim Andrang der Mittelmeerflüchtlinge zustande kam! Und wie sah sie aus! Es war fast nur eine militärische, gegen die Schlepper gerichtete Aktion. Der Flüchtlingsandrang hat aber nicht in den Schleppern seine Ursache, sondern im Staatszerfall Libyens, an dem manche westeuropäische Staaten nicht unschuldig sind.

Versuche der EU-Administration, die Frage der Flüchtlinge zu europäisieren, sind im Wesentlichen gescheitert. Einen Schlüssel, sie je nach Einwohnerzahl und Wirtschaftskraft auf die Mitgliedsstaaten zu verteilen, lehnen die Osteuropäer ab. In Polen etwa wollen 70 Prozent der Bürger keine Flüchtlinge aufnehmen, die aus Afrika oder Nahost kommen. Sie halten das Problem für ein westeuropäisches. Die Flüchtlingsströme seien eine Folge der Kolonialgeschichte, heißt es. Dafür arbeiten viele Russen und Ukrainer bei ihnen mit, dagegen haben sie nichts. Die estländische Regierung sagt jetzt, sie wolle wesentlich mehr Flüchtlinge aufnehmen, aber es müssten Ukrainer sein. Jeder macht, was er will.

Rückkehr der Schlagbäume

Die Ungarn haben einen Zaun gebaut, das wird lautstark kritisiert, ist aber doch ganz verständlich. Obwohl von den Flüchtlingen nur als Transitland angesehen, sind sie mit dem Ansturm überfordert. Gerade ihnen ist es wenigstens gelungen, die Flüchtlinge zu registrieren, den Griechen immer noch nicht. 1989 war Ungarn der erste Oststaat, der den Zaun öffnete. Wie die FAZ mit Recht anmerkt, ist es ein fatales Signal, wenn gerade hier die Schlagbäume zurückkehren. Schuld ist aber nicht Ungarn allein, sondern ganz Europa.

Die es durch Ungarn versuchen, kommen oft gar nicht aus dem Nahen Osten, sondern aus den Balkanstaaten. Darüber zerreißt man sich besonders in Deutschland die Mäuler. Syrische Flüchtlinge, ja, das versteht man, aber Serben, Mazedonier oder Kosovo-Albaner – denen wird das Fluchtrecht abgesprochen. Das seien doch sichere Herkunftsstaaten. Die deutsche Debatte dreht sich darum, wie man sie möglichst effizient von Bürgerkriegsflüchtlingen unterscheiden und dann schnell wieder abschieben kann. Nun sind aber ein Drittel der Balkanflüchtlinge Roma. Von den Serben sind es 91 Prozent. Ob die Roma nicht Gründe haben, zu fliehen? Da schaut man nicht so genau hin. Im Kosovo oder in Mazedonien wiederum ist die Arbeitslosigkeit extrem hoch. Aber das interessiert Europa nun schon gar nicht. Man sieht ja, was die EU Griechenland wirtschaftlich zumutet, wo bisher nur das Kapital flüchtet. Seht euch doch das Baltikum an, wird den Griechen von deutschen „Europäern“ gern vorgehalten: Denen geht es viel schlechter als euch, und doch jammern sie nicht.

Was zu tun wäre

Wenn das alles ist, was der EU einfällt – zur Schuldenkrise, dass manche einen hohen und andere einen niedrigen Lebensstandard haben sollen, zur Flüchtlingskrise, dass die einen geografisch betroffen sind und andere sich raushalten –, dann kann sie bald einpacken.

Dreierlei erwartet man von der EU. Erstens müsste sie anerkennen, dass es in Europa tatsächlich „verschiedene Geschwindigkeiten“ und auch Bedingungen des Handelns gibt, nicht nur bei der politischen Integration, sondern auch in der Flüchtlingsfrage. Einen Verteilungsschlüssel sollte es geben, aber es ist wahrscheinlich nicht klug, ihn allein mathematisch zu errechnen. In einem ganzen Kontinent kann nicht alles über einen Kamm geschoren werden. Zweitens muss besonders Westeuropa vorausschauend erkennen, was die Folgen seiner geopolitischen Taten sind, und sich rechtzeitig auf sie einstellen. Es ist absurd, wenn jetzt in Deutschland, dem reichsten europäischen Land, die Frage der Unterbringung von Flüchtlingen kaum lösbar erscheint. Aus beiden Erfordernissen ergibt sich das dritte: Die politische Integration – hin zur europäischen Gesamtregierung auf demokratischer Basis – müsste wirklich beschleunigt und rasch vollendet werden. Es sieht aber nicht so aus, als würde nur eine dieser Erwartungen in absehbarer Zeit erfüllt.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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