Farben im Zeitraffer

Musikfest 2018 György Ligeti hat sich auf Karl Popper berufen, wie seinerzeit auch Bundeskanzler Helmut Schmidt

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Die Berliner Philharmoniker
Die Berliner Philharmoniker

Foto: Stefan Höderath

Das Konzert der Berliner Philharmoniker am Donnerstag begann mit Igor Strawinskys Symphonies d’instruments à vent („Bläsersinfonien“) für 23 Instrumente in der Fassung von 1947. Die erste Fassung, 1920 für 24 Instrumente, wurde aus Anlass des Todes von Claude Debussy komponiert. Eine Zeitschrift hatte um die Zusendung von tombeaus gebeten; Strawinskys musikalisches „Grabmal“ war ein Choral gewesen, den er dann ans Ende einer Reihe schon vorher entstandener Skizzen setzte. Trotz der mehr zufälligen Entstehungsweise ist es vielleicht nicht falsch, das Ganze als Trauermusik zu hören, beginnt es doch schon mit einem Glocken-Motiv, das auch „Anrufungs-Fragment“ genannt wurde. Das 12minütige Stück ist „typisch Strawinsky“, eine Aneinanderreihung von Formteilen ohne thematisch-motivische oder harmonische Entwicklung. Wenn es Trauermusik ist, dann eine sehr verschlossene. Keine seelische Regung gibt sich zu erkennen, man hat den Eindruck, die stummen ernsten Gesichter der Trauergäste, wie sie um das offene Grab herumstehen, zu sehen und weiter nichts. Wir sind damit schon eingestimmt auf das Martyre de Saint Sébastien von Debussy selbst, das am Sonntag zu hören sein wird: Wie kann musikalisch auf Folter reagiert werden? Bestimmt nur so, dass sie abwesend bleibt.

Vor der Pause wurde noch Bernd Alois Zimmermanns Violinkonzert (1950) aufgeführt, sein erstes Orchesterwerk überhaupt, das also noch vor der schon besprochenen Sinfonie in einem Satz (erste Fassung 1951) entstand. Es reicht an deren unmittelbar packende Wucht noch nicht heran, obwohl die Gedankenwelt schon dieselbe ist. In dieser „Schaffensperiode“, schrieb der Komponist, habe er „noch sehr stark unter der Einwirkung der Kriegs- und Nachkriegszeit“ gestanden. Im zweiten Satz wird das „Dies irae“ zitiert wie in der 1945/46 entstandenen Symphonie liturgique von Arthur Honegger. Wenn man von beiden Werken sagen kann, dass sie der Tonalität sehr nahe standen oder noch angehörten, hat doch Honeggers Komposition ein Nachleben mit größerem Recht erlangt, weil sie mit mehr Distanz auf die Katastrophe des Krieges antwortet. Einem Komponisten aus der Schweiz fiel das natürlich leichter. Jedenfalls kann kein menschlicher Affekt stark genug sein, diesem Geschehen die Waage zu halten. Das ist ja ein Grund, weshalb junge Komponisten, die damals um die Zwanzig waren, die serielle Musik erfanden, die mit aller tradierten musikalischen Affektdarstellung brach. Zimmermann war um die Dreißig; „im Schatten dieser Jüngeren zu stehen“, war für ihn „ein Trauma, unter dem er zeitlebens litt“, so Martin Demmler im Programmheft. Noch größer war sicher das Trauma, in die schrecklichen Ereignisse selbst involviert gewesen zu sein. Er war 1940 zur Wehrmacht einberufen worden, wurde 1942 aufgrund einer Kampfmittelvergiftung entlassen. Boulez oder Stockhausen blieb so ein Schicksal erspart.

Eigentlich war der Bogen zu groß, den François Xavier Roth, der Dirigent dieses Abends, gespannt hat, denn so faszinierend der zweite Konzertteil nach der Pause auch konzipiert war, passte er doch nicht recht zum ersten. Die Zusammenstellung dieser Programmhälfte war verblüffend genug. Fünf Stücke waren noch angekündigt, Nr. 1 der Images pour Orchestre (1905-1912) von Claude Debussy, Lontano für großes Orchester (1967) von György Ligeti, Images Nr. 3, Atmosphères für großes Orchester (1961) von Ligeti und Images Nr. 2. Da diese Nr. 2, die Ibéria, selbst wieder aus drei Teilen bestand, standen genau genommen sogar sieben Stücke bevor. Es war sicher Absicht, die beifallheischendsten, Atmospères und Ibéria, ans Ende zu setzen; aber why not. Der Sinn der Reihenfolge erschöpfte sich darin nicht. Roths interessante Idee bestand darin, alle fünf respektive sieben Stücke ohne Pause hintereinander zu spielen, als wären sie ein einziges. Und es war überzeugend, denn zum einen wechselte Debussys Lebhaftigkeit mit Ligetis meditativer Ruhe, zum andern trafen sich zwei Komponisten der musikalischen Farbe.

Die Atmosphères, die ihre Bekanntheit dem Einsatz in einem Kinoklassiker, 2001: Odyssee im Weltraum (1968) von Stanley Kubrik, verdanken, sind eine pure Farbkomposition. Das Stück sei „mikropolyphon“ und bestehe aus „komplexen Netzstrukturen“, wird es von Ligeti beschrieben. „Es fehlt darin jede Art von Figur oder rhythmischer Gestalt. Die Form besteht ausschließlich aus Transformationen der Klangfarbe und Lautstärke.“ „Mikropolyphon“ heißt, dass „aus der komplexen Verflechtung einer Vielzahl von selbständig geführten Stimmen (die Partitur umfasst über 60 Systeme und bis zu 87 Einzelstimmen), die freilich so dicht aneinanderrücken, dass sie ihre Individualität einbüßen, [...] eine polyfone Struktur von irisierender Statik [resultiert]“, in der sich dennoch „subtile Metamorphosen ab[spielen]“, so Martin Demmler. Man möchte ein solches Werk, das die Farbgebung vereinseitigt, mit monochromen Gemälden vergleichen, doch bewegt es sich ja auch. Näher steht es den Naturfarben, deren Abschattung sich ja im Lauf der Sonne ständig verschiebt. Wie wir sie tagsüber sehen, wird gleichsam im Zeitraffer gebündelt, wirkt aber, da es sich um Musik handelt, wie ungewöhnlich langsam. Und diese musikalische Metapher assoziieren wir ausgerechnet mit einem Weltraumfilm.

Innermusikalisch wird Ligeti als jemand angesehen, der aus der „Sackgasse“ des Serialismus herausfinden wollte, und wenn wir bei der Idee der Naturnähe seiner Cluster-Metamorphosen bleiben, könnte gesagt werden, er habe das Natürliche in einer Geheimsprache zum Ausdruck gebracht, um im Zeitgeist der Konstruktion bestehen zu können. Übrigens sind die Atmosphères in seiner eigenen Entwickung ein Nullpunkt gewesen. Schon in Lontano, dem anderen Ligeti-Stück des Abends, ist er einen Schritt weitergegangen: Es sei zwar „ebenfalls mikropolyphon“, schreibt er, „doch diatonisch und besteht aus unzähligen Prim-Kanons; mehrfache Oktavverdoppelungen führen zu einem weichen Gesamtklang“. Das heißt mit andern Worten, aus der puren Farbe taucht wieder Zeichnung auf, gerade Linien zunächst wie in gewissen Bildern Paul Klees. Diesen Weg ist er weitergegangen. In Clocks and Clouds für 12stimmigen Frauenchor und Orchester (1972/73), das die Philharmoniker am Sonntag unter der Leitung George Benjamins gespielt hatten, verwendet er, wieder in seinen eigenen Worten, „eine – durch Mikrointervalle eingefärbte – diatonische Melodik und Harmonik“.

Den Titel habe er einem wissenschaftstheoretischen Aufsatz Karl Poppers entlehnt (von dem heute niemand mehr spricht, aber die Älteren erinnern sich, dass in den 1970er Jahren selbst Bundeskanzler Helmut Schmidt auf ihn schwor): „Bei Popper geht es um exakt determinierte (‚Uhren‘) und um globale, statistisch erfassbare Ereignisse in der Natur (‚Wolken‘). In meinem Stück sind die Uhren bzw. Wolken poetische Assoziations-Gebilde. Periodische, polyrhythmische Klangkonzepte verschmelzen zu diffusen, flüssigen Zuständen und umgekehrt.“ In diesem Zusammenhang sagt Ligeti selbst, er „suche stets nach neuartigen Konstruktionsmitteln“, wobei er aber, wie wir eben hörten, an „Ereignisse in der Natur“ denkt.

Man kann auch fragen, was zu seinem Nullpunkt hingeführt hat, und wird sich dann der „Farben“ in Arnold Schönbergs Fünf Orchesterstücken op. 9 (1916) erinnern. Den Begriff der „Klangfarbenmelodie“ hat Schönberg dann auch in seiner Harmonielehre (1911) erörtert. Als Vorbild für Schönbergs „Farben“ in der tonalen Musik könnte vielleicht eine gewisse Stelle im ersten Satz der Vierten von Brahms angesehen werden, der seinerseits auf eine entsprechenden Stelle im ersten Satz der Fünften von Beethoven rekurriert hatte.

Am Montag berichte ich über den gestern aufgeführten Stummfilm J’accuse (1918/19) von Abel Gance mit der dazu komponierten Musik von Philippe Schoeller. Dann folgen noch Berichte von drei Konzertabenden, das sind zweimal Stockhausen und noch einmal Debussy mit dem Martyre de Saint Sébastien.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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