Fluxus

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Warum lässt Cage Musik aus dem Z u f a l l entstehen? Warum interessiert er sich für A l l t a g s g e r ä u s c h e und will sie in den Konzertbetrieb integrieren? Nach den verschiedenen Ansätzen, die wir ausprobiert haben - Kampf gegen die eigene Subjektivität mit ihren autoritären Absichten und ihrer Tendenz, sich zu entfremden; "Befreiung" des Zufalls und der Geräusche; Lust, etwas Neues zu erfinden; Wahrnehmung und Ausfüllung einer Marktlücke im Musikbetrieb - bietet es sich zuletzt noch an, auf beide Fragen ein und dieselbe Antwort zu geben: weil sowohl Zufälle als Alltagsgeräusche s i n n l o s sind.

Nun, das ist so noch keine Antwort, nur eine Problemverschiebung - warum kommt jemand auf die Idee, sinnlose Musik zu schreiben? -, aber vielleicht eine, die weiterführt.

Wie für die anderen Näherungen findet man auch für diese genügend Anhalt in Cages Selbstdeutung. Vor allem aber auch in der Wirkung, die von ihm ausging. Cage gilt als ein, wenn nicht d e r Vater der Fluxus-Bewegung. Was "Fluxus" im Unterschied zu Dada und Happening überhaupt ist, ist nicht leicht zu klären. Sogar die Beteiligten haben sich kaum klar äußern können. Aber so viel lässt sich sagen, dass diese Bewegung mehr als die beiden anderen die Leute mit dem Sinnlosen konfrontieren wollte. Das wird deutlich in der sehr guten Darstellung von Gertrud Meyer-Denkmann, einer Pianistin moderner Musik, die jetzt an der Universität Oldenburg lehrt. Sie kannte Cage seit den 1950er Jahren. Ihr Bericht über die Unruhen und Verwerfungen, die Cage am Ende jenes Jahrzehnts bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt ausgelöst hat, ist detailreicher und schonungsloser als die anderen Berichte, die ich kenne (Zeitschnitte meines Lebens mit neuer Musik und Musikpädagogik 1950-2005, Hofheim 2007, S. 31 f., 35 f.)

"Ausgangspunkt für Fluxus", schreibt sie, "war das Treffen in der New York School for Social Research, in der John Cage von 1956-1958 experimentelle Musik lehrte" (Mehr als nur Töne. Aspekte des Gestischen in neuer Musik und im Musiktheater, Saarbrücken 2003, S. 44). Das Spezifische der Bewegung habe darin gelegen, dass sie es "entschieden [verweigerte], sich auf bestimmte soziale oder Anti-Kunstestablishment-Ziele festlegen zu wollen". Deshalb könne auch Josef Beuys nicht zu ihr gerechnet werden, obwohl er "anfangs an Fluxus interessiert [war]", denn sein Werk sei voller "bedeutungsschwangere[r] Symbolisierungen", die "von Fluxus verpönt [werden]". (S. 46) Hier sei es stattdessen "um Live-Prozesse, um Ereignisse, die das Unvorhersehbare, Zeitlose oder den besonderen Augenblick bevorzugen", gegangen. "Es geht letztlich um die Präsenz eines Ereignisses mit der Prämisse: 'Es ist, was geschieht.'" (S. 49)

In diesem Sinn war Song Books (1970) mit Concert for Piano and Orchestra (1958), beides Kompositionen von Cage, neu produziert von Joan La Barbara in einer integrierten Aufführung, mit der am vorigen Samstag die MaerzMusik eröffnet wurde, ein Fluxus-Event. Die vier Elemente der Aufführung waren Song, Song mit Elektronik, Theater und Theater mit Elektronik. Jeder Akteur, jede Akteurin entwarf ihr eigenes Spielprogramm und bot es gleichzeitig mit den anderen Programmen dar. In Cages Partitur heißt es: "Spiele einfach, wie du es geplant hast, ehe du wusstest, was [um dich herum] geschehen würde." Und was haben die Akteure geplant? Zum Beispiel, Zeitungsseiten auf den Boden fallen zu lassen. Die Zuschauer hörten das elektronisch verstärkte Geräusch mit an. Einer lief dauernd mit einer Fahne herum und wiederholte den Satz: "The best form of government is no government at all." Wenn damit das Programm artikuliert sein sollte, das in dem Event steckte und anschaulich werden sollte, hätte dieses ja doch einen Sinn gehabt. Aber dann hätte es der Fahne, der Demonstration nicht bedurft. Die Demonstration jedenfalls war sinnlos, denn keiner von den anderen Akteuren scherte sich darum. Der Mann hätte ebensogut in der Wüste spazieren können.

Das Stichwort "Spaziergang" finden wir bei Daniel Charles wieder, wenn er uns "die drei Abende des 'Zuges von John Cage'", ein Event der Feste Musicali Bologna 1978, das man wohl dem Fluxus zurechnen kann, vorstellt und deutet. Das Publikum eines Abends nimmt an einer realen Eisenbahnfahrt teil, die aber nicht zu dem Zweck unternommen wird, dass irgendwer irgendwo ankommt. Cage präpariert den Zug, wie er sonst Klaviere präpariert hat: "Bei N Waggons", wird er zitiert, "schlage ich vor, ein Tonsystem von N mal 2 Kanälen zu installieren, und zwar so, dass an der Decke jedes Waggons zwei Lautsprecher (A und B) angebracht werden. Über die Lautsprecher NA werden die Geräusche, die von N Mikrophonen an den Außenseiten des Waggons - am besten jeweils an der Unterseite - aufgenommen werden, übertragen. Die Lautsprecher NB übertragen die Geräusche - Schreie, Lärm, a b e r k e i n e U n t e r h a l t u n g e n -, die N Mikrophone im Innern der N Waggons aufnehmen. An den Lautsprechern A und B angebrachte Schalter (mit denen man aber weder die Lautstärke ändern noch die Übertragung der Geräusche beeinflussen kann) ermöglichen jedem Passagier, von jedem Kanal auf jeden anderen Kanal umzuschalten", und so noch lange weiter. (John Cage oder die Musik ist los, Berlin 1979, S. 9, 13 ff.).

Ich habe "keine Unterhaltungen" hervorgehoben, weil hier unmissverständlich wird, dass Cage den Sinn überall fernhält, wo er nur immer anzutreffen sein könnte. Seine "Absicht", kommentiert Charles, sei "vielleicht nicht, Euch auf eine Reise zu schicken, sondern vielmehr die Suche des 'vollkommenen Spaziergangs', von dem Lie-Tzeu spricht." Lie-Tzeu ist ein taoistischer Weiser. "Der vollkommene Spaziergänger", zitiert er einen anderen taoistischen Weisen, "geht ohne zu wissen, wohin er geht, betrachtet, ohne sich Rechenschaft zu geben, was er sieht", und Charles fügt hinzu, "dass er sich gegebenenfalls an alle äußeren Erschütterungen und Geräusche anpasst; ja diese selbst zu seiner Vollendung braucht". (S. 26 f.)

Seltsame Mischung von Absicht und Absichtslosigkeit, Vollendung und Anpassung an "Erschütterungen"! Auch von befreitem Anhören der Verkehrsgeräusche und dem Zwang, sich in eine Versuchsanordnung zu fügen! Nein, das ist sicher noch nicht die Klärung. Das bleibt eher verwirrend. Vielleicht weil es auch nicht wirklich um den Taoismus geht? Obwohl auch er zu Cages Selbstdeutung gehört. Immerhin, wir dürften dem Kern der Sache näher gekommen sein. Ich muss jetzt unterbrechen, fahre aber heute nachmittag fort.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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