Der "Wettbewerbsföderalismus" marschiert. Er stellt die Bundesländer gegeneinander auf, damit die stärkeren noch stärker und die schwächeren noch schwächer werden. Zwei Gesetze, die diese neue Reform einfädeln, passierten vergangene Woche in erster Lesung den Bundestag. Es ist nur der Reform erster Teil, in dem schon einmal die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf ein Minimum zurückgenommen wird. Sobald sie beschlossen ist, beginnt das Ringen um den zweiten Teil, die wettbewerbsförderliche Finanzverfassung.
Vorerst also wurde die Abschaffung der Rahmengesetzgebung des Bundes auf den Weg gebracht. Natürlich darf der Bund noch Gesetze geben, aber er weiß nicht mehr, was sie schließlich regeln, da die Länder in vielen wichtigen Fragen ein materielles Abweichungsrecht erhalten. Sogar von längst geltenden Gesetzen dürfen sie abweichen, wie sie zuletzt noch durchsetzten. Die rückwirkende Abweichung ist allerdings erst von 2009 an möglich. Mit diesem Kompromiss gab sich der Bund zufrieden, vielleicht weil die Länder nun bereit sind, künftige Strafzahlungen der Bundesrepublik an die Europäische Union zu 35 Prozent mitzutragen. Obwohl die neue Finanzverfassung noch in den Sternen steht, geht es jetzt schon um Geld.
Im Bundestag protestiert mancher illustre Einzelgänger. Die frühere Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn sprach von einer "Außerkraftsetzung von demokratischen Verfahren auf kaltem Wege". Auch der frühere Bundesfinanzminister Eichel zeigte sich skeptisch einer Reform gegenüber, deren Konstrukteure sich nach seinem Eindruck wie feilschende Händler verhielten: "Was bekomme ich, wenn ich was hergebe." Diese Stimmen überraschen nicht, denn man erinnert sich noch der Zurückhaltung der rot-grünen Bundesregierung, jedenfalls ihrer Minister, besonders auch der damals federführenden Bundesjustizministerin Zypries, dem Reformvorhaben gegenüber. Frau Zypries gehört auch der neuen Regierung an, doch von ihr hört man nichts mehr. Franz Müntefering, der die Reform als Fraktionschef betrieben hatte, setzt sich jetzt als Vizekanzler innerparteilich durch.
Auch dass die Grünen nicht glücklich waren, weiß man noch. Was es bedeutet, wenn der Bund ein Umweltgesetzbuch erlässt, von dem dann jedes Bundesland anders abweicht, kann man sich ja unschwer ausmalen. Sie protestieren jetzt schärfer, erfahren aber die Machtlosigkeit einer kleinen Oppositionspartei. Auch alle drei Oppositionsparteien zusammen konnten nicht durchsetzen, dass es parlamentarische Einzelanhörungen zu den Themen Umwelt und Bildung gibt, bei denen die Folgen des Wettbewerbsföderalismus besonders leicht auszurechnen sind. Man kann auch sagen: bei denen sie jetzt schon auszurechnen sind.
Für Verwerfungen, die sich erst später zeigen, fehlt heute noch überall die Phantasie. Dabei müsste es ins Auge springen, dass eine so grundsätzliche Neuerung die Voraussehbarkeit, ja die Steuerbarkeit des politischen Prozesses erheblich beeinträchtigen kann. Aber das Grundsätzliche wird gar nicht bewusst. Sollte nicht, wenn lyrische Zungen das Abweichungsrecht als Sieg des Föderalismus feiern, der Blick in ein klassisch föderales Dokument nahe liegen - The Federalist, das Werk dreier Gründungsväter der USA, darunter des späteren US-Präsidenten James Madison? Mit ihm nahmen sie die Verfassung ihrer Nation vorweg, die dann, einmal beschlossen, gerade in föderaler Hinsicht für vorbildlich galt. Madison, Hamilton und Jay hatten Grund, vor einer Fehlinterpretation des Föderalismusprinzips zu warnen. Man ahnt, was sie zur Idee eines "Abweichungsrechts" gesagt hätten, wenn man liest, wie sie den Gesetzesbegriff erörtern: Eine Bundesgesetzgebung, schreiben sie, die nicht unmittelbar die Individuen bindet, weil dies vielmehr eine zwischengeschaltete Instanz tut, ist "offenkundig unvereinbar mit der Idee von Regierung". Sie sehen darin "den charakteristischen Unterschied zwischen einem Bündnis und einem Regierungssystem: Wir müssen die Machtbefugnis der Union auf die Personen der Bürger ausdehnen - die die einzigen geeigneten Adressaten von Regierung sind".
Wo diese Befugnis nicht erteilt oder, wie jetzt in Deutschland, wieder zurückgenommen wird, da laufen die bundesstaatlichen "Beschlüsse oder Anweisungen, die vorgeblich Gesetze sind, auf nichts anderes hinaus als auf Ratschläge oder Empfehlungen". "Wenn deshalb die Maßnahmen der Konföderation nicht ohne Intervention der separaten Regierungen oder Verwaltungen durchgeführt werden können, besteht wenig Aussicht, dass sie überhaupt durchgeführt werden." Und was sind die Folgen? Wenn es nur die "Kleinstaaterei" wäre, die manche in Deutschland jetzt an die Wand malen! Das wäre ja noch eher gemütlich. Es kann aber auch passieren, dass irgendein neuer europäischer Konflikt, dessen Frontverlauf wir heute nicht voraussehen, sich in genau zwei Lagern deutscher Länder artikuliert, ähnlich wie einst nach der Reformation. Ein CDU-Deutschland stünde vielleicht einem SPD-Deutschland gegenüber; dann wüssten wir erst wirklich, was ein Parteienstaat ist.
Wie primitiv wirkt da der Vorwand, durch die Reform werde der deutsche Föderalismus erst seines Namens würdig und ihre Gegner seien "Zentralisten"! Wie "zentralistisch" war dann James Madison? Dabei weiß jeder, dass ein Bundesstaat ohne Zentrale keiner wäre. Wer also jede Weigerung der Zentrale, eine Kompetenz herzugeben, gleich als "zentralistisch" beschimpft, zeigt nur, dass es ihm wohl gar nicht um Verfassungsfragen geht, seien es föderale oder andere. Heute wird sogar die Kritik, die Abgeordnete des Bundestags an der Reform üben, als Kritik einer zentralistischen Instanz, die der Bundestag sein soll, bewertet - während wir es wohl als gutes föderales Beispiel zu bestaunen haben, dass die Bundesregierung und 16 Landesregierungen, die die Reform ausgehandelt haben, sich jede Aufschnürung ihres Verhandlungspakets durch demokratisch gewählte Parlamente verbitten. Nein, es ist kein Scherz, an The Federalist zu erinnern - weil eine Verfassungsreform eben von "Verfassungsvätern" und -müttern entworfen werden sollte, statt von neoliberalen Händlern. Da kann man sich wirklich einmal an den USA orientieren.
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