Folgenlose Politik

Parteitag in Dresden Wie die Grünen zur Reform des Sozialstaats beitragen

Reformen und Gerechtigkeit" heißt der Beschluss, der das größte Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog. Es ist bekannt und schlägt sich nieder: Auch die grüne Basis hadert mit der "Agenda 2010"; auch die grüne Führung hat Angst, es könnten im derzeit laufenden Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat so viele Kompromisse mit der Union nötig werden, dass die Partei die Glaubwürdigkeit verliert, die sie bei erstaunlich vielen Wählern noch hat. Also muss man doch Argumente vorbringen, die zeigen sollen, dass man sich bei der Zustimmung zur "Agenda" etwas gedacht und namentlich die Gerechtigkeit nicht vergessen hat. Der Beschluss kann eine gewisse Nervosität nicht verbergen. Dem jahrzehntelang bewährten Leitsatz der Realos zuwider, es dürften in Verhandlungen mit der SPD keine grünen Essentials existieren oder gar zur Sprache gebracht werden, haben sie jetzt doch einmal "Eckpunkte" definiert und geben dramatisch zu Protokoll: "Bündnis 90/Die Grünen erklären, dass ihre Zustimmung zu den Gesetzen zur Reform der sozialen Sicherungssysteme am Ende des Vermittlungsverfahrens davon abhängig ist, inwieweit diesen Eckpunkten Rechnung getragen wird." Sie sagen nicht "ob", sondern "inwieweit"; es ist auch nicht dasselbe, ob man an einem Eckpunkt Halt macht oder ihm nur "Rechnung trägt" bei der Überschreitung, zum Beispiel beim Weiterspielen hinter dem Eckpunkt eines Fußballfeldes; aber immerhin.

Der Beschluss zeigt die Besorgnis, aber auch die Konfusion einer Partei, die sich ihrem Koalitionspartner vollkommen wehrlos ausgeliefert hat. Man muss das zitieren, weil es sonst sicher niemand glauben kann: "Das jetzige Leistungsniveau des Arbeitslosengeldes II ist unzureichend, weil es zum Beispiel für Familien mit Kindern über sieben Jahren sogar unter den bisherigen Sozialhilfesätzen liegt. Es besteht, worauf der Deutsche Kinderschutzbund zurecht hinweist, für Hunderttausende von Kindern die Gefahr der Armut. Dem hätte entgegengewirkt, wenn das Kindergeld nicht auf die Leistungsansprüche angerechnet worden wäre, wie Bündnis 90/Die Grünen es fordern. Weitere Leistungseinschränkungen werde die Partei nicht mittragen - sie wären ein Beitrag zum Abbau des Sozialstaats, nicht zu seiner Reform." Ist das nun so zu verstehen, dass die Verarmung von mehreren Hunderttausend Kindern durch die "Agenda" noch kein Beitrag zum Abbau des Sozialstaats war (denn sie wurde von den Grünen mitgetragen), oder so, dass die Grünen diesen Abbau mittragen (denn sie räumen ein, dass nun Hunderttausende von Kindern verarmen)?

Diese Feinheiten von ein paar hunderttausend Kindern hat die Öffentlichkeit gar nicht bemerkt. Aber es wurde registriert, dass die Parteiführung den Vorstoß Hans-Christian Ströbeles zu einer Mindeststeuer oder "Millionärssteuer" in den Beschluss zähneknirschend einarbeiten musste. Wie das geschah, zeugt von großer Delikatesse. Ströbele hatte sich ja auch viel Mühe gegeben, bei dieser Wiederbelebung und Modifikation der Vermögenssteuer die Einwände, genauer gesagt "etliche Einwände hinfällig werden" zu lassen, wie der Beschluss leicht zweifelnd, aber insgesamt doch lobend vermerkt. Zum Beispiel sollen Vermögens- und Einkommenssteuer miteinander verrechnet werden, und man will kleine und mittlere Unternehmen schonen. Aber ist Ströbeles Vorschlag nun angenommen worden oder nicht? Wir lesen: "Ohne jetzt bereits eine endgültige Gestalt einer neuen Vermögensbesteuerung beschließen zu können, machen sich Bündnis 90/Die Grünen den Ansatz der Mindeststeuer zu eigen." Eine "Unterarbeitsgruppe Steuergerechtigkeit" beim Bundesvorstand wird den "Ansatz" in ein umfassendes Konzept einarbeiten, das bis zur Europawahl vorliegen soll. Man hat ja so viel Zeit. Nur Schröder, wenn er die "Agenda" durchpeitscht, hat keine.

Der Gruppe um Ströbele, der Bärbel Höhn, Claudia Roth, Jürgen Trittin, Kerstin Müller und andere angehörten, war eine solche Beerdigung erster Klasse nicht genug. Sie hielt ihren Antrag aufrecht, die grüne Bundestagsfraktion möge zur Vermögenssteuer einen Gesetzentwurf im Bundestag einbringen. "Der Parteitag hat seinen Willen zur Wiedererhebung der Vermögensteuer deutlich erklärt. Diesem Beschluss muss Sichtbares folgen", endet dieser Antrag, der von den Delegierten abgelehnt wurde. Es ist ja auch doppelt gemoppelt: Wenn etwas aus etwas folgt, ist es immer irgendwie sichtbar. Ein Beschluss aber, der die Vermögenssteuer zum Gegenstand hat, muss überhaupt gar keine Folgen haben.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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