Folgenschwere Konsequenzen

Musikfest 2012 John Cage, Charles Ives und Hans Werner Henze im Vergleich

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Das Musikfest geht weiter. Heute steht, sicher seit Monaten ausverkauft, Porgy and Bess auf dem Programm, geleitet von Sir Simon Rattle, der die Oper von Gershwin schon vor Jahren großartig eingespielt hat. Am Samstag ist unter anderm Orgelmusik von Charles Ives zu hören. Am Sonntag vormittag dirigiert Daniel Barenboim die Neunte von Bruckner und auch das Cellokonzert von Elliott Carter, dem nach Ives wohl interessantesten US-amerikanischen Komponisten, der am 11. Dezember 104 Jahre alt wird. Am Sonntag abend schließlich das Benefizkonzert des IPPNW mit dem "amerikanischen" Streichquartett (op. 96) von Antonin Dvorak und anderer Kammermusik. Ich selbst berichte heute zum letzten Mal, musste ich doch schon bisher viel Interessantes überspringen.


Am Mittwoch wurden Orchesterwerke von John Cage aufgeführt (Junge Deutsche Philharmonie unter Peter Rundel), der in diesem Jahr 100 geworden wäre. Der Eigenart der Musik von Cage bin ich in einer früheren Serie ausführlich nachgegangen (siehe im Inhaltsverzeichnis "MaerzMusik 2012") und will das jetzt nicht wiederholen. Im Kontext des Musikfests ist vor allem interessant, dass ein Werk von ihm auf dem Programm stand, das er zu Ehren der USA geschrieben hat. Apartment House 1776 ist "eine Sammlung von Musik [...], die von einer beliebigen Anzahl Musikern als ein 'musicircus' gespielt wird. Alle Stücke dieser Sammlung sind Quellen des 18. Jahrhunderts entnommen: volkstümliche Melodien, Trommel-Solos aus mährischer Kirchenmusik und Choräle von Komponisten wie William Billings, Supply Belcher und Jacob French." (Programmheft) Interessant die Vergleichbarkeit mit Ives, dem es ebenfalls darum ging, viele amerikanische Melodien zusammenzufügen. Hier wird in der Kompositionsweise Vergesellschaftung nachgestellt. Ich muss aber sagen, dass ich dann das Gesellschaftsbild von Ives dem von Cage vorziehe.


Wie schon berichtet, stimmt Ives die Melodien aufeinander ab, das heißt er entdeckt ihre Strukturanalogien und melodiösen Ähnlichkeiten und nutzt sie aus. Im Vergleich mit Cage wird hervorhebenswert, dass man als Europäer die Melodien zwar nicht kennt, die Ives übereinanderlagert, sehr gut aber hören kann, dass da welche sind und dass sie übereinandergelagert werden. Und beurteilen kann, ob Zusammenklang resultiert, der für gelungene Gesellschaftlichkeit stünde. Bei Cage kommt nach meinem Höreindruck nicht einmal ein "Circus" zustande, sondern eher ein Kurzwellensalat, wie man ihn in der Frühzeit des Radios gewohnt war und aus dem sich ab und an einzelne, brav von Einzelstimmen gesungene Lieder herausheben. Das Gesellschaftsbild des "Anarchisten" Cage wird deutlich in seiner improvisierten Rede an ein niederländisches Orchester, das sich ärgerte, ein anderes Cage-Werk, den Atlas Eclipticalis, spielen zu müssen. Er wurde am Mittwoch ebenfalls gegeben, so dass ich Cages Rede aus dem Programmheft zitieren kann:


"Ihre ganze Erfahrung mit der Aufführung von Musik in der Vergangenheit läßt Sie denken, dass es Ihre Aufgabe sei, etwas von Ihrer eigenen Emotion in den Klang einzubringen. Aber ich habe in diesem Stück versucht, obwohl ich Zufallsoperationen benutzte, um es zu komponieren, und obwohl ich die Position der Noten aus der Position von Sternen auf Sternkarten erhielt, - ich habe also versucht, meine Ansichten darüber aufzugeben, wie Musik sein sollte, und ganz bestimmt darüber, wie sie ausdrucksvoller geraten könnte, und man sollte die Klänge aus ihren eigenen Zentren kommen lassen."


Teils sehen wir eine weitere Parallele zu Ives. Denn auch an dessen Musik war hervorzuheben, dass sie mit der in Europa üblichen Vermischung von musikalischem Objekt und "Emotion" des Komponisten brach. Ives hörte auf, den Dingen innere Monologe zuzuschreiben. Ein von ihm aufgegriffener Militärmarsch kann nicht über sich selbst nachdenken, was er bei Gustav Mahler noch konnte. Im Unterschied zu Ives freilich stellt Cage meistens nicht die Objektivität tradierter menschlicher Artefakte heraus, sondern interessiert sich fürs Sinnlose, wie hier die Sterne einer Sternkarte. Keine bestimmten Sterne, sondern irgendwelche, und sie sind nicht Metaphern wie für Beethoven ("froh, wie seine Sonnen fliegen, laufet, Brüder, eure Bahn"), sondern, so würde Cage sagen, ganz sich selbst freigegeben. Aber immerhin, Apartment House hat es mit den Menschen, ihren Melodien zu tun, und sie werden in derselben Weise freigegeben.


Ist das nun ein großartiges Befreiungswerk? Ich zweifle. Eine Befreiung, die nur darauf zielt, die Elemente einer Gruppe zu verselbständigen, während die Beziehungen aufeinander dem Zufall überlassen werden - es ist dieser Zufall, den ein Cage-Werk zu Gehör bringt -, kommt mit nicht erstrebenswert vor. Meine Vorstellung von Freiheit wäre die, dass Menschen einander nicht so akzeptieren, wie sie sind, sondern aushalten, ja wollen, dass man ihnen widerspricht, während es dann wieder von ihrem Willen abhängt, was sie aus der Begegnung im Widerspruch ableiten. Dazu gehört in der Tat, dass ein Mensch nicht glaubt, den andern aus dessen Innern heraus verstehen zu können; wenn er widerspricht, dann in der Hoffnung, dass der andere durch seine Reaktion erst zeigt, wer er ist. Dazu gehört also, ins Musikalische übersetzt, durchaus jenes Verfahren von Ives und Cage, das musikalische Objekt mit dem Gefühl seines Komponisten nicht mehr zu vermischen.


Aber was an der Gleichgültigkeit des Nebeneinanders von Dingen oder Menschen freiheitlich sein soll - jeder lässt den andern so, wie er ist, damit er selbst so weiter machen kann wie bisher -, kann ich nicht nachvollziehen. Es kommt dann zum Stimmengewirr, wie Cage es auf die Bühne bringt, aber ein Stimmengewirr ist noch keine Gesellschaft. Es ist bestenfalls ein Markt... Das Faszinierende bei Ives ist gerade, dass die verschiedenen Melodien kompatibel gemacht werden. Gerade die Kompatibilität macht den ganz ungewöhnlichen Klangeindruck aus, den man genießt und der, indem er mehr Vielfalt zulässt, als man gekannt hat, Freiheit erleben lässt.


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Ein größerer Gegensatz zu Cages Konzeption als der, die in Hans Werner Henzes sechster, der "kubanischen" Sinfonie für zwei Orchester liegt, lässt sich nicht denken. Dies Werk gilt als schwer analysierbar, aus Henzes eignen Angaben ist aber so viel klar, dass es vom Nebeneinander musikalischer Blöcke über ein Stadium der Gegensätze - katastrophische Verwandlung einer Sache in ihr schlimmes Gegenteil - zur revolutionären, karnevalesken Auflösung führen soll. Auch die Orchester sind sich nicht gleichgültig, sondern "liegen", so Henze, "in ständiger Korrespondenz miteinander andauernd aufeinander bezogen". 1969 in Havanna uraufgeführt, ist die Sinfonie dem von Fidel Castro geführten kubanischen Volk gewidmet. Henze, der damals den angeschossenen Rudi Dutschke in seinem italienischen Haus beherbergte, wollte sich engagieren. Seine Tagebücher zeigen, wie er damals Kuba erlebte. "In meiner Garderobe", schreibt er zum Beispiel, "sitzt ein junger Soldat und telefoniert ausführlich mit seinem Mädchen, hat die Maschinenpistole auf meine Partitur gelegt. Ich hoffe auf einen Ölfleck."


Die gestrige Aufführung durch das Rundfunk Sinfonieorchester unter Marek Janowski war ein Erlebnis. Janowski versteht es, diese dichte Musik plastisch zu machen, ihre Einzelcharaktere reliefartig hervortreten zu lassen. Ich hatte das Gefühl, die Sinfonie wäre schon einigermaßen verständlich geworden, hätte er sie nur zweimal hintereinander aufgeführt. Bei der Uraufführung von Beethoven-Sinfonien war dergleichen noch üblich gewesen, heute kommt es leider fast nie mehr vor. Immerhin wurden Stockhausen Hymnen an dem Abend, von dem ich berichtet habe, zweimal gegeben. Aber wenn es das Konzert nicht tut, kann's die CD richten. Dem Programmheft entnehme ich, dass Janowski, der gerade dabei ist, die zehn großen Wagneropern konzertant aufzuführen (ich kenne die Meistersinger-CDs und kann sie nur weiterempfehlen), auch sämtliche zehn Henze-Sinfonien eingespielt hat - für meine Gewohnheit, mich zu Weihnachten mit Musik zu beschenken, eine arge Versuchung.


Ein Erlebnis war der Abend natürlich auch, weil sich an Henze das 3. Klavierkonzert (op. 30) von Sergei Rachmaninow anschloss. Wie der russische Pianist Nikolai Lugansky auswendig spielend die Virtuosität des Soloparts bewältigte - er soll laut Programmheft "innerhalb aller großen romantischen Klavierkonzerte die größte Notendichte pro Sekunde" aufweisen, und ich hörte einen Mann in meiner Nähe sagen, gewisse Passagen würden meistens stillschweigend weggelassen -, riss uns Zuhörer zu Jubelschreien hin. Lugansky hat bestimmt nichts weggelassen. Aber hier soll noch weiter Henze das Wort haben. Was ich zum Schluss zitieren will, hat mit Musik nur noch wenig zu tun, beklagenswert wenig, kann aber einen Eindruck davon vermitteln, was um 1968 herum in Deutschland los war:


"Aus Solidarität mit Theodorakis", dem griechischen Komponisten, den die Militärdiktatur hatte einkerkern lassen, "und zu Isang Yun, dem in Berlin arbeitenden koreanischen Kollegen (der 1967 mit anderen Südkoreanern auf dem Boden der BRD gekidnappt und über einen westdeutschen Flughafen aus dem Lande geschmuggelt worden war, um daheim in Korea wegen Linkstendenzen und Hochverrats angeklagt und gefoltert zu werden), hatten Paul Dessau, der Akademiepräsident Blacher und ich den Kollegen der Westberliner Akademie der Künste vorgeschlagen, die beiden in Lebensgefahr schwebenden Kollegen zu retten, indem wir sie unverzüglich als ordentliche, korrespondierende oder als Ehrenmitglieder aufnehmen. Der Vorschlag wurde abgelehnt, und zwar - wie es in der Begründung hieß - aus Gründen der Qualität und aus Gründen der politischen Neutralität. Akademiepräsident Blacher teilte es mir telegraphisch mit und empfahl mir, keine 'folgenschweren Konsequenzen' aus dem negativen Resultat zu ziehen, was mich natürlich veranlasste, sie unverzüglich zu ziehen. Kurze Zeit später wurde ich korrespondierendes Mitglied der Ostberliner Akademie."



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Es war wieder (und bleibt bis zum Sonntag) ein hochinteressantes Musikfest. Die Idee, Musik aus den USA und über die USA vorzustellen, hat unsern Horizont erweitert. Dabei habe ich von Vielem gar nicht berichten können, etwa vom Hanns Eisler gewidmeten Abend ("Hanns Eisler in Amerika", heute vor einer Woche) oder von der "Concord-Sonate", einem Hauptwerk von Ives, dargeboten am darauf folgenden Abend von Pierre-Laurent Aimard. Was Ives angeht, wäre zu hoffen, dass er nicht gleich wieder in der Versenkung verschwindet. Wie es ganze Mahlerfestivals gegeben hat, wäre doch auch ein ganzes Ivesfestival vorstellbar. Ebenso verdient Elliott Carter weitere Aufmerksamkeit. Wir lassen es auf uns zukommen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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