Meinung Die Rentenreform in Frankreich spaltet die Gesellschaft. Das Land steckt nicht nur in einer tiefen Krise. Auch seine Demokratie hat Schaden genommen
Gewalt und Gegengewalt: Seit Wochen wächst die Wut der französischen Gesellschaft auf ihre Regierung
Foto: Dimitris Kapantais/AFP via Getty Images
Was sich in Frankreich abspielt, ist ein Lehrstück für die Demokratie. Demokratie ist nicht bloß eine Sache der (grund-) gesetzlich geregelten Verfahren. Ohne die Verfahren der Gewaltenteilung ist sie freilich nichts, aber sie erschöpft sich darin nicht, besonders wenn wie in der französischen Verfassung ein Artikel dazugehört, der es einer Minderheitsregierung erlaubt, sich über das Parlament hinwegzusetzen. Demokratie ist auch nicht bloß eine Sache der Interessen. Sie wäre zwar keine, wenn die Interessen gar nicht berücksichtigt würden, und das ist es ja gerade, was sich in Frankreich zeigt: Eine Massenbewegung, hinter der drei Viertel der Bevölkerung stehen, lässt sich die Rentenpläne der Regierung nicht gefallen, wei
weil sie Sozialstaatsabbau bedeuten. Aber es ist auch wahr, dass ein französischer Präsident seinem Wahlvolk widersprechen darf – und sogar soll, wenn er meint, es sei notwendig. Denn auch das gehört zur Demokratie: Sie ist weder nur eine Sache der Verfahren, noch der Verfahren und Interessen, sie ist auch eine Sache des Diskurses.Die größte Sünde von Präsident Emmanuel Macron besteht darin, dass er den Diskurs zu verwildern versucht. Sein Volk sei uneinsichtig, sagt er, und: Wenn er etwas bereue, dann, dass er seine Rentenreform nicht überzeugend habe vermitteln können. Diese Attitüde des Wahrheitsfanatikers, so großartig sie klingt, kennen wir zur Genüge aus dem „realen Sozialismus“. Da hatte sich eine Partei in ihren Wahrheiten so eingeigelt, dass es ihr unnötig erschien, sich zur Wahl zu stellen – es konnte nur noch darum gehen, die Wahrheiten dem Volk „geduldig zu erklären“! Wenn das Volk protestierte, weil ihm die Erklärung nicht einleuchtete, musste es hart erzogen werden. So weit kann und will Macron nicht gehen, denn er ist trotz allem kein Diktator. Doch wie er redet, ist schlimm genug.Der demokratische Diskurs ist eine Art und Weise, wie man miteinander streitet. Wenn es ihn gibt, dann zuerst an der Basis und im Alltag einer Gesellschaft, wo er sich im Zusammenspiel von Widersprechen und Freiheit zeigt: Von zwei Menschen, mögen sie sich fern- oder nahestehen, nimmt sich der eine das Recht, dem anderen zu widersprechen, ja, es gibt Umstände, wo er sich dazu verpflichtet fühlt; und der andere nimmt es hin, weil er weiß, es könnte ihm helfen; er hat aber seinerseits das Recht, den Widerspruch auf seine Berechtigung zu prüfen und über ihn zu entscheiden. Er muss ihn hinnehmen, aber nicht annehmen. Im Verhältnis Staat – Gesellschaft kehrt das modifiziert wieder: Die gewählten Vertreter:innen des Volkes dürfen diesem nicht nur widersprechen, sondern sind verpflichtet, es gegebenenfalls zu tun; aber das Recht, den Widerspruch anzunehmen oder zurückzuweisen, liegt beim Volk. Anders als im Alltag der Gesellschaft ist dieses Verhältnis nicht umkehrbar. Denn wenn das Volk seinen Vertreter:innen widerspricht, haben die es nicht nur hinzunehmen, sondern auch anzunehmen, eben weil sie nur Vertreter:innen sind.Alles Weitere ist Sache des Austauschs der Argumente. Ob Macron die besseren hat, ist mehr als zweifelhaft. Wenn er sie hätte, dürfte er sich auch einmal gegen Interessen auflehnen, denn Interessen werden von den Menschen definiert, die sie haben, und es ist ja denkbar, dass sie nicht zwischen ihren kurz- und längerfristigen Interessen unterscheiden. Davor aber noch stellt sich die Frage, ob Macron einen Diskursstil pflegt, der ihnen signalisiert, dass er nicht mit der Brechstange etwas erzwingen, sondern eben nur widersprechen will. Weiß ich denn nicht, wie schwer ich es ertrage, dass mir widersprochen wird? Wer das nicht in Rechnung stellt, denkt nicht demokratisch. Denn ob solche, denen vielleicht mit gutem Grund widersprochen wird, sich überwinden und es annehmen, hängt nicht zuletzt vom Respekt ab, den man ihnen entgegenbringt.Das ist ja auch in Deutschland so, zum Beispiel wenn es um Ökologie geht. Da gibt es einerseits Volkvertreter:innen, die den kurzfristigen Interessen der Bevölkerung viel zu wenig widersprechen, und es gibt andererseits die „Letzte Generation“, die sich von der erfreulichen Klarheit ihrer Aktionen, mit denen sie umgekehrt den Vertreter:innen widerspricht, nicht abhalten lässt. Notwendig ist es auch hier, dem Volk die Entscheidung zu überlassen. Manche, die nur fordern, die Konzerne müssten enteignet werden, überlegen das nicht. Denn das Volk kauft freiwillig die Waren dieser Konzerne, die in ihrer Art und Fülle so ökologieschädlich sind. Kaufen, dafür Geld verdienen, und das unter würdigen Bedingungen – wozu eine würdige Rente gehört –, das ist das kurzfristige Interesse des Volkes. Daher muss erst einmal ihm widersprochen werden: nicht seinem Interesse an würdigen Arbeitsbedingungen, wohl aber vielen Käufen, zu denen es sich drängen lässt von der Angebotsmacht des Kapitals. Es muss ihm widersprochen werden, damit es zum Subjekt des Eingriffs in die Konzernpolitik werden kann. Dieses Widersprechen bedeutet nicht, das ökologische Problem auf eine Privatebene zu verlagern, wenn es einhergeht mit dem Kampf für das Recht des Volkes, die Ökonomie zu gestalten. Das Recht aber, nur das zu tun, wovon es sich hat überzeugen lassen, verleiht ihm der demokratische Diskurs schon heute.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.