Freies Atmen

MaerzMusik 2015 „Festival für Zeitfragen“ ist ein interessanter Ansatz. Doch sollte die Musik mehr im Zentrum stehen

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Das Ensemble Adapter spielte das Konzert "Longitude"
Das Ensemble Adapter spielte das Konzert "Longitude"

Foto: Rut Sigurðardóttir

Das Abschlusskonzert habe ich mir nicht angetan: Samstag 18 Uhr bis Sonntag 24 Uhr; „eine Zeitblase, die sich von der getakteten Chronometrie der Großstadt für einen unendlich langen Moment abgrenzt, um all jenen Eigenzeiten Platz zu machen, die für gewöhnlich dem Tag und der Nacht zum Opfer fallen“; „die Besucher sind eingeladen, sich dieser Zeitblase einzuverleiben, schlafend oder nicht, über Nacht zu bleiben und sich dieser künstlerischen Grenzerfahrung hinzugeben“. Ich kann mir nicht helfen, mir klingt es dieses Jahr allzu oft nach der Sprache der kommerziellen Werbung. Morton Feldman hätte man da hören können mit einem fünfstündigen Streichquartett, eine siebstündige Performance von Phil Niblock und so weiter. Ich zweifle auch, dass durch so eine „Grenzerfahrung“ eine „Zeitfrage“ beantwortet werden kann. Dass extrem lange Musikstücke komponiert werden, ist ja sicher interessant, aber welchen Sinn hat es, sie auch noch zu kombinieren?

Kommt so wirklich ein „unendlich langer Moment“ zustande, fast etwas also wie das Ewigkeitserlebnis des nunc stans, wie es im Mittelalter hieß? Nur anders erreicht, im langen Moment eben? Es gibt so etwas; ich meine, es selbst zu kennen, weil ich 2000 dabei war, als Peter Stein Goethes Faust I und II vollständig aufführte. Es dauerte von Samstag Mittag bis Sonntag Abend. Nie werde ich es vergessen. Stein kam nicht auf die Idee, den Besuchern die Übernachtung im Theater anzubieten.

Das letzte von mir besuchte Konzert war Longitude (2014) überschrieben. Aus einer „Bühnenkomposition“ „im Wechselspiel von Klängen, Bildern und Aktionen“ von D. B. Franzson wurde für den Freitag Abend lediglich das musikalische Element ausgewählt, oder um im Reklamesound des Programmhefts zu sprechen: „Für MaerzMusik lassen sich Davíð Brynjar Franzson und die Musiker des Ensemble Adapter auf eine rein akustische Version von ‚Longitude‘ ein, die bisher noch nicht realisiert wurde.“ Und weiter: „Seiner bildlichen und performativen Deutungsebene beraubt, tritt das Stück in seiner ganzen subtilen Kraft hervor und entfaltet in tausend Klangnuancen ein langsames, freies Atmen, das von einer alten, vergangenen Sprache getragen scheint.“ Es war tatsächlich eine Stunde hindurch kaum mehr als „Atmen“ zu hören; so saß der Kontrabassklarinettist vor seinem Instrument und pustete meistens nur, und auch die Aktion der anderen Instrumentalisten bestand hauptsächlich in der Weigerung, ihr Instrument zu bespielen. Flöte, Cello, Klavier, Schlagzeug, Elektronik – nie legten sie Töne übereinander, und nur ein oder zweimal machte ein Paukenschlag etwas Stimmung. Ich empfand schon das als Übernachtungsmusik, brauchte den Samstag/Sonntag nicht abzuwarten, aber anscheinend ging es nicht allen so. Eine ältere Dame hörte ich hinterher zu ihrer Begleiterin sagen: „Besonders interessant fand ich das Geräusch, als ...“

Die Bühnenkomposition soll von dem dänischen Abenteurer Jorge Jorgensen gehandelt haben oder von ihm inspiriert worden sein. Der hatte allerdings ein bewegtes Leben, man kann es bei Wikipedia nachlesen (er heißt dort „Jürgensen“). Wie dort das Dansk Biografisk Leksikon zitiert wird, ließ er sich „von der Stimmung des Augenblicks“ beherrschen, und das wäre wieder ein interessanter Zeitbezug gewesen. Doch die Beziehung zwischen einem „langsamen, freien Atmen“, langsamen Atmen jedenfalls, lassen wir die Freiheit einmal beiseite, und einem Augenblicksmenschen erschließt sich mir nicht.

So war für mich persönlich das Ende des Festivals genauso unbefriedigt wie sein Anfang. Dazwischen geschah auch viel Interessantes, wie ich berichtet habe. Hätte ich noch mehr Veranstaltungen besucht, wäre wohl das Mischungsverhältnis so geblieben. Georges Aperghis zu hören, war interessant; im Nachhinein wünschte ich, nicht nur ein Konzert von ihm gehört zu haben, sondern alle fünf. Ich bedauere es aber nicht, mir nicht die Wiedergabe vieler kleiner Renaissance-Musikstücke angehört oder acht Stunden lang der Stimme von John Cage gelauscht zu haben. Ein Erlebnis werde ich wiederum verpasst haben, weil ich die Veranstaltung „Time has fallen asleep in the afternoon sunshine“ nicht besucht habe, an zwei Tagen jeweils sechs Stunden: „Eine Gruppe von Performern hat jeweils ein Buch ihrer Wahl auswendig gelernt“, zum Beispiel Goethes Faust. „Gemeinsam verbringen sie Zeit im Haus der Berliner Festspiele und warten darauf, abgeholt zu werden, um Teile der Bücher für einzelne ‚Leser‘ zu rezitieren.“ Das ist ja in Fahrenheit 451 so gewesen, dem berühmten SF-Film nach Ray Bradbury, auf den auch verwiesen wird. Aber hier hätte, wie bei anderen Veranstaltungen, die Musik gefehlt. Alles in allem scheint mir, dass die neue Konzeption der MaerzMusik, ein „Festival für Zeitfragen“ sein zu wollen, zwar als Ansatz überzeugt, in der Umsetzung aber noch steigerungsfähig ist. Die Musik, und nicht irgendeine, sondern ihr ganzes Spektrum sollte eine größere Rolle spielen.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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