Gerechtigkeit für Tiere

WARUM SIND NICHT AUCH RINDER "MORALISCHE SUBJEKTE"? Eine unausgetragene Debatte zwischen Axel Honneth und Bärbel Höhn

Die mit der BSE- und MKS-Krise allenthalben als unumgänglich angesehene Reform der EU-Agrarpolitik favorisiert den Verbraucherschutz - dabei besonders die Konditionen einer ökologischen Landwirtschaft. Was eher marginalisiert oder so gut wie gar nicht beachtet wird, das sind Fragen des Tierschutzes, die zu vertreten, einschlägigen Verbänden vorbehalten bleibt. EU-relevant sind entsprechende Fragen bestenfalls bei den umstrittenen Regelungen zur industriellen Mast, dem Futtermitteleinsatz oder der Bekämpfung von Tierkrankheiten und -seuchen. Es wird hierbei übersehen, dass es nicht nur in einem metaphorischen, sondern auch in einem ökonomischen wie ökologischen Sinne die stete "Kooperation zwischen Mensch und Tier" gibt.

Haufen brennender Tierleichen, oft einfach "um den Markt zu stützen", es sind furchtbare Bilder. Sicher tragen sie dazu bei, dass die Frage, welche Rolle Tiere in unserer Auffassung von Ökologie spielen, wieder lauter gestellt wird, gerade unter Grünen. Vom "Recht der Hühner" sprach Bärbel Höhn. Davon, dass "die Tiere mit am Verhandlungstisch sitzen", Franziska Eichstädt-Bohlig. Aber Axel Honneth hat es bestritten.

Der Sozialphilosoph sprach auf dem grünen Parteitag in Stuttgart und führte aus, dergleichen sei eine "Substanzialisierung der Natur", die nicht nur philosophisch-begriffliche Probleme aufwerfe: Dadurch werde auch "jede Bezugnahme auf gesellschaftliche Interessen und Ansprüche" ausgeschlossen, "so dass der demokratische Wille der Bürgerinnen und Bürger zu einer vernachlässigbaren Größe zu werden droht". Eine fast hysterische, aber auch sehr merkwürdige Warnung. Denn was hat der demokratische Wille damit zu tun? Volksentscheide über die Massenschlachtungen hat es nirgendwo gegeben.

Nein, ein bisschen könnte es Herrn Honneth doch rühren, dass das Leben Tausender von Tieren "zu einer vernachlässigbaren Größe" geworden ist. Und von einer Lösung der philosophisch-begrifflichen Probleme scheint er selbst weit entfernt. Er behauptet, der Naturschutz sei in einen erweiterten Begriff sozialer Gerechtigkeit unter Menschen einzubringen. Diese Gerechtigkeit könne nicht nur sozialökonomisch, sie müsse auch lebensweltlich definiert werden. Will sagen, sie schließe Lebensqualität ein. Gemeint ist die Qualität des Lebens der Menschen. Dazu trügen Tiere bei, insofern werde der Gerechtigkeitsbegriff durch sie erweitert. Irgendein Anspruch, den Tieren selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist mit der Aussage nicht verbunden. Könnte man sie also noch dahin präzisieren, dass der Begriff der Gerechtigkeit, etwa zwischen Prozessparteien vor Gericht, auch um die Stühle erweitert werden muss, auf denen der Richter und die Schöffen sitzen, sowie um das Brennholz, mit dem der Gerichtssaal während der Verhandlung geheizt wird?

Merkwürdig, dass Honneth die Nachlebenden als "moralische Subjekte" anerkennt, obwohl doch auch sie nicht am Verhandlungstisch sitzen. Warum sind nicht auch Tiere "moralische Subjekte"? Und andersherum: Warum darf Honneth die Nachlebenden "substanzialisieren" - was haben sie mit seiner Gerechtigkeit zu tun, wenn er definiert, gerecht sei "das, was es dem einzelnen Mitglied unserer Gesellschaft in Kooperation mit anderen erlaubt, seine Lebensziele in größtmöglicher Autonomie zu verwirklichen"? Es ist nicht zu begreifen: Dass Tiere höchstens metaphorisch, aber nicht rechtlich "mitverhandeln", so wenig wie menschliche Embryonen übrigens, wird niemand leugnen, aber eine "Kooperation" zwischen Menschen und Tieren gibt es doch in allem Ernst. Dennoch sind sie hier nicht gemeint.

So unbedacht Honneth sich äußert, kann man immerhin verstehen, dass sich da jemand so scharf wie möglich von den deep ecologists abgrenzen will, deren extremste Vertreter behaupten, der Mensch sei ein Naturschädling und habe von der Erde zu verschwinden. Aber Honneth hätte sich auch an Marx abarbeiten können. Da wäre mehr zu gewinnen gewesen. Marx vertritt eine Ökologie nicht der Tiefe, sondern der Oberfläche: der Schönheit. Seine Unterscheidung von Tier und Mensch wird manchen überraschen, da sie keineswegs nur sagt, dass das Tier nicht arbeite und keine Werkzeuge benutze. Vielmehr: das Tier produziere nur sich selbst, der Mensch aber reproduziere die ganze Natur und mache sie so zu seinem "Leib". Er "weiß nach dem Maß jeder species zu produzieren und überall das inhärente Maß dem Gegen- stand anzulegen", er "formiert daher nach den Gesetzen der Schönheit". Diese Sätze, so schwer sie verständlich sind, führen aus Honneths Dilemma heraus.

Zunächst erinnert man sich der anderen, bekannteren Stelle, in der Marx vom Menschen sagt, er produziere sich selbst durch Arbeit. Dies unterscheidet ihn aber, erfahren wir jetzt, erst dadurch vom Tier, dass er beim Produzieren über sich hinausblickt, um die ganze Natur quasi interesselos durch Arbeit zu verschönen. Er will sich in der Natur und auch im Tier einen Partner erschaffen. Eine dünne Utopie? Keineswegs, vielmehr ein Resümee vergangener, vorkapitalistischer Realgeschichte. Denn mit der Domestizierung einiger Tiere in der von Ökologen so oft gelobten "neolithischen Revolution" geschah genau das, was Marx vorschwebte. Das Rind zum Beispiel wurde nicht zum Haustier gemacht, damit man für Supermärkte einen Rinderüberschuss produzieren und dann vernichten kann. Es galt vielmehr als heilig. Der Mensch legte ihm tatsächlich "das inhärente Maß an" - versetzte sich in es hinein - und suchte es in all seiner Fremdheit in die eigene Welt zu integrieren. Vor dem Hintergrund der kantischen Ästhetik konnte Marx sagen, eine solche Partnergewinnung durch Umwandlung des Fremden sei dessen Verschönung. Die meisten Tiere ließen sich zu Haustieren nicht umwandeln. Sie konnten aber immer noch in "erhabener" Distanz zur Kultur gezählt und so auch geschützt werden. Es gab kein Tier, das nicht wenigstens im Mythos mit dem Menschen zusammenwirkte.

Dieser Vorgang, für den Marx ein Sensorium hat, lässt sich auch in Gerechtigkeitsbe- griffen fassen. Was geschah dem Wolf, der zum Hund gemacht wurde? Man hat ihm das Töten abgewöhnt. In diesem Sinn lassen sich Tiere, obwohl sie keine Rechtssubjekte sind - sie sind aber Rechtsobjekte -, "gerecht machen". Dass Gerechtigkeit schon unter Menschen in erster Linie Gerechtmachen heißt - und nicht nur Lohnen und Strafen -, fällt bei Honneth unter den Tisch. Deshalb kann er auch Tieren nicht gerecht werden. Ich gehe noch weiter: es ist sinnlos, Gerechtigkeitsfragen unter Aussparung der Freiheitsfrage zu erörtern. Unter Menschen liegt das auf der Hand - wollten sie sich nur gerecht machen und nicht auch befreien, sie würden sich wie ewig unmündige Kinder behandeln. Tiere werden freilich nur wenig befreit. Doch hätten sie gar keine Freiheit, wäre auch nicht einzusehen, weshalb sie gerecht behandelt werden sollten. Eins dient dem andern: mindestens die Freiheit, ihre besondere Fähigkeit in die Kooperation mit dem Menschen einzubringen, müssen sie haben. Hühner, die in Legebatterien gehalten werden, haben sie nicht mehr. Sie produzieren deshalb schlechte Eier. Und daran sieht man, dass Bärbel Höhn zwar plakativer gesprochen, aber dennoch weiter gedacht hat als jener Sozialphilosoph.

Axel Honneths Rede auf dem grünen Parteitag ist veröffentlicht in Kommune 4, Frankfurt am Main 2001.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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