Wie russisch war die Kiewer Rus? Geschichte als Waffe – und Entspannungschance im Krieg
Russland Wladimir Putin begründet seine Politik stets auch historisch. Warum diese Diskussion nicht aufnehmen – wenn momentan sonst nichts möglich ist?
In die Geschichte gespiegelte Gegenwart: ukrainischer Checkpoint bei Kiew im März
Foto: Rodrigo abd/ap/dpa
Laut ARD-Deutschlandtrend meinen Anfang November 55 Prozent der Befragten – 14 Prozent mehr als im Juni – , die diplomatischen Bemühungen zur Beendigung des Ukraine-Krieges reichten nicht aus. Das ist eine Aufforderung an die Bundesregierung, doch die Richtlinien der Ukraine-Politik werden von Washington bestimmt. Da sie dort keine Priorität habe, so war kürzlich in der New York Times zu lesen, sei es der Kiewer Führung überlassen worden, über die Ziele und Wege ihres Tuns zu entscheiden. Die EU hat nichts zu melden.
Auf der politischen Ebene kann Berlin daher wenig tun. Aber knapp darunter gäbe es Möglichkeiten: Berlin könnte eine Verhandlung über die Argumente vorschlagen, mit denen Russland und die Ukraine ihre Positionen begr
hre Positionen begründen. Auch die Positionen des Westens kämen da ins Spiel. Wenn diese Verhandlung, wie vorauszusehen ist, von mindestens einer Seite nicht gewollt wird, kann sie in Form einer öffentlichen Debatte trotzdem geführt werden. Ausgangspunkt wäre die Frage, worauf sich Putins Haltung stützt, über die russische Annexion eines großen Teils der Ostukraine nicht verhandeln zu wollen.Aus westlicher Perspektive würde man seinen Darlegungen zwei grundsätzliche Irrtümer vorwerfen. Erstens stellt Putin die Ukraine als Teil der russischen Nation dar. Sie lebe, sagt er, in einem eigenen souveränen Staat, so wie auch in den Staaten Deutschland und Österreich keine zwei verschiedenen Nationen lebten. Aber wie sich Österreich nicht gegen Deutschland wende, so sei es unnatürlich aus Gründen der gemeinsamen Nationalgeschichte, wenn die Ukraine sich gegen Russland positioniere. Putin will historiografisch argumentieren, er berücksichtigt aber nicht, dass gerade das Wichtigste an Geschichte, ihr Wesen sozusagen, in einer Geschichtsschreibung gar nicht vorkommen kann: Das ist nämlich die geschichtliche Gegenwart. In dieser Gegenwart kann es zu einer der großen Wenden kommen, die Geschichte vor allem ausmachen. In der Geschichtsschreibung können sie erst später und im Rückblick verzeichnet sein.So kann es gerade geschehen, dass sich eine Nation in zwei Nationen teilt. Deutschland und Frankreich zum Beispiel berufen sich auf denselben nationalen Gründer, Charlemagne, Karl den Großen – wie sich Russland und die Ukraine beide auf ihre Entstehung in der mittelalterlichen Kiewer Rus berufen –, aber schon sehr bald gingen Deutschland und Frankreich verschiedene Wege. Mit dergleichen auch in einer jahrhundertelang vereinten russischen Nation zu rechnen, liegt schon deshalb nahe, weil es spätestens seit Peter dem Großen (1672 – 1725) ein Hauptthema der russischen Nationalgeschichte war, wie sich Russland zum Westen verhalten und von ihm lernen könne. Im 19. Jahrhundert nahm das Thema die Gestalt eines Gegensatzes von russischen „Westlern“ und „Slawophilen“ an; kein Zufall dürfte es sein, dass gerade in diese Zeit die ersten Ansätze eines ukrainischen Nationalismus fallen. Welche Gestalt(en) die Westneigung in der Ukraine nach 1990 angenommen hat, brauche ich nicht nachzuerzählen.Es ist jedenfalls vom historischen Standpunkt nicht möglich, eine gegenwärtige Westneigung, selbst wenn sie nunmehr bis zur nationalen Abspaltung führt – und unabhängig davon, ob man sie ärgerlich findet oder begrüßt, für ganz autonom oder unter fremdem Einfluss stehend hält –, mit dem Argument für unzulässig zu erklären, sie entferne sich von der Linie der Kiewer Rus. „Ursprungsmythisch“, so nennt man das, darf nicht argumentiert werden.Der zweite grundsätzliche Irrtum tritt in Putins Rede vom 30. September hervor. Mit dem „Satanismus“, den er dem Westen vorwirft, stützt er sich auf eine breitere Strömung russischen Denkens. Er selbst führt nur an, dass im Westen geleugnet werde, dass der Mensch aus zwei und nur zwei Geschlechtern bestehe. In seinem geistigen Umfeld wird diese Kritik mit der Kritik am Transhumanismus verbunden, jener Strömung besonders in den USA, die den menschlichen Körper technisch umbauen oder gar durch Technik – als künstliche Intelligenz – ganz ersetzen will. Die Zusammenfassung von Putins Stichwortgebern lautet, dass der Westen den Menschen angreife, während Russland den Menschen verteidige.Auch hier wird argumentiert, wie es nicht geschehen darf: Es kann keine russische Deutungshoheit über die Frage geben, was der Mensch sei und wie er sich fortentwickeln könne. Die Frage „Was ist der Mensch?“ wurde wohl zuerst von Immanuel Kant als gänzlich offen behandelt, der allerdings noch glaubte, sie klar beantworten zu können. Er berief sich noch auf die Religion, und das darf man natürlich auch heute tun (Gott habe den Menschen „als Mann und Frau geschaffen“, steht in der Bibel), nicht aber in der Form, dass alle dazu verpflichtet wären, die sich die Frage stellen. Gegen den Transhumanismus wendet sich auch der Verfasser dieser Zeilen, er kann es aber nur mit Argumenten tun, das heißt, er muss erst einmal das Recht des transhumanistischen Standpunkts anerkennen, als einer von mehreren möglichen Menschheitswegen zu gelten.Verfeindete UrsprungsmythenSo zeichnet sich der westliche Verhandlungsvorschlag ab: Russland muss anerkennen, dass es kein Recht hat, über die Wege des Menschen zu entscheiden. Es muss anerkennen, dass die ukrainischen Bürger und Bürgerinnen das Recht haben, sich mehrheitlich für eine Abspaltung von der russischen Nation zu entscheiden. (Auch haben die Russen und Russinnen selber das Recht, sich dem Westen zuzuneigen.) Die Ukraine muss anerkennen, dass ein Teil ihrer Bevölkerung das Recht hat, sich weiterhin als zugehörig zur traditionellen russischen Kultur zu begreifen.Das tut die Ukraine derzeit nicht. Sie erlässt Gesetze mit dem Ziel, Äußerungen russischer Kultur zu verhindern. Und nach dem zu urteilen, was die FAZ zu lesen gibt, drängen sich in der ukrainischen Geschichtsschreibung Tendenzen vor, die bestreiten, dass das Gebiet der Kiewer Rus je russisch gewesen ist. Stattdessen, so liest man, war es nie etwas anderes als ein Gebiet, das mal von der einen, mal von der anderen ausländischen Macht besetzt worden sei, zwischenzeitlich von der russischen. Eine Mitgründerin der deutsch-ukrainischen Historiker:innen-Vereinigung schrieb in der FAZ, die Bevölkerung der Kiewer Rus sei weder russisch noch ukrainisch gewesen, sondern habe aus „Ostslawen“ bestanden. Das ist barer Unsinn. Es ist Putins Standpunkt mit umgekehrten Vorzeichen: Als wenn der russische Präsident recht hätte, den Ursprung der einen russischen Nation im Mittelalter zum Maßstab dafür, was in ihr seit dem 19. Jahrhundert, heute und in Zukunft zulässig sei, zu machen, meint man diesen Ursprung bestreiten zu müssen.Was Putins Streit mit dem Westen angeht, finden wir die analoge Figur: Er wirft ihm vor, nicht westliche Kulturen zu unterdrücken, ebenso wie ihm umgekehrt vorzuwerfen ist, er erkenne die nicht russische Kulturentwicklung in der Ukraine nicht an. Kann der Westen den Vorwurf zu hundert Prozent entkräften?Kein Land würde sich mehr als Deutschland eignen, einen Verhandlungsvorschlag wie hier skizziert vorzulegen, der die möglichen politischen Konfliktlösungen erst einmal aussparen würde, sie aber vorbereiten könnte. Denn es gibt keine zwei Nationen, deren Geschichte vergleichbarer wäre als die deutsche und die russische. Wie nämlich Deutschland beanspruchte, das Erbe des antiken Roms anzutreten, und sich daher „römische“ Kaiser gab, so beanspruchte Russland das Erbe Ostroms. Es war gleichsam das „Heilige Oströmische Reich russischer Nation“. Gerade darin bestand ja die Kontinuität russischer Kulturgeschichte, dass Slawen (anfangs geführt von Skandinaviern) sich die byzantinische Religion und Kultur aneigneten, ganz wie in Westeuropa Germanen die römische.Nur, eine solche Kontinuität kann eben ein Ende haben, und sie hatte es in Deutschland schon im 16. Jahrhundert, als sich nämlich vom römischen Katholizismus die Protestanten abspalteten. Mehr als ein Krieg war die Folge, vor allem der schreckliche Dreißigjährige. Aber die Verfeindeten fanden den Westfälischen Frieden – und wie Putin ja selbst feststellt, leben heute Deutschland und Österreich friedlich nebeneinander, ohne dass noch der größere Staat den kleineren zu annektieren begehrt. In der Nationalgeschichte Deutschlands mögen einige Lehren für Putin zu finden sein. Aber auch Deutschland, und der Westen im Ganzen, müssen sich bewegen.
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