Glocken

Musikfest 2014 Immer noch aktuell: Johann Sebastian Bach

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Im zehnten Berliner Musikfest, das gestern begonnen hat und bis zum 22. September dauert, wird „Musik von Brahms und Schumann über Bruckner, Strauss, Mahler bis hin zu Rihm, Widmann, Eötvös und Lachenmann“ aufgeführt, so die Vorankündigung. Ein zusammenhängendes Thema für Blogeinträge kann ich daraus nicht basteln, aber es ist auch nicht nötig, da viele gute Einzelkonzerte zu erwarten sind. Eins zum Beispiel gleich morgen, wenn der große Pianist Pierre-Laurent Aimard den ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach spielen wird. So wenig wie Bach steht Enno Poppe in der obigen viel zu langen Aufzählung - gerade auch auf seinen Abend bin ich gespannt. Am Samstag, den 20.9., wird es zur Gesamtaufführung von Speicher I-VI für großes Ensemble kommen, der zweiten nach der Uraufführung im vorigen Jahr in Donaueschingen. Klar ist, das Festivalprogramm enthält wieder eine gewürzte Mischung aus neuer und älterer Musik.

Was Bach angeht, ist es alles andere als langweilig, ihn noch einmal aufmerksam anzuhören, auch wenn’s das hundertste Mal ist. Alle große Kunst, die wir kennen, ändert sich ja mit unserem Lebensalter. Je älter wir werden, desto mehr schließt sie sich auf und wird immer inhaltsreicher. So auch dieser berühmte Zyklus aus 24 Präludien und Fugen, von dem wir seit unserer Schulzeit wissen, dass er eine Art Veranschaulichung – „Veranhörlichung“ müsste man sagen können – der damals neu eingerichteten Homogenisierung des Tonartenfeldes ist. Morgen oder übermorgen will ich auch darauf noch einmal zu sprechen kommen. Was mich aber inzwischen viel mehr beschäftigt, hätte mich als Schüler noch nicht interessiert: Wenn Aimard nur die Frage aufwirft, was eigentlich geschieht, wenn Musik, die für Cembalo geschrieben ist, auf dem Piano gespielt wird, löst das viel aus. Er tut es im Trailer seiner Einspielung des Wohltemperierten Klaviers Teil I (man kann es sich also jederzeit anhören, auch wenn das morgige Konzert ausverkauft sein dürfte). Er sagt: Man muss solche Musik auch auf dem Klavier so spielen, dass hörbar wird, es ist eigentlich Cembalomusik.

Nun hat man ja gerade für Bach behauptet, seine Partituren seien oft kaum auf bestimmte Instrumente bezogen. Dafür sprechen seine Umarbeitungen mancher Stücke für andere Instrumente, dafür spricht, dass die Partitur der Kunst der Fuge gar keine Instrumentenangabe enthält. Wenn ich mir aber das Wohltemperierte Klavier vom Cembalo vorspielen lasse, wird eins sofort klar: Dieses Instrument erinnert an den Klang von Glocken. Nun braucht man sich nur zu erinnern, wie viele Kompositionen es gibt, in denen Glocken, ihr Klang und ihre Semantik, eine Rolle spielen, um zu begreifen, dass ein „Glocken-Instrument“, wie es sich zu hören gibt und egal was auf ihm gespielt wird, per se inhaltliche Assoziationen auslöst oder für einen entsprechenden unbewussten „Eindruck“ sorgt. Um mir näher darüber klar zu werden, was das für ein Eindruck ist, mache ich die Gegenprobe und lege András Schiff auf, dessen Spiel ich sehr schätze. Ja, ich schätze es, aber er ist ein Beispiel dafür, was verloren gehen kann, wenn Cembalomusik aufs Piano übertragen wird.

Schiff macht sehr deutlich, wie empfindsam, man möchte fast sagen romantisch viele Stücke von Bach schon sind. Man kann diese vertrackten kontrapunktischen Gebilde nicht liedhaft nennen, aber irgendwie haben sie doch etwas davon. (Die Kunst der Fuge ist ganz anders.) Wie Schiff das spielt, klingt es geradezu privat. Da könnte man ja auch sagen, es klingt modern. Aber genau das kann nicht herauskommen, wenn dieselbe Musik vom Cembalo kommt. Privates mit dem Klang von Glocken ist nicht mehr nur privat. Und das ist ja noch besser! Romantik, Empfindsamkeit, Liedhaftigkeit und doch nicht nur im Privaten gefangen, das ist besser. Aber wie kann das auf dem Piano hörbar werden?

Wenn ich so frage, wird mir Glenn Gould von neuem interessant. Ich hatte eigentlich zuletzt eine Art Abneigung gegen sein Bachspiel kultiviert. Er hört aus Bachs Musik eine Zwangsläufigkeit heraus, die ihrer Intention nicht gerecht wird, fand ich. Was das betrifft, gefiel mir Schiff besser. Aber Goulds Spiel kann als eine Art und Weise aufgefasst werden, das große Überprivate dieser Musik zur Geltung zu bringen. Dadurch, dass er Bachs Transzendenz in eine andere, nun wirklich „moderne“ verwandelt. Und wie wird Aimard es anstellen? – Vor dem morgigen Konzert will ich noch etwas zur Bachschen Komposition notieren.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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