Gluckern und Grundton

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Von zwei "Konzerten" will ich noch berichten. Das eine fand am Sonntag um die Mittagszeit im Berliner Botanischen Garten, dort im Kakteenhaus statt. Zu hören waren Branches für verstärkte Pflanzenklänge und 4 Spieler (1976) sowie, im Wechsel damit, Inlets für wassergefüllte Muscheln und 3 Spieler (1977) von John Cage. Diese Kompositionen gehören zu einer "Reihe von Werken seit der Mitte der siebziger Jahre", die laut David Revill, dem Cage-Biographen, "eine stumme Gemeinschaft mit Natur und Ökologie [verrät]" (Tosende Stille, München 1992, S. 339).

Das ist bemerkenswert: In früherer Zeit hatte Cage Verkehrsgeräusche weitergegeben, wie man sie auf unsern Straßen erlebt; jetzt in den 1970er Jahren interessieren ihn "ökologische" Geräusche. Die Grenzen des Wachstums, der Bericht des Club of Rome, war 1972 erschienen. Wahrscheinlich ganz a b s i c h t s l o s ist das neue Interesse über ihn gekommen. Das Interessante des pflanzlichen Klangs drängte sich von selbst auf. Der Bericht des Club of Rome indessen wäre ohne die Mitwirkung von Absichten nicht zustande gekommen. Und wenn es nun neben Cages Musik andere Musik gibt, die nicht die Pflanze reflektiert, wie sie uns zufällig begegnet, sondern die Absichten, die Pläne, die Erwartungen, scheint das doch auch nicht verrückt zu sein und ist für die Pflanze jedenfalls mindestens ebenso nützlich. Hiergegen könnte freilich eingewandt werden, dass wenn überhaupt nie jemand Absichten gehabt hätte, es auch nicht zur Industrialisierung mit ihren ökologischen Folgeproblemen gekommen wäre.

Wir lesen zu Branches im Programmheft: "Die Instrumente [...] sind Pflanzen (vorzugsweise Kakteen), die berührt, gezupft etc. und deren Klänge mittels Kontaktmikrophon verstärkt werden." Es folgt die Erklärung der zufallsgenerierten "Struktur" der Komposition: mehrere je 8 Minuten dauernde Abschnitte, die Pausen dazwischen werden nach dem Zufallsprinzip ermittelt, Unterteilung der 8 Minuten-Abschnitte wiederum nach dem Zufallsprinzip; der Spieler bestimmt 10 Instrumente und ermittelt nach dem Zufallsprinzip, welche und wieviel Instrumente er in welchem Abschnitt spielt; im Übrigen improvisiert er. Tatsächlich sah man dann etwa eine Spielerin, die an Kakteenstacheln "zupfte" oder sie eigentlich nur streichelte, und die elektronische Verstärkung war sehr laut, viel zu laut. Dass Pflanzliches "berührt" wurde statt Metall, war schon noch zu hören, aber es klang doch hauptsächlich nach Radio.

Gemessen an dem, was Revill von der Komposition zu berichten weiß, war das keine optimale Aufführung: Branches gehört in eine Reihe von Werken für Schlagzeugsoli aus den Jahren 1975 bis 81 und ist unter ihnen das einzige, das "auch wahlweise" mit zehn vom Interpreten ausgewählten Instrumenten "ohne bestimmte Tonhöhen" gespielt werden kann; die Instrumente, es können Holztrommeln sein oder getrocknete Blätter, müssen jedenfalls pflanzliches Material sein oder aus ihm hergestellt sein; einige Kakteen sind Vorschrift; "die Klänge ihrer gegeneinandergeschlagenen Stacheln", heißt es schließlich, "werden rudimentär durch einen gebräuchlichen Schallplattentonabnehmer verstärkt" (a.a.O., S. 339 f.). Rudimentär, nicht laut - nicht mit dem Ziel, ein großes Gewächshaus mit Schall zu erfüllen.

Und dass mehr von Gegeneinanderschlagen als von "Zupfen", geschweige denn Streicheln die Rede ist, hat auch seinen Grund. Die Gewächse überstehen nämlich das Spiel nicht unbeschadet. Cage erlaubt in dieser Komposition den Spielern etwas, das er bis dahin immer verweigert hatte: dass sie in Grenzen improvisieren dürfen. Er hatte es deshalb verweigert, weil man improvisierend Absichten realisieren kann, die er ja ausschalten will, damit sich der Zufall in seiner Reinheit zeige. Wenn er es jetzt dennoch erlauben kann, dann deshalb, weil der Improvisateur die improvisierten Geräusche nicht voraussehen kann. Als Interpret kenne man die Pflanzenmaterialien nicht, erklärt Cage: "Man entdeckt sie. [...] Wenn man sehr vertraut wird mit einem Stück Kaktus, löst es sich in sehr kurzer Zeit auf, und man hat es durch ein anderes Stück zu ersetzen, das man nicht kennt. So bleibt die ganze Sache faszinierend und natürlich von der Erinnerung unberührt." (zitiert S. 341)

Klar, der Aufführung ein paar Kakteen zu opfern, kam nicht in Frage.

Inlets wurde auch nur halb verwirklicht, machte aber wenigstens den (Nicht-) Zusammenhang von Improvisation und resultierendem Klang deutlicher. "In Inlets werden mit Wasser gefüllte Muscheln verschiedener Größe von drei Spielern bewegt, um mit ihnen Gluckerklänge zu erzeugen", sagt das Programmheft. Man bildete um zwei muschelschaukelnde Damen, die mich an Priesterinnen denken ließen, einen Halbkreis und hörte immerhin, dass der zeitliche Abstand zwischen den Klängen unberechenbar war, auch wenn die Muscheln ganz gleichmäßig geschaukelt wurden. Auch dieser Klang war viel zu laut, aber man hörte, dass es Wasser war. Cage hatte es sich indessen etwas anders vorgestellt. Inlets war "für einen Tanz von Cunningham mit Bühnenbild von Morris Graves entworfen". Zu den Spielern sollten nicht nur drei Muschelschaukler, sondern auch "ein Muschelbläser [...] mit zirkulärer Atmung und der Klang von Feuer, vorzugsweise von selbst entzündetem", gehören (ebd.).

Aber im Kakteenhaus Feuer zu entfachen, kam natürlich auch nicht in Frage.

La Monte Young

Für das Fluxus-Event von La Monte Young, in der Lichtinstallation von Marian Zazeela - es ist nicht ganz klar, was der Gesamttitel sein soll: The Just Alap Raga Ensemble oder Dream Light oder beides -, sind drei Berliner Aufführungen vorsehen, die dritte findet am kommenden Samstag statt. Ich habe die zweite am letzten Samstag gesehen. Weitere Aufführungen gibt es am 7. April in Karlsruhe und am 14. in Polling. Es wird das letzte Mal sein, dass man L.M.Y. in Europa erleben kann, denn er ist 78 Jahre alt und hatte sein New Yorker Haus zuletzt nur noch selten verlassen. Obwohl er am Stock geht, konnte in seinem Fall aber nicht den Eindruck entstehen, hier sei jemand aus dem Altersheim aufgescheucht worden, den man besser in Ruhe gelassen hätte. Denn L.M.Y. hört auch in New York nicht auf, das zu tun, was er jetzt in Berlin zeigte. Es ist ein Ritual - um einen abscheulichen elektronischen Klang herum.

Mir jedenfalls war er abscheulich. Wenn man die "Villa Elisabeth" an der Invalidenstraße lange vor Aufführungsbeginn betrat, war er schon da, und als das Event zuende war, tönte er weiter. Ich erlebte ihn wie einen Starkstrom-Generator. Doch so ist er nicht gemeint und hört sich wohl auch im New Yorker Dream House ganz anders an. So, wie das Programmheft ihn beschreibt: "Es entstehen verschiedene Intervalle und Akkorde, die sich überlagern, interferieren und neue Schwingungsmuster und Hörbilder ergeben, jenachdem, wo man sich im Raum befindet. Langsam wechselnde Haltetöne, sogenannte Drones, und ein intensives magentafarbenes Licht schaffen eine Atmosphäre, in der die Zeit aufgehoben zu sein scheint." In der Villa Elisabeth haben keine Töne gewechselt, und das Hörbild war überall im Saal dasselbe.

Das "Erleben der Klänge und changierenden Tonfrequenzen über eine lange Periode hinweg" sei "notwendig, um die eigene Wahrnehmung und das Nervensystem darauf einzustimmen und harmonisch mit den Frequenzen des Environments zu schwingen, so die Künstler". In Berlin wurde ich aber erst durch die Zutat des Ensembles "eingestimmt", das nach einiger Zeit die Bühne betrat: L.M.Y. und noch zwei Männer, von denen einer manchmal trommelte, und noch eine Frau. Sie brummten und das Brummen erhob sich zu Klängen, die auf den Fluchtpunkt der leeren Quinte und des Dur-Dreiklangs gerichtet waren. Laut Programmheft "[steht] The Just Alap Raga Ensemble [...] in der Tradition der klassischen Musik Nordindiens". Mich erinnerte es auf unbestimmte Art an manche Freundschaftsabende in der 68er Zeit, da haben wir auch solche Klänge gesungen und Haschisch dazu geraucht. Gerade damals war "Indien" en vogue, man denke nur an den damaligen Hit In A Gadda Da Vida, dieser Titel spielte auf die Bhagavadgita an. Auch der Raum in der Villa Elisabeth war von irgendeinem Duftstoff erfüllt. Es war eine Zeitreise.

Natürlich war es viel mehr. L.M.Y. und seine Mitsänger hatten einen Plan, sangen mal zurückhaltend, mal laut, mal zerfahren, mal kontinuierlich, mal mehr konsonant, mal mehr dissonant, und besonders eindrucksvoll waren die Stellen, wo Dur sich in moll verwandelte. Diese seltsame Litanei konnte einen über das Generator-Geräusch, um das sie kreiste, als um ihren zusammengesetzten G r u n d t o n , schon einigermaßen hinwegtrösten.

Für mich war es ein starkes Sinnbild, obwohl ich glaube, dass ich in dem Ritual nicht dasselbe sah wie Künstler. Ich sah, wie sie sich an einem grauenhaften Ton anpassten, und bewunderte, wie sehr es ihnen gelang. Wenn man "harmonisches Schwingen mit den Frequenzen" dazu sagen will, na gut. Es machte jedenfalls den Grundton erträglicher. Das Klangkleid aus menschlichen Stimmen, das ihn einhüllte, war zwar immer noch zu durchlässig für ihn, aber viel besser als gar nichts. Dass die Künstler fast zwei Stunden durchhielten und es nicht langweilig wurde, war schon erstaunlich. Aber es war auch nützlich, weil man dabei denken konnte. Denken verbraucht ja Zeit. Den Zeitpunkt der Antwort, die einem durch den Kopf schießt, nachdem man sich vorher der Frage bewusst oder halb bewusst geworden ist, hat man so wenig unter Kontrolle, wie jene Öko-Priesterinnen den Zeitpunkt des "Gluckerklangs" in der Muschel unter Kontrolle haben. Hier beim Ritual von L.M.Y. war genug Zeit, um auf den Gedanken zu kommen, dass man die gesamte "tonale" Musik nach seinem Modell begreifen könnte.

"Tonale" Musik war Musik, die einen Grundton hatte und sich nach ihm richtete. Die "atonale" und sogenannte "Zwölfton"musik von Arnold Schönberg und seinen Schülern und Nachfahren ist gerade dazu da, so etwas wie einen Grundton unter keinen Umständen mehr aufkommen zu lassen. Dahinter steht offenbar eine metaphysische beziehungsweise antimetaphysische Problematik: Der Grundton ist der sichere Boden, die Heimat, von der eine "tonale" Komposition sich entfernt, um am Ende zu ihr zurückzukehren. Wenn man der Meinung ist, dass solche Heimat nicht naturgegeben ist, sondern erst erreicht und vielleicht erstritten werden muss, wird man ein Musikstück nicht so anlegen, als sei sie immer schon da.

Aber nun zeigt uns L.M.Y., dass es auch einen ganz anderen Weg gibt, nein sogar zwei Wege, den Grundton zu überwinden. Beide beruhen darauf, dass man d i e E x i s t e n z einer Heimat, die keine ist, die aber doch als vermeintliche Heimat vorhanden ist und sich schädlich auswirkt, nicht bestreitet. Um es platt zu sagen: Das Kapital ist unser Grundton, metaphysisch genug - Karl Marx schrieb ihm "theologische Mucken" zu. So zu tun, als sei es nicht vorhanden (oder könne kompositorisch ungeschehen gemacht werden), führt auch nicht weiter.

Der eine Weg besteht eben darin, sich das gerade auch musikalisch bewusst zu machen: Der Grundton regiert, ist aber hässlich statt schön. Der andere Weg: Man macht sich den hässlichen Grundton erträglich, versöhnt sich dadurch mit ihm und führt nicht etwa sein Ende herbei. Das wäre, was man "Ideologie" nennt. Allerdings lassen sich die Wege nicht so reinlich scheiden. Denn genau durch das, was sich bei L.M.Y. anhören mag, als ginge er den Weg der "Ideologie", lerne ich doch den Grundton allererst problematisieren. Wie auch immer umhüllt, erkenne ich ihn als hässlich zusammengesetzt, als Konfusion.

Man denke dagegen an den lang anhaltenden Grundton, mit dem die Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach beginnt: Der ist alles andere als hässlich. Aber wo wäre eigentlich in der Kreuzigungsgeschichte der schöne Grund, die nicht bloß "heilsgeschichtlich", sondern real vorhandene Heimat?

Ein zweiter Gedanke war wieder die Erinnerung an den Beginn von Richard Wagners Rheingold. Sie war mir schon beim Anhören von Cages 103 für Orchester gekommen. Hier drängte sie sich noch mehr auf, weil eben der Dur-Dreiklang im Zentrum stand und das Rheingold-Vorspiel nur aus einem solchen besteht. Unter diesem Gesichtspunkt bildete sich beim Zuhören die verrückte Hoffnung heraus, es möge dem Brummen von L.M.Y. gelingen, dem furchtbaren Generator-Klang eine Wendung zu geben, eine andere Tonhöhe, so dass sich über dann zwei oder mehr Höhen eine freiere Akkordentwicklung erhoben hätte. Natürlich Fehlanzeige. Aber es war gut so. Während Wagner so tut, als sei eine wunderbare Ordnung von Anfang an da, die nur leider gestört wird, weil plötzlich ein Böser daherkommt, und man noch froh über ihn ist - denn wie langweilig wäre es sonst geworden, immer derselbe Dur-Klang! -, sieht man bei L.M.Y., dass die Ordnung des Anfangs gar nicht gut ist; wer sie endlich einmal unterbräche, würde vielleicht verteufelt werden, aber zu Unrecht.

So viel zur wieder sehr interessanten diesjährigen MaerzMusik. Wenn in meinen Berichten eine gewisse Skepsis gegen die Kunst John Cages und seiner Mitstreiter mitgeschwungen haben sollte, möge man mir das verzeihen. Es kann ja niemand aus seiner Haut. Ich komme dennoch aus der Erfahrung bereichert zurück und habe es deutlich zu machen versucht. Zu Cages Mitstreitern ist auch La Monte Young zu zählen. Das Programmheft vermeldet, er sei zum musikalischen "Minimalismus", als deren Begründer er gelte, auch durch seine Auseinandersetzung mit dem "Diskurs der Avantgarde um John Cage" gelangt.

Inzwischen ist auch das "Inhaltsverzeichnis" mit direkter Verlinkung aller Einzelbeiträge meines Musikblogs fertiggestellt: hier.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden